Wissenschaft | https://what-is-practice.de/tag/wissenschaft/ BLOG Tue, 01 Oct 2024 06:12:03 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.2 https://what-is-practice.de/wp-content/uploads/2020/06/cropped-logo-wip-bunt-32x32.png Wissenschaft | https://what-is-practice.de/tag/wissenschaft/ 32 32 Die Audiation https://what-is-practice.de/audiation/ https://what-is-practice.de/audiation/#respond Sun, 29 Sep 2024 21:04:06 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6636 Hören, Denken & Verstehen in Musik Almuth Süberkrüb ist Professorin für Musikpädagogik und Leiterin des Studiengangs Elementare Musikpädagogik in Hamburg. Dazu ist sie Gründungsmitglied und Vorsitzende der Edwin Gordon Gesellschaft in Deutschland. Edwin Gordon gilt als Begründer der Audiation – ich bin auf seine Music Learning Theory damals im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit gestoßen. Seine Form des… Weiterlesen »Die Audiation

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Hören, Denken & Verstehen in Musik

Almuth Süberkrüb ist Professorin für Musikpädagogik und Leiterin des Studiengangs Elementare Musikpädagogik in Hamburg. Dazu ist sie Gründungsmitglied und Vorsitzende der Edwin Gordon Gesellschaft in Deutschland.

Almuth Süberkrüb vor der HfMT in Hamburg

Edwin Gordon gilt als Begründer der Audiation – ich bin auf seine Music Learning Theory damals im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit gestoßen. Seine Form des Unterrichtens rückt das Hören und Verstehen von Musik stark ins Zentrum und vergleicht das Musiklernen mit dem Erwerb der Muttersprache. Wie und, ob das funktioniert und was auditationsbasierten Unterricht ausmacht, das habe ich mit Almuth Süberkrüb besprochen. 

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Die Folge mit Almuth Süberkrüb lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview mit Almuth Süberkrüb

Inhaltsverzeichnis

Die erste Frage, mit der es immer losgeht, lautet, vervollständigen Sie folgenden Satz. Üben heißt für Sie?

In Musik zu denken und das, auf das Instrument oder die Stimme, zu übertragen.

Welches Album, Musik oder Künstler, läuft bei Ihnen gerade in Dauerschleife?

Beim Hören ist es für mich wichtig, dass es ganz viele unterschiedliche Dinge sind: verschiedene Stile und auch Epochen. Insofern würde ich mich da jetzt gar nicht festlegen, sondern ich finde es wichtig, dass es eine große Vielfalt gibt.

Sie haben selbst Klavier und Gesang studiert. Gibt es denn für Sie jemanden, der auf ihr eigenes Spiel bezogen, ein Vorbild war?

Das ist total interessant. Für mich hat tatsächlich ein Umbruch stattgefunden, als ich Edwin Gordon kennengelernt habe – obwohl der mit meinen beiden Instrumenten gar nichts zu tun hatte.

Das hing auch damit zusammen, dass ich damals Schulmusik studierte und an einem Punkt war, dass ich dachte: Hat das, was in der Schule Musikunterricht heißt, tatsächlich etwas mit aktivem Musizieren zu tun? Es ging sogar so weit, dass ich überlegt hatte, das Studium zu beenden. Ich wollte nicht nur mit Kindern über Musik sprechen, sondern mit ihnen aktiv Musik machen. Dann habe ich Edwin Gordon kennengelernt. Er hat sehr viel in meinem Denken und Handeln, im musikalischen sowie im pädagogischen, verändert. Es ging plötzlich nicht mehr nur um ein Instrument oder die Stimme, sondern um die Musik überhaupt und darum, dass man durch eine Hörvielfalt ein großes Hörrepertoire entwickeln kann. Also wenn zum Beispiel jemand Tuba bei einem Trompetenlehrer lernt, dann entwickelt er ein bestimmtes Hörrepertoire. Das kann total spannend sein, weil natürlich die Tuba einen anderen Klang hat und auch eine andere Flexibilität benötigt. Und wenn man da eine Vielfalt an verschiedenen Instrumenten hörend wahrnimmt und kennenlernt, kann man auch auf seinem eigenen Instrument mehr von dieser Vielfalt umsetzen.

„Es ist spannend, wie sehr sich das in unsere Denkweise gearbeitet hat. Man hat das Gefühl, dass man immer wieder an den Punkt kommt, Noten zu benötigen. Gerade Menschen, die schon Erfahrung mit Noten haben, empfinden dies auch als einen Sicherheitsaspekt.
Das bedeutet aber gleichzeitig oft, dass das Hören nicht mehr so stark im Vordergrund steht, sondern eher das ‚mechanische Handeln‘.“

Almuth Süberkrüb

Entweder-Oder-Fragen

Um Sie als Person ein bisschen besser kennenzulernen, habe ich mir ein paar Entweder-Oder-Fragen überlegt. Sie haben einen Joker. Wenn Sie bei einer Sache sich nicht für eins entscheiden können, dürfen Sie den Joker ziehen. Schülerin oder Lehrerin?

Schülerin.

Lernen mit oder ohne Noten?

Ohne Noten.

Das ist spannend. Bei Edwin Gordon, ich reiße die Theorie nur ganz kurz an, gibt es die These von“ sound before sight“, die sagt, dass man erst den Klang haben muss, bevor man in das Dekodieren von Noten gehen kann. Das kann aber in der Praxis unter Umständen relativ schwierig sein, wenn man Schülerinnen und Schüler hat, bei denen die Eltern das Notenlernen wünschen. All das hat darüber hinaus auch Einfluss darauf, wie ich Unterricht gestalte: Ich kann nicht mehr eine Instrumentalschule nehmen und Seite 1 aufschlagen. Ich muss mein Unterrichtskonzept komplett neu denken, oder?

Ja, und ich muss auch mein eigenes Lernen mit umdenken. Das kommt ebenfalls noch hinzu. Die meisten haben zuerst mit Noten gelernt. Ein Freund hat diese Vorgehensweise vor längerer Zeit mal in der Schule ausprobiert. Wir haben dann immer telefoniert und er berichtete, wie er gerade seinen Unterricht gestaltete. In jedem Telefonat kam am Ende die Frage auf, ob denn in der nächsten Stunde die Noten eingeführt werden würden. Er wusste nicht mehr, was er noch ohne Noten machen konnte. Wir haben dann immer gemeinsam überlegt, was eigentlich gerade Stand ist und wo die Schüler:innen stehen bzw. was sie brauchen. Und am Ende des Telefonats fanden wir dann immer noch weitere Übungen, die keine Noten benötigten. Es ist spannend, wie sehr sich das in unsere Denkweise gearbeitet hat. Man hat das Gefühl, dass man immer wieder an den Punkt kommt, Noten zu benötigen. Gerade Menschen, die schon Erfahrung mit Noten haben, empfinden dies auch als einen Sicherheitsaspekt. Da weiß man, was man hat. Ich weiß, wenn ich den schwarzen Punkt auf der Linie sehe, dann drücke ich die Taste oder dann muss ich die Seite an der und der Stelle drücken oder Ähnliches.

Das bedeutet aber gleichzeitig oft, dass das Hören nicht mehr so stark im Vordergrund steht, sondern eher das „mechanische Handeln“. Zudem stellt sich die Frage, wann was wichtig ist. Wann ist das Hören hilfreich? Wann ist vielleicht das Nachsingen oder das Nachspielen hilfreich? Und wann ist es auch mal hilfreich und notwendig, ganz bestimmte technische Aspekte entweder in Stücken isoliert zu üben?

Wahrscheinlich auch immer abhängig davon, wo die Schülerin bzw. der Schüler gerade steht und, ob das Bedürfnis da ist mit anderen zusammen zu spielen. Dann wäre es Voraussetzung zumindest Noten verstehen zu können, um mit anderen zusammen musizieren zu können.

Ja, richtig. Das ist die Frage nämlich: wann brauchen wir denn überhaupt Noten? Wie lang kann es gehen ohne? Und es gibt ja große Musiker, die gar keine Noten lesen können. Und trotzdem sind es genau solche Punkte natürlich. Wenn ich in einem Ensemble mitspielen möchte und ich kann mit den Noten, die das Ensemble nutzt, nichts anfangen, dann habe ich ein Problem. Dann kann ich nicht mitspielen. Wobei man auch mit Schülern in einer großen Gruppe ohne Noten üben und spielen kann – selbst in Konzerten. Wenn Schüler:innen über den Körper mal den Unterschied zwischen einem Zweier-Metrum und einem Dreier-Metrum erfahren haben, dann können sie es auch spielen.

Da sind wir schon mitten in der Theorie von Gordon: Das Verstehen der Musik wird mit einbezogen und nicht nur das bloße Nachspielen. Aber gleich dazu mehr. Wir sind ja heute in Hamburg, deshalb kam mir ja im Zug die Frage in den Kopf: Nordsee oder Alpen?

Oh, beides. Das ist mein Joker.

Das ist der Joker? Okay, dann bin ich gespannt auf die letzten beiden Fragen, die noch kommen. Wenig und oft oder selten und viel?

Wenig und oft.

Talent oder Fleiß?

Ich bräuchte noch einen Joker.

Aptitude – Das musikalische Potential

Die Frage ist auch ein bisschen gemein. Sie kam mir, als ich den Begriff der Aptitude gelesen habe. Wenn ich es richtig erkläre, dann sagt Gordon, dass im Alter von neun Jahren Kinder ihr musikalisches Potential erschöpft haben – ganz vereinfacht gesagt. Ist das noch Stand der Forschung? Kann man das überhaupt so sagen, oder ist das zu stark vereinfacht?

Das ist so etwas missverständlich. Wenn wir geboren werden, haben wir ein bestimmtes Aptitude – also wir haben eine bestimmte Voraussetzung. Diese entwickelt sich im Laufe der Jahre weiter oder zurück, je nachdem wie wir es nutzen und, wie der Einfluss. Das heißt: Wenn ein Kind in einem Kontext aufwächst, in dem es nie Musik hört, es aber eigentlich alle Voraussetzungen hätte, um ein hohes Potential zu entwickeln, dann ist es wahrscheinlich, wenn es fünf bis neun Jahre ist, dass es kein besonders hohes Aptitude haben wird. Das heißt, in dieser Phase des frühkindlichen Lernens (bis neun Jahre ungefähr) geht es darum, dass man ein möglichst großes Angebot macht, um die Chance zu geben, dass das, was wir als Potenzial haben, musikalisch genutzt oder ausgebaut wird.

Es geht gar nicht darum zu sagen, dass ein Kind mit z.B. sechs Jahren bestimmt ein hohes Aptitude hat, das es nun nutzen sollte. Sondern es geht eher darum zu sagen, dass eine breite Unterstützung und ein breites Angebot wichtig sind, damit das musikalische Begabungspotenzial (was Aptitude ja heißt) sich überhaupt entwickeln und aufrechterhalten werden kann. Und dann kommt tatsächlich irgendwann ein Punkt, an dem es sich verfestigt.

Nehmen wir mal an, dieser Punkt ist erreicht und es gibt eine Person, die ein tonale Aptitude im 90. Perzentil und rhythmisch im 95 Perzentil (fiktive Werte) hat. Und eine andere Person hat tonal eine Aptitude im 50. Perzentil und rhythmisch im 70. Perzentil. Dann heißt es nicht, dass die erstgenannte Person besser Musik lernt. Es heißt nur, dass diese Person ein höheres Potenzial hat, aus dem sie schöpfen kann.

Ich habe das selbst mal in einem Kurs mit einem Blechbläser erlebt. Man würde hier ein hohes Potential vermuten, da sie den Ton vorher selbst hören müssen, wofür ein hohes Potential sehr wichtig ist. Die Tests haben dann allerdings bei dieser Person ein sehr niedriges Potential ergeben. Und das Interessante war, dass es keiner gehört hat. Die Person hat einfach so intensiv geübt und so kontinuierlich seine Möglichkeiten weiterentwickelt, dass es nicht automatisch heißt, dass sie nicht in der Lage sein wird, bestimmte Dinge am Instrument zu tun. Und das ist, finde ich, etwas sehr Wichtiges: Einerseits bereit sein zu sagen, wir geben ganz viel Energie (an pädagogischen Impulsen) in dieses junge Alter. Und gleichzeitig wissen wir aber, dass es in der Realität bei den Kindern doch nicht so ankommt, wie es so schön auf dem Papier steht.

Das heißt, diese Aptitude ist am Ende eigentlich nur ein Hilfswerkzeug für Lehrer:innen, um erstmal Potential festzustellen?

Ja, das sehe ich auch so. Aber es gibt da viele Unterschiede. Ich habe da mal einen Versuch gemacht, das war ganz spannend. Ich sollte in Österreich mal für eine sehr, sehr große Gruppe an Lehrern unterrichten. Ich kannte die Kinder vorher nicht und umgekehrt. Zudem kannten die Kinder die Vorgehensweise nicht. Also es waren schon ziemlich viele Unbekannte. Ich hatte vorher überlegt, wie ich es hinkriege, dass ich trotzdem in dieser dreiviertel Stunde diesen erwartungsvoll dasitzenden Lehrern ein bisschen, von dem was möglich ist, zeigen kann. Und dann habe ich die Lehrer dieser Schüler:innen gebeten, diesen Aptitude-Test für diese Altersgruppe mit ihnen zu machen, mir zu schicken, und ich habe ihn dann ausgewertet. Aus pragmatischen Gründen habe ich die Schüler:innen so gesetzt, dass auf der einen Seite welche saßen, die rhythmisch sehr stark waren, auf der anderen Seite tonal. Ich wusste, ich kann dann gezielt dort entsprechenden Input reingeben und mit ein bisschen Chance kommt auch etwas zurück. Das hat im Prinzip auch gut funktioniert. Im Nachgespräch kam dann auch eine Frage zu Aptitude. Ich sollte sagen, welches der Kinder ein hohes Potential hätte. Ich habe das abgelehnt, aber vorgeschlagen, dass ein Lehrer doch dies beantworten könne. Die Stimme aus dem Publikum war überzeugt, dass man dies auch ohne Test feststellen könne. Also hat dieser Lehrer einen Schülernamen genannt, und ich habe dann nachgeguckt. Das Interessante war: B ei einem dieser Schüler*innen stimmte es, bei zwei stimmte es nicht. Und bei einem, bei dem ich dann gesagt habe, der hat sicher ein sehr hohes Potenzial, da meinte der Lehrer, dass dies nicht sein könne, weil er nur Quatsch macht.

Das heißt: Wenn ich das weiß, kann ich diesen Test wirklich als Werkzeug nutzen. Ich weiß dann, dass der, der Quatsch macht, mehr gefordert werden möchte. Umso größer die Gruppe, umso schwerer fällt es zu unterscheiden, ob jemand Quatsch macht weil er unter- oder überfordert ist.

Und wenn ich weiß, eine Schüler:in hat ein hohes Potenzial im tonalen Bereich, dann weiß ich, wie weit ich diese Schüler:in fordern und fördern kann. Ich kann dann differenziert unterrichten und alle auf ihrem Level fördern. Und dadurch lernen ja nicht nur die, die zum Beispiel dann improvisieren. Sondern diejenigen, die Harmoniegrundtöne singen, lernen durch die Improvisation der Anderen genauso viel. Sie setzen unbewusst das, was die anderen machen, ständig in einen Bezug zu dem, was sie singen.

Jetzt sind wir ja schon mitten in der Methode und eigentlich auch schon an einem sehr tiefen Punkt, nämlich bei ganz konkreten Übungen. Ich würde gerne nochmal einen Schritt zurück gehen und eine allgemeine Definition von Audiation versuchen aufzustellen. Wie würden Sie Audiation in einem oder zwei Sätzen versuchen zusammenzufassen?

„Das heißt, Audiation bedeutet, ich höre es im Kopf vor, ich weiß im Grunde, was da passieren soll oder wird oder passiert ist. […] Wenn wir hier von Verstehen sprechen, meinen wir, wenn ich zum Beispiel ein Musikstück höre, dass ich weiß, in welchem Metrum, Tonalität, oder welche formalen Besonderheiten (Stilrichtung etc.) erklingen. Also all die Dinge, die wichtig sind, um umfassend musizieren zu können.“

Almuth Süberkrüb

Was ist Audiation?

Audiation ist Hören und Verstehen von Musik, die nicht oder nicht mehr erklingen muss, aber kann.

Also die entweder aktuell in unserem Kopf stattfindet oder draußen wirklich hörbar ist?

Ja, oder hörbar war oder hörbar sein wird, wenn ich sie spiele. Also wenn ich zum Beispiel mein Instrument im Kopf habe, dann spielt oder singt es im Grunde das vor, was nachher durch das mein Instrument verklanglicht wird. Wenn ich das im Kopf nicht habe, dann ist es schwer möglich, Musik zu spielen, die über die Ebene des rein technischen (im Sinne von griffbezogen) hinausgeht.

Das heißt, Audiation bedeutet, ich höre es im Kopf vor, ich weiß im Grunde, was da passieren soll oder wird oder passiert ist, kann Entscheidungen treffen und kann dann entsprechend musikalisch agieren. Wenn wir hier von Verstehen sprechen, meinen wir, wenn ich zum Beispiel ein Musikstück höre, dass ich weiß, in welchem Metrum, Tonalität, oder welche formalen Besonderheiten (Stilrichtung etc.) erklingen. Also all die Dinge, die wichtig sind, um umfassend musizieren zu können. Und all das bedeutet bei der Audiation Verstehen. Das heißt, es geht nicht nur um syntaktische oder theoretische Phänomene, sondern es geht um das allgemeine Verstehen.

Vielleicht ist ein ganz guter Vergleich, wenn wir uns jetzt unterhalten, dann sage ich bestimmte Sachen zur Audiation und Sie überlegen weiter und denken: „Hab ich das schon mal gehört? Wo kann ich denn da anknüpfen? Ach ja, der und der hat das auch gesagt, aber es ist ein bisschen anders.“ Sie wägen ab und schauen, wie es sich von anderen Dingen unterscheidet. Dann werden sie wahrscheinlich ihre Netzwerke nach Sachen durchforsten, wo sie sagen, „Da reibt sich etwas, das sehe ich aber jetzt anders – da muss ich doch nochmal nachfragen.“ Und wahrscheinlich werden Sie auch weiterdenken und überlegen, worauf läuft das denn jetzt alles hinaus? Was ist denn das Ziel des Ganzen? Und wenn Sie all das jetzt tun, dann sprechen wir davon, dass sie denken. Und wenn Sie all diese Komponenten im musikalischen Mitdenken, dann spricht man von Audiation. Also es ist im Grunde ein Denken in Musik.

Da gibt es doch auch von Edwin Gordon den schönen Satz, „Audiation is to music what thought is to speech.“

Genau, der würde da gut passen.

Das ist eigentlich ganz schön, dass Sie gerade versucht haben, mir Audiation mit dieser Konversationsebene zu erklären. Ich bin in der Vorbereitung oft auf diesen Vergleich gestoßen, dass Musiklernen (im Sinne der Audiation) vergleichbar wäre mit dem Erwerb der Muttersprache. Beides ist am Anfang sehr informell und unstrukturiert. Man bekommt das einfach im Umfeld mit. Die Frage, die ich mir dann gestellt habe: Ist überhaupt das so möglich? Am Ende ist das fast schon eine strukturelle Frage. Weil, wenn man es nur in einer Blase machen würde, dann käme diese ja immer dann wieder an Grenzen, wenn ihr Umfeld nicht auf diese Art und Weise lernt. Wir hatten vorhin bereits das Beispiel mit dem Ensemblespiel. Also die erste Frage wäre: Kann man Musik wie eine Sprache erlernen? Und die zweite Frage: Das ist ja alles noch informell. Wie bekommt man dann Struktur in so etwas rein?

Ich fange mal an bei der Frage, ob das möglich ist? Ich würde sagen: Ja, auf jeden Fall. mit Im Prinzip geht es bei dem Gedanken darum, dass zunächst ein Kontext geschaffen wird. Dass in diesen Kontext Details eingebettet werden und, dass über diese Schritte zum nächsten Schritt gegangen wird, den Kontext neu zu lernen.

Um es konkret zu machen: Wenn ein Kind geboren wird, dann befindet es sich immer in einem Raum mit Menschen. Diese Menschen sprechen, streiten, freuen, lachen, diskutieren. Sie sprechen über hochkomplexe Dinge. Eltern fangen nicht an, in dem Moment, wo ein Baby geboren wird, nur noch in Drei-Wortsätzen zu sprechen. Niemand erwartet, dass dieses daliegende Baby alles hört und versteht, sondern es wird eigentlich nur gebadet in diesen verschiedenen Sprachlichkeiten. Und dadurch können Kinder ein großes Hörrepertoire anlegen, ohne dass irgendwas erwartet wird. Kein Vater, keine Mutter würde bei einem zwei Monate alten Kind hingehen und sagen, wir müssen jetzt wirklich mal üben, dass du Kindergarten sagen kannst. Das fänden alle absurd. Aber in der Musik, da ist es nicht so absurd. Wenn man diese Haltung auf das Musiklernen übertragen kann und den Kindern die Chance gibt, dass sie hören dürfen und den Eltern die Chance gibt, zu lernen, wie sie auf ihre Kinder eingehen können und das weiter unterstützen, dann ist das ein riesengroßer Schritt für alle.

Im sprachlichen Bereich wissen wir, wie wir darauf eingehen. Das Kind sagt vielleicht „Au. Ein Auto fährt vorbei und wir sagen einfach mal Auto. Entweder es stimmt oder es stimmt nicht. Das Kind reagiert vielleicht, indem es sich abwendet. Dann hat es doch etwas anderes gemeint. Oder das Kind schaut mich nochmal an und möchte mehr haben. Auf diese spielerische Weise lernen Kinder ihre Sprache. Und das geht in der Musik auch.

„Eltern fangen nicht an, in dem Moment, wo ein Baby geboren wird, nur noch in Drei-Wortsätzen zu sprechen. Niemand erwartet, dass dieses daliegende Baby alles hört und versteht, sondern es wird eigentlich nur gebadet in diesen verschiedenen Sprachlichkeiten. Kein Vater, keine Mutter würde bei einem zwei Monate alten Kind hingehen und sagen, wir müssen jetzt wirklich mal üben, dass du Kindergarten sagen kannst. Das fänden alle absurd. Aber in der Musik, da ist es nicht so absurd.“

Almuth Süberkrüb

Das ist auch eine Frage, die ich mir in der Vorbereitung überlegt habe. Ist die Audiation hauptsächlich eine Herangehensweise für Kinder? Weil dieses Baden in Musik, wie Sie es gerade so schön beschrieben haben, das stelle ich mir bei einem Erwachsenen Schüler relativ schwierig vor. Der hat im Zweifel schon 40 Jahre an Hörgewohnheiten hinter sich, ohne die eingestuft bekommen zu haben. Beziehungsweise erwartet man von ihm auch etwas anderes.

Ich bleibe mal in dem Bild: Erwachsene haben sich schon an ihren eigenen Badeduft und ihre eigene Badetemperatur gewöhnt. Und wir Menschen sind ja Gewohnheitstiere. Das ist übrigens interessant, auch Musiklehrer haben ja so ihre eigene Badetemperatur und ihren eigenen Badeduft. Das heißt aber nicht, dass wir dabei bleiben müssen. Und musikalisch, ich finde das ganz wichtig, dass Sie das ansprechen, sollten wir nicht vom biologischen Alter sprechen, sondern vom musikalischen Alter und das unterscheidet sich.

Es gibt Erwachsene, die kommen mit ihren Kindern in eine Eltern-Kind-Gruppe und sind musikalisch ähnlich wie ihr Kind im Brabbelalter. Und es gibt andere, bei denen ist das anders. Das heißt, je nachdem, wie viel wir im Leben an Musik gemacht haben, wie viel wir erleben durften, gelernt haben, befinden wir uns in einem unterschiedlichen Grad an musikalischem Alter. Und das ist unabhängig von meinem biologischen Alter.

Ich habe dazu auch ein Beispiel: Ich hatte mal eine Improvisationsgruppe, in der es eine Klarinettistin gab. Alle Personen in der Gruppe waren auf sehr unterschiedlichem Niveau. Es gab welche, die sich bereits mit Jazz-Improvisationen beschäftigt haben und es gab andere, die eher aus der Klassik kamen. Also es war eine sehr bunte Gruppe mit sechs Schüler:innen. Und da gab es eine Klarinettistin, die sehr wenig Erfahrung hatte. Ich war am Anfang skeptisch, wie wir die Gruppe zusammen bekommen sollten. Ich fing mit einer einfachen Übung an: Jeder sollte einen Ton spielen und ihn anschließend nachsingen. Die Klarinettistin meinte daraufhin, dass sie das nicht könne. Das sind natürlich wenig Voraussetzungen, um zu improvisieren. Gleichzeitig dachte ich, dass sie ja aus irgendeinem Grund hier ist. Ich habe dann mit ihr gesprochen und ihr vorgeschlagen, dass wir uns einfach mal alleine treffen könnten. Sie stimmte zu.

Als wir uns dann getroffen haben, habe ich gesagt: „Ich weiß, was ich mit dir machen kann. Das fühlt sich aber für dich vielleicht ein bisschen komisch an. Ich würde dir einfach erstmal was vorsingen und du hörst einfach mal zu.“ Und dann haben wir uns jede Woche getroffen und ich habe eine halbe Stunde Lieder in allen Tonalitäten und Metren für sie gesungen. Und dann habe ich irgendwann das Ende herausgezögert und habe den Tonalitätsgrundton erstmal weggelassen und dann gesungen. Und irgendwann hat sie gesagt, dass sie ihn gern singen möchte. In dem Moment wusste ich, dass sie unbewusst alles, was sie vorher gehört hat, auf diesen Ton beziehen kann, denn sonst könnte sie ihn nicht singen. Dieser Ton ist das Fundament dieser Tonalität. Und das ist ein ganz wichtiger Schritt. Von da ausgehend sind wir schrittweise weitergegangen. Und das ging sehr gut, weil sie sich darauf eingelassen hat. Und weil sie über ihren Schatten gesprungen ist und etwas erreichen wollte.

Nach einem Jahr gab es dann ein Schülerkonzert, bei dem wir zwei Impro-Stücke spielten. Beim zweiten Stück fing der Gitarrist an zu spielen und merkte, dass er den Capo vergessen hatte abzumachen. Die Klarinettistin spielte ihren ersten Ton und ich erschrak. Das Interessante war allerdings, dass sich beide angeschaut haben und die Klarinettistin ihre Grundidee weiterspielte, während der Gitarrist den Capo abmachte. Und ich dachte so, wow. Nach dem Konzert sagte sie mir, dass sie von der Situation gar nicht so geschockt war. Sie wusste, dass ihr etwas einfallen würde, was sie spielen kann. Und das fand ich total toll.

„Und musikalisch, ich finde das ganz wichtig, dass Sie das ansprechen, sollten wir nicht vom biologischen Alter sprechen, sondern vom musikalischen Alter und das unterscheidet sich.“

Almuth Süberkrüb

Das knüpft eigentlich ganz schön an meine nächste Frage an. Denn was ich so gut bzw. so logisch an der Gordon-Methode finde, ist dieser stufenweise Aufbau. Man springt, wenn man das Wort benutzen möchte, von Level zu Level, von Stufe zu Stufe. Und ich habe mich gerade auch in der Vorbereitung gefragt, was mache ich, wenn jemand, zum Beispiel etwas nicht nachsingen kann. Das heißt, die Konsequenz ist dann immer eine Stufe zurückzuspringen und zu schauen, ob die Person bspw. den Grundton hören kann. Und erst dann gehen wir wieder zur Nachsingen-Stufe.

Wenn man es ganz allgemein fassen würde: Überlegen Sie sich, welche Voraussetzungen die Schüler:innen brauchen, um das lernen zu können, was sie vermitteln wollen. Das klingt einfach, ist es aber nicht immer.

Ja, das kennt jede*r Musiklehrer*innen aus dem eigenen Unterricht. Man verzweifelt manchmal fast schon, wenn man etwas vorsingt, und die Schüler*in kann es nicht nachsingen. Wenn dann das Wissen fehlt, dass der Schülerin oder dem Schüler gerade die Voraussetzungen dafür fehlen, das überhaupt nachzumachen, sucht man den Fehler ja vergeblich an Stellen, wo er gar nicht sein kann.

Ja, genau. Und es gibt ja genug Möglichkeiten, woran es liegen kann.

Und das ist auch nochmal wichtig zu sagen: Natürlich sind alle Aspekte wichtig, auch die Stilrichtungen. Aber der systematische Aufbau bezieht sich nur auf tonale und metrisch-rhythmische Aspekte. Gordon ging davon aus, dass man in dem Moment, wo man bestimmte tonale und rhythmische Patterns kann, diese auch in verschiedenen Stilrichtungen anwenden kann. Schließlich gibt es auf der Welt nicht unendlich viele Patterns, die genutzt werden. Und gerade im Schülerbereich gibt es ja nochmal weniger als im Profibereich. Und wenn man diese Patterns gut verinnerlicht hat, dann ist der Schritt, sie in unterschiedlichen Stilrichtungen zu verwenden, relativ klein. Wenn man sie aber gar nicht kann, fehlt einem etwas.

Lernmuster und -Systeme haben auch immer etwas Vereinfachendes, was sie problematisch macht. Das heißt, es geht bei dieser Stufung im Grunde darum, dass man Schritt für Schritt geht, aber dass man auch mal Sprünge wagt. So wie im echten Leben. Und wenn man dann auf die Nase fällt beim Sprung, wenn man vielleicht doch einen zu großen Sprung gewagt hat, dann weiß man, es liegt nicht daran, weil ich gar nichts kann. Sondern ich weiß, dass ich doch noch mal auf die Stufe zurück gehen sollte, von der ich abgesprungen bin. Dann ist die Chance durchaus größer, den großen Sprung danach auch zu schaffen. Und diese Sprünge, die sind total wichtig. Und ich finde, dieses System gibt die Chance, Schritt für Schritt zu gehen und damit eine Sicherheit zu haben und gleichzeitig auch mal risikobereit zu sein. Also zu sagen: „Okay, meine Schüler:innen können jetzt zwei Patterns und ich improvisiere mit denen jetzt mal.“

Unterscheidungs- vs. Inferenzlernen

Bei den Sprüngen ist noch eine Sache sehr wichtig. Es gibt beim auditionsbasierten Musiklernen überbrückende Lernbewegungen. Das heißt, wir haben diese Systematik und es ist eingeplant, dass es Sprünge vom Unterscheidungslernen zum Inferenzlernen gibt.

Ganz kurz zur Erklärung: Beim Unterscheidungslernen wird den Kindern immer die Antwort mitgegeben. Das heißt, ich singe als Lehrer ein Pattern vor und wenn das Kind oder der erwachsene Schüler das nachsingt, singe ich mit. Das heißt, ich stelle nicht irgendwelche Fragen und erwarte irgendwelche Antworten, sondern ich frage, um zu vermitteln. Und wenn ich dann spüre, dass es gut klappt, dann fordere ich das nächste Mal zum solistischen Singen auf. Und dann ist das Pattern für diese Person ein vertrautes Pattern. Das ist ganz grob und sehr vereinfacht gesagt, das Unterscheidungslernen.

Inferenzlernen ist ein anderer Block, bei dem es darum geht, aus den Inhalten, die ich im Unterscheidungslernen gelernt habe, schrittweise auch selbstständig neue Inhalte abzuleiten. Es ist das, was man in der Schule früher als den Transfer bezeichnet hat. Dieses Transferdenken kommt oft viel zu spät. Denn wenn ich das übe, dann fange ich an, ganz anders zu denken. Und dann ist auch das Risiko des woanders Hinspringens, nicht mehr so groß. Das Springen ins Transferdenken/Inferenzlernen kann bereits ganz früh anfangen. Leider findet es im Lernen oft viel zu spät statt, was sehr schade ist.

Das klingt auf jeden Fall auch sehr spielerisch (à la exploratives Lernen). In der letzten Podcast-Folge war Wolfgang Schöllhorn zu Gast, Trainingswissenschaftler aus Mainz. Er hat über das Differenzielle Lernen gesprochen. Und das Unterscheidungslernen hat mich sehr daran erinnert, als ich es in der Vorbereitung gelesen habe. Wir hatten das Beispiel mit dem Zweier- und Dreierpuls bereits. Zu wissen, wie sich eins der beiden anfühlt, hilft mir zu differenzieren was, was ist. Von daher finde ich es ganz schön, dass sich hier nochmal ein kleiner Kreis schließt. Das Unterscheidungslernen ist sozusagen das Fundament. Und darüber gibt es mit dem Inferenzlernen nochmal eine nächste Stufe.

Ich überlege gerade. Das ist ganz spannend. Die Frage war aber etwas lang.

Die Frage ist auch eigentlich keine richtige Frage, wenn man so möchte. Ich muss vielleicht ein bisschen ausholen: Ich habe über die Audiation meine Bachelorarbeit damals geschrieben. Ich mir Jazz-Improvisationen in der Audiation und im Flow angeguckt und war sehr begeistert. Ich habe zuerst in Saarbrücken studiert und kam dann ins zweite Jahr an die Hochschule in Bern. Dort war es im ersten Jahr Aufgabe, Kinderlieder in anderen Modi zu singen. Meine ersten vier Wochen im Unterricht bestanden also darin, mir zwölf Kinderlieder zu notieren und diese in allen Modi zu üben. Das hat damals mein Leben ein bisschen verändert, wenn man so das so hoch sprechen möchte. Was ich dann während der Bachelorarbeit so spannend fand, ist, dass ohne, dass wir es im Unterricht Audiation genannt haben, die Prinzipien ganz ähnlich waren.

Das gleiche Erlebnis hatte ich nun mit dem Unterscheidungslernen und dem Differenziellen Lernen von Wolfgang Schöllhorn. Da verband sich für mich schon wieder ein Punkt. Am Ende sind es von der gleichen Sache lediglich verschiedene Betrachtungsweisen, die auf verschiedenen Wegen zum gleichen Ziel zu führen. Ich finde es immer spannend, das im Podcast herauszuarbeiten.

Das sind ja so grundsätzliche Lernprinzipien, die ganz viel verwendet werden. Also was ich so hilfreich finde an dieser Stufung, die Gordon entwickelt hat, ist, dass er Wissen aus verschiedenen Bereichen so gebündelt und strukturiert hat, dass ein musikalischer Lernprozess entstehen darf, der so stattfindet, wie es dem menschlichen Lernen entspricht. Das heißt, da wurde nicht alles neu erfunden. Also zum Beispiel die Verwendung von Solmisationssilben. Oder was Sie gerade erzählt haben, finde ich ganz spannend. Gordon kam ja auch aus dem Jazz und das merkt man auch an bestimmten Sachen immer wieder. Und es gibt ja auch von den Dozent:innen, die zum Beispiel in den USA unterrichten, einige, die im Jazz beheimatet sin. Aber im Grunde kommt diese Herangehensweise eher aus dem Jazz als aus der Klassik. Obwohl sie überall anwendbar ist.

Was sicher auch an unserer Tradition des Musikvermittelns liegt. Wenn man zurückguckt zu Beethoven, war es nicht üblich, dass Kadenzen aufgeschrieben wurden. Sie wurden damals improvisiert. Oder auch im Barock. Das heißt, dieses fixiert sein auf die Noten und davon ausgehen müssen im Lernprozess, das ist etwas, was sich später entwickelt hat. Wenn man keine Noten verwendet ist man mehr ins Hören gezwungen. Weil das Medium, was uns sehr vertraut ist (weil wir es ständig inn unserem Alltag benutzen) uns weggenommen wird: nämlich das Lesen.

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Anwendung der Audiation im Musikunterricht

Vielleicht können wir, um das Ganze ein bisschen abzurunden und den Leuten auch etwas Konkretes mitzugeben, mal gucken, was denn typische Anwendungsbeispiele im Unterricht wären? Wir hatten ja vorhin schon dieses Baden im Hören als erste Stufe. Was, wenn man jetzt nicht Audiationslehrer/ -lehrerin ist, erstmal auch ein Schritt ist, das wirklich organisch in den Unterricht einzubinden. Was wären typische Übungen oder wie sähe eine idealtypische Audiation (Music Learning Theory) Unterrichtsstunde aus?

Ich möchte ganz kurz noch etwas zu den Liedern sagen: Wenn möglich sollten die Lieder und Sprechgesänge ohne Text gesungen werden. Das ist noch etwas, was für viele sehr ungewohnt ist. Natürlich variiert es ein bisschen abhängig von der Altersstufe. Also bei ganz kleinen Kindern ist es völlig problemlos. Wenn die dann ein bisschen älter werden fordern sie auch ein bisschen mehr Text. Das macht es ein bisschen leichter. Das Prinzip ist zu gucken, wie kann ich mit möglichst wenig Text und viel Musik arbeiten.

Tonalitätsgrundton finden und singen

Jetzt aber noch mal zur anderen Frage. Nehmen wir mal an, das hat stattgefunden: Man hat die Möglichkeit ganz viel in verschiedene Metren und Tonalitäten zu hören und möchte jetzt mit Patterns arbeiten. Dann ist eine wichtige Voraussetzung erstmal, dass ich in der Lage bin den Tonalitätsgrundton zu finden. Wenn ich ihn finde, dann habe ich im Prinzip den tonalen Rahmen des Liedes unbewusst verstanden. Das ist ein ganz wichtiges Fundament, um weiterzukommen.

Raumfüllende Bewegungen

Eine zweite Sache ist, wenn ich im rhythmischen Bereich arbeite, dass ich in der Lage bin, fließende, raumfüllende Bewegungen auszuführen. Das heißt, dass ich den Raum, den ich habe, überhaupt erstmal wahrnehme und erfahre. Das unterstützt mich dabei, auch in der Musik diese Räume zuzulassen und wahrzunehmen.

Koordinationsfähigkeit Arme – Beine

Dann ist es sehr wichtig, dass eine Koordinationsfähigkeit von Beinen und Armen vorhanden. Das heißt, dass ich Hauptpuls mit den Beinen empfinden kann und gleichzeitig mit den Armen Unterteilungen ausführen kann. Wenn ich diese Koordination habe, dann habe ich auch ein Fundament für bestimmtes rhythmisches Lernen. Diese Hauptpulse (Makrobeats) bilden das rhythmische Fundament unserer Musik. Und die Mikropulse oder Unterpulse, die geben die zwischenstrukturelle Ebene.

Hinweis: Auch im Anfängerunterricht, gibt es diesen Stufenweisen Aufbau. Offbeatts, so wie sie im Podcast als Beispiel gezeigt sind, folgen erst später.

Also ich lerne Schritt für Schritt und erst lerne ich übers Hören und Wiedergeben. Also ich höre etwas und singe das Gleiche nach, dann verbinde ich das mit Solmisations- oder Rhythmussilben, um dem, was ich vorher allein hörend verstanden habe, eine zweite strukturelle Ebene zu geben. Dann bette ich es in einen größeren Kontext ein, das ist die dritte Stufe. Dann beginne ich, das, was ich vorher gehört habe, was ich mit Rhythmus oder tonalen Silben verbunden habe, in Noten zu lesen. Das heißt, die Patterns werden nicht beliebig aneinandergereiht, sondern es gibt eine bestimmte Abstufung. Ich fange nicht mit Offbeats an, sondern mit Makros und Makro-Mikro-Verbindungen. Diese baue ich dann immer weiter aus. Sobald man sich die Frage stellt, warum man diese strenge Stufung so benötigt, ist das oft ein Punkt, an dem man sie wahrscheinlich bald weglassen kann.

Inwiefern fügen sich hier instrumental spezifische Techniken in die Methode von Gordon ein? Also als Blechbläser zum Beispiel Stoßübungen oder am Klavier Handhaltungssachen?

Ja, ganz kurz dazu vorher noch: Gordon hat immer gesagt, seine Vorgehensweise ist keine Methode. Das wollte ich nur nochmal kurz sagen. Allerdings sagen das ganz viele, deshalb war es mir nochmal wichtig es zu betonen.

In den Stufen, die Gordon entwickelt hat, geht es um tonale, rhythmische und harmonische Entwicklungen. Das heißt rein technische Fragen sind hier nicht ausgearbeitet. Es gibt Hefte für die verschiedenen Instrumente, die aber eher darauf angelegt sind, Audiation in der Gruppe zu üben. Das heißt aber nicht, dass das nicht möglich ist, sondern es geht einfach darum, wenn ich ein Instrument habe und ich spiele und die Schüler lernen über das Hören so zu arbeiten, dann hören sie bestimmte Dinge auch anders und dann kann ich über das Hören die Technik verändern. Zum Beispiel über Anweisungen: „Das klang jetzt weichfließend. Ich hätte es jetzt aber gerne mal in Portato-Noten. Lass uns das doch jetzt gerade mal probieren, wie das da funktioniert.“

Was ich da total hilfreich finde, das ist aber nochmal ein ganz anderes Fass, was aufgeht, ist von Laban (Anm. d. Red: Rudolf von Laban – Bewegungslehre) verschiedene Bewegungsmöglichkeiten. Da öffnen sich, finde ich, wenn man aus der ganzkörperlichen Bewegung bestimmte Sachen aufs Instrument überträgt, nochmal ganz neue Türen. Also das kann ich nur wärmstens empfehlen.

Das ist jetzt nicht die Antwort auf die Detailtechnik, aber es gibt da verschiedene kleine Türen, die man aber als Lehrer auch selbst durchschreiten muss. Der Ansatz von Gordon ist nicht darauf angelegt ist alles zu erfüllen. Das hat er auch immer ganz klar gesagt.

Outro

Also ich glaube, wir könnten wahrscheinlich noch mal zwei Stunden hier so reden. Und wir haben ja gerade eine neue Tür aufgestoßen. Ich habe auch hier noch ein paar Fragen, zu denen wir gar nicht kamen, aber mit Blick auf die Uhr, würde ich das Schiff – wir sind ja heute hier in Hamburg – in den Hafen fahren lassen. Und ich habe immer, ähnlich wie am Anfang, zwei Fragen, die ich all meinen Gästen zum Abschluss gerne stelle. Was lernen oder üben Sie gerade, was Sie noch nicht so gut können?

Verschiedenes. (lacht)

Geduld. Manchmal denke ich auch, ich kann noch besser und offener und freier in die Zukunft schauen und die Dinge auf mich zukommen lassen kann. Es ist eigentlich alles, was wir tun, jeder Tag, den wir leben, jeder Schritt, den wir gehen, ist ein Neuer. Deshalb war es für mich vorhin auch klar, als Sie nach Lehrer oder Schüler gefragt haben, das mit Schüler zu beantworten.

Und es passieren immer neue Dinge. Und klar, manches hat sich etabliert und ist auch ganz gut so, dass wir nicht auf allen Ebenen alles immer neu erfinden müssen. Aber so dieses Offenbleiben und gucken, was es noch gibt, finde ich super wichtig. Dafür ist es, glaube ich, total wichtig, auf verschiedenen Ebenen bereit zu sein, weiter zu lernen.

Und wenn Sie an Ihre eigene Studienzeit zurückdenken und Ihrem jüngeren Erstsemester Musikstudierenden-Ich, einen Tipp aus heutiger Sicht mitgeben würden, was wäre das für ein Tipp?

Glaube daran, dass das, was du als wichtig empfindest, es auch wirklich ist, auch wenn die anderen das vielleicht anders sehen.

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Der MiShu Stuhl – Optimales Lernen im Sitzen https://what-is-practice.de/der-mishu-stuhl-optimales-lernen-im-sitzen/ https://what-is-practice.de/der-mishu-stuhl-optimales-lernen-im-sitzen/#respond Sun, 25 Aug 2024 15:35:15 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6599 Die meisten Musikerinnen und Musiker verbringen den Großteil ihrer Übezeit wahrscheinlich im Sitzen. Dabei ist dies nicht nur aus gesundheitlichen Aspekten schwierig (mehr zum Thema Musiker:innen-Gesundheit gibt es hier), sondern es ist zudem ist es auch ausgesprochen monoton und dementsprechend wenig lernfördernd. Besserung ist allerdings möglich. Im Sommer war ich zu Gast bei Prof. Dr.… Weiterlesen »Der MiShu Stuhl – Optimales Lernen im Sitzen

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Die meisten Musikerinnen und Musiker verbringen den Großteil ihrer Übezeit wahrscheinlich im Sitzen. Dabei ist dies nicht nur aus gesundheitlichen Aspekten schwierig (mehr zum Thema Musiker:innen-Gesundheit gibt es hier), sondern es ist zudem ist es auch ausgesprochen monoton und dementsprechend wenig lernfördernd. Besserung ist allerdings möglich.

Im Sommer war ich zu Gast bei Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Bei unserer Interview-Verabredung wollte ich mehr über seine Theorie des Differenziellen Lernens erfahren. Das Wort „Lehrstuhlinhaber“ schien mein Gast dabei ausgesprochen wörtlich aufgefasst zu haben. Als wir gemeinsam sein Büro betraten, begrüßte mich eine ausgefallene Auswahl an unterschiedlichsten Stühlen: Stühle mit Lehne, Stühle ohne Lehne, einen Bürostuhl, der sich so umfunktionieren lässt, dass man darauf problemlos im Schneidersitz arbeiten kann. Stühle aus Holz, Stühle aus Plastik, mit rundem Füßen usw.

Als Bewegungs- und Trainingswissenschaftler forscht Wolfgang Schöllhorn auch darüber, wie Sitzgelegenheiten unseren Lernerfolg unterstützen können. Am Ende streben wir für das optimale Lernen einen wachen und entspannten Zustand – den sogenannten Alpha-Theta-Zustand an, erklärt mir der Professor. Ohne es zu diesem Zeitpunkt zu wissen, saß ich plötzlich auf einem Stuhl, der genau diesen Zustand herstellen kann. Ein edler und gleichzeitig schlicht wirkender Holzstuhl, ohne Lehne, der sich aus verschieden aufeinander gestapelten, halbrunden Holzstücken zusammensetzt. Der Professor warnt: Dieser Stuhl sei ungewöhnlich. Ich sitze auf dem MiShu-Bewegungsstuhl.

MiShu Classic Bewegungsstuhl aus Buche
Der MiShu Classic – Bewegungsstuhl aus Buchenholz

Mehr über MiShu: https://www.mishu.de/

Interview mit Gründerin Gabriele Wander

Gabriele Wander mit dem MiShu Stuhl
Gabriele Wander mit dem MiShu Stuhl

Wie ist es dazu gekommen, dass Sie den MiShu-Stuhl entwickelt haben? 

Ich habe mich tatsächlich niemals hingesetzt und gesagt, jetzt erfinde ich einen Stuhl, sondern ich kam zum MiShu so ein bisschen wie die Jungfrau zum Kind. Ich hatte Rückenschmerzen und der Stuhl ist auf der Suche nach einer Lösung für mich selbst eigentlich zufällig entstanden.  

Klassische Krankengymnastik und Massagen halfen immer nur kurzzeitig. Es war ein ständiges Auf und Ab. Dazu kam eine Erfahrung in meiner Jugend: Als ich ungefähr zwölf Jahre alt gewesen bin, erlebte ich, dass meine Mutter einen Bandscheibenvorfall hatte. Und daher wusste ich, wie schmerzvoll das sein kann. Das war für mich ein ziemlich einschneidendes Erlebnis. Das wollte ich unbedingt bei mir selbst vermeiden. 

Das fehlende Puzzleteil  

Zwischen Fitnessstudio, Yoga und S-Bahn 

Meine Schmerzen begannen mit circa 17 Jahren. Als ich ungefähr 25 war, hatte ich immer noch Schmerzen – und zwar ständig. Beim Sitzen, beim Stehen und beim Gehen. Und dann bin ich wirklich eines Tages mit dem glasklaren Gedanken in meinem Kopf aufgewacht, jetzt muss ich was tun. Ich stellte mir vor, wie es erst sein würde, wenn ich mal 60 bin. Noch am gleichen Tag habe ich mich zum Yogakurs bei der Volkshochschule und im Fitnessstudio angemeldet. Das war eine interessante Mischung.  

Bei Yoga trainiert man das Gleichgewicht, die Koordination und die Innenwahrnehmung. Und im Krafttraining habe ich erstmals die Muskeln, die Kondition und die Ausdauer trainiert. Mit diesen zwei Elementen zusammen, habe ich gemerkt, dass es besser wird. Ich habe täglich Yoga geübt und ich habe zwei bis dreimal in der Woche Gewichte gestemmt. Mit dieser Mischung hat sich etwas positiv verändert. Die Schmerzen waren zwar nicht weg, aber sie waren deutlich besser. Ich hatte mich schon gefreut und gedacht, das ist ja toll. Jetzt mache ich einfach nochmal drei Wochen weiter und dann bin ich meine Beschwerden ganz los. Allerdings war dem nicht so.  

Meine Schmerzen wurden zwar besser, aber sie gingen nicht ganz weg. Ich dachte mir jedoch, wenn ich nun bereits zwei Dinge gefunden habe, die mir helfen, fehlt mir möglicherweise nur noch ein Puzzleteil. Dann habe ich ganz viel Verschiedenes ausprobiert: Spiraldynamik, Feldenkrais, Alexander-Technik, Qigong, Shiatsu, Fantangong, die Renner-Methode, Bodybliss etc. 

„Ich habe mich tatsächlich niemals hingesetzt und gesagt, jetzt erfinde ich einen Stuhl, sondern ich kam zum MiShu so ein bisschen wie die Jungfrau zum Kind. „

Gabriele Wander

Eine S-Bahn Fahrt verändert alles 

Irgendwann kam das große Aha-Erlebnis – jedoch in der S-Bahn in München. Ich war mit viel Gepäck unterwegs: eine große Tasche rechts, eine große Tasche links. Und dann habe ich mich mit meinen zwei Taschen, weil da so viel Platz war, ganz einfach in die Mitte von einer Doppelsitzbank gesetzt. Und da, wo die zwei Sitze zusammentreffen, da ist es relativ hart und leicht gewölbt. Ich saß nicht in diesem Mulden, wo man normalerweise sitzt – da waren meine beiden Taschen. Ich saß genau dazwischen: hart und leicht gewölbt. Und wie ich da so saß und zum Fenster rausschaute, habe ich plötzlich gemerkt, dass sich das sehr gut anfühlt. 

Ich hatte das Gefühl, dass ich von selbst aufrecht sitze – ohne Mühe und Anstrengung. Das wollte ich zu Hause nachbauen. Ich habe mir von meinem Bruder, der mit Holz heizte, ein Stück vom Baumstamm mitgenommen. Einfach das äußere Teil mit Rinde und Wölbung: circa 40 Zentimeter lang und 20 breit. Oben rund, unten flach. Und dieses Holzstück habe ich mir zu Hause auf meinen Küchenstuhl gelegt, weil ich mir dachte: ab heute sitze ich zu Hause genauso gut wie in dieser S-Bahn. Mit diesem gewölbten Holzklotz hat MiShu-Stuhl begonnen.  

Können Sie sich erklären, warum genau diese Wölbung so hilfreich für Sie war? 

Ungefähr fünf Jahre später habe ich von einer Shiatsu-Therapeutin auf einem Kongress in Kassel die Erklärung dafür bekommen, warum diese Wölbung so besonders wirkt und warum er die Aufrichtung unterstützt.  

Ich war als Ausstellerin vor Ort und eine Frau stürzte auf mich zu und freute sich, dass es endlich einen Stuhl gäbe, der die Punkte der stillen Erneuerung aktiviert. Das hatte ich bis dahin noch nie gehört. „Punkte der stillen Erneuerung“ – was ist denn das? Sie erklärte mir, dass wir auf unseren Sitzbeinknochen zwei Punkte haben, die im Jin-Jitsu „Punkte der stillen Erneuerung“ heißen. Manchmal werden sie auch als Energieschlösser Nummer 25 bezeichnet. 

Punkte der stillen Erneuerung 

Die Punkte der stillen Erneuerung, wenn sie gedrückt werden, entsteht automatisch ein Aufrichtungsimpuls in der Wirbelsäule. Dieser Druck aktiviert, über einen Reflex die innerste Schicht der Rückenmuskulatur. Der MiShu Stuhl funktioniert auf die gleiche Art und Weise. Dazu kommt dann noch das dreifache Gelenk. 

Und das ist ein großer Vorteil im Vergleich zu normalem Sitzen auf herkömmlichen Stühlen. Auf jedem normalen Stuhl, auf dem wir sitzen, ist das Becken praktisch fixiert. Auf dem MiShu-Stuhl ist das anders. Das Becken kann in jeder Dimension wieder komplett frei schwingen und dadurch wird die Bewegung erst vollständig. Die Bewegung, die auf dem MiShu-Stuhl entsteht, ist so ähnlich wie beim Gehen. Und wenn man sich vorstellt, man geht Spazieren, ist das ist viel weniger anstrengend, als wenn man irgendwo in der Warteschlange steht.  

Ist dieser Reflex der Grund, dass der MiShu-Stuhl diese Vorteile hat? Es gibt ja auch ergonomische Bürostühle, die gesundes Sitzen versprechen. 

Ein ganz wichtiger Punkt ist die leicht gewölbte Sitzfläche, die diesen Reflex auslöst. Und damit in Verbindung ist dann das dreifache Gelenk, wo wir drei einzelne Achsen haben. Und noch ein dritter Punkt kommt dazu, nämlich das Gelenk befindet sich beim MiShu-Stuhl ganz weit oben, also nah unter der Sitzfläche. Dadurch wird die Bewegung auf dem MiShu-Stuhl viel feiner und viel differenzierter, als zum Beispiel jetzt beim Sitzen auf dem Swopper oder auf dem Sitzball. Die meisten haben den Drehpunkt sehr weit unten. 

Der MiShu Stuhl gibt einen Rundum-Bewegungsspielraum, der sich von der von der unteren Basis der Wirbelsäule, also vom Kreuzbein aus, durch die ganzen Lendenwirbelbereich, durch die Brustwirbel und die Halswirbel hinauf bis zum Kopfgelenk erstreckt. Also die Wirbelsäule pendelt sich in ihrer senkrechten Achse ein, weil es so am wenigsten anstrengend ist, aufrecht zu sitzen. 

Im Büro kleben die meisten Menschen an der Lehne. Das heißt, dann sitzt jemand schon mal nicht mehr in seiner eigenen Mitte, sondern er ist eigentlich hinter der eigenen Mitte. Und wenn wir aufrecht sitzen, bei Musikern ist es ja schon weit verbreitet, nutzen viele die Stuhlkante. Jeder, der gerne auf der Stuhlkante sitzt, wird sich auf dem MiShu ganz bestimmt sehr wohl fühlen. 

Jetzt haben Sie gerade schon das Thema Musik angesprochen. Der Stuhl hat eine ganz andere Entstehungsgeschichte, die erst einmal mit Musik nichts zu tun hat. Ich weiß aus unserem Vorgespräch, dass Sie einen Gerhard-Mantel-Tipp so als Ideengeber hatten, den MiShu-Stuhl auch ganz bewusst für Musikerinnen und Musiker weiterzuentwickeln.  

Den MiShu gibt es ja bereits seit Anfang 2000 und es waren von Anfang an immer wieder Musiker sehr begeistert von ihm. Ich hatte eigentlich zwei Berufsgruppen, die sehr begeistert waren: Das eine waren Körpertherapeuten und das andere waren Musiker. Viele sagten, dass sie darauf besser spielen könnten, als auf einem herkömmlichen Stuhl.  

Die Geburt der Klavierbank 

Ich hatte damals eine Kundin, die Klavierlehrerin war und den Bewegungsstuhl bereits im Unterricht nutzte, wenn sie neben ihren Schülerinnen und Schülern saß. Wenn sie jedoch selbst spielte, war ihr der Bewegungsstuhl zu instabil. Sie schlug vor, die Beine genauso breit wie sie Sitzfläche zu machen und ein Gelenk zu entfernen. Damit war der MiShu optimal für das Klavier geeignet. Hier braucht man, wegen des Pedaleinsatz‘, eigentlich nur die Schwingung in einer Achse. Die Kundin war vom ersten Prototyp restlos begeistert und fortan gab es MiShu Bewegungsstuhl, eben für Schreibtisch und den Alltag und für manche Instrumente (wie zum Beispiel Cello, Akkordeon, Gitarre oder Blasinstrumente) und parallel dazu gab es die MiShu Klavierbank. 

„Ich hatte eigentlich zwei Berufsgruppen, die sehr begeistert waren: Das eine waren Körpertherapeuten und das andere waren Musiker.“

Gabriele Wander

Intelligent Learning mit der Klavierbank 

Und ich hatte dann auch eine Klavierbank zu Hause, weil ich als Kind Klavier gelernt hatte. Allerdings war sie bei mir immer ehr das Stiefkind – da sie hat ja nur ein Gelenk. Dann gab es einen Tag, wo sich diese Sichtweise für mich komplett geändert hat.  

Auf auf dem internationalen Kongress für Spiraldynamik in der Schweiz war ich als Ausstellerin. Der Kongress stand unter dem Thema „Intelligent Learning“. Einer der Redner war auch Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn, der einen Vortag zum Thema  „Differenzielles Lernen“ hielt. Ich saß in diesem Vortrag und es war wirklich für mich ein riesen Aha-Erlebnis. 

Auf der Rückfahrt kam mir plötzlich der Gedanken, dass ich die Klavierbank auch differenziell einsetzen könnte. Und kaum war ich zu Hause, habe ich das ausprobiert. Ich war total heiß drauf zu erleben und habe die Klavierbank erst mal so ganz normal hingestellt, so wie sie ja eigentlich normalerweise steht, nämlich parallel zum Klavier. und dann geht die Schwingung vor und zurück. Und dann habe ich ein bisschen gespielt und habe sie dann um 90 Grad gedreht (die Schwingung geht dann seitlich nach rechts und links). Anschließend habe ich wieder ein bisschen gespielt. Anschließend kam ich noch auf die Idee, die Klavierbank ein bisschen schräg hinzustellen, also 45 Grad gedreht. Und das führt dann dazu, dass die Schwingung nach schräg hinten unten außen ging. Und das hat sich irre angefühlt, weil ich eine Leichtigkeit in den Fingern, die mich völlig erstaunte. 

Anschließend habe ich die Schwingungsradien in der Klavierbank verändert, sodass die Bewegung in der Wirbelsäule sich unterschiedlich (mal weiter unten, mal weiter oben, mal in der Mitte) anfühlt. Zur gleichen Zeit laß mein Partner ein Übe-Buch von Gerhard Mantel. Auf einer der Seiten stand ungefähr wörtlich: „leichte Dreh- und Schwankbewegungen im Rumpf fördern die Sensibilität bis in die Fingerspitzen.“ Und das war für mich echt Wahnsinn. Dadurch hat sich meine Sichtweise auf die Klavierbank sehr verändert. Inzwischen würde ich gar nicht mehr sagen, sie hat nur ein Gelenk. Sondern man kann die Klavierbank ganz genauso nutzen, wie den Bewegungsstuhl, um dreidimensionale, differenzierte Beweglichkeit auf jede einzelne Etage der Wirbelsäule zu bringen.  

Klangliche Unterschied mit dem MiShu Stuhl 

Jetzt können Sie ja sowohl aus Ihrer eigenen Erfahrung berichten, aber sicher auch aus den Berichten der Musikerinnen und Musiker, die Ihren Stuhl bereits getestet haben: Ich könnte mir vorstellen, dass der Stuhl auch klanglich eine Unterschied macht? 

Das habe ich auch festgestellt und also vor allem habe ich festgestellt, es macht irgendwie mehr Spaß. Also das Üben kriegt noch mehr eine spielerische Komponente. Es wird lebendiger.  

Wir haben dann, weil mich das Thema dann wirklich interessiert hat, mehrmals ein Wochenendseminar angeboten. Ich hatte mit Phil Tillitsen einen ganz tollen Referenten, der an der Akademie für die Musicalausbildung musikalische Leiter war. Mit einer Gruppe aus Profi- und Laienmusikern und einem haben wir Tonaufnahmen vor und nach dem Einsatz der Klavierbank gemacht.  

Zunächst spielten die Teilnehmer auf einer normalen Klavierbank eine Basisaufnahme ein. Anschließend hatten sie 30 Minuten, um sich an die MiShu Klavierbank zu gewöhnen und mit ihr zu experimentieren. Danach nahmen wir eine Vergleichsaufnahme mit der MiShu Klavierbank auf. Es war tatsächlich ein deutlicher Unterschied hörbar. Beim ersten Mal habe ich mich gar nicht getraut, meine Einschätzung abzugeben, weil ich das Gefühl hatte, dass der Unterschied wirklich sehr groß ist. Ich habe daraufhin ganz vorsichtig gefragt, wie die anderen es hörten. Alle bestätigten, dass die Musik mehr Schwingung und mehr Leichtigkeit hatte.  

„Es gab bei allen Probanden schon nach ganz kurzer Zeit des Sitzens auf dem MiShu-Stuhl Alphaschwingungen“

Gabriele Wander

MiShu und das Differenzielle lernen 

Sie haben die Begegnung mit Herrn Schöllhorn eben bereits kurz angesprochen. Gab es auch mal ein Forschungsprojekt, in dem der MiShu Stuhl auf seine Wirkung wissenschaftlich untersucht wurde? 

Aus der Begegnung damals in Zürich ist tatsächlich eine Zusammenarbeit entstanden. Vor seinem Vortrag besuchte er zufällig meinen Stand in der Ausstellung und probierte mehrere Stühle aus. Er fragte mich, ob sie bereits wissenschaftlich untersucht worden seien. Ich verneinte. 

Ich erinnere mich noch sehr gut: Er hatte damals einen dunkelgrauen Anzug mit einer sehr auffälligen roten Krawatte und einer sehr auffällige rote Brille und war sehr sympathisch. Als der Kongress startete, trug der erste Redner eine rote Krawatte und eine rote Brille. Dann wusste ich, mit wem ich es vor dem Kongress zu tun gehabt hatte. 

Wir haben anschließend der Johannes Gutenberg Universität in Mainz mehrere MiShu-Stühle für mehrere Studien zur Verfügung gestellt und er hat sich nicht auf das Thema Rücken gestürzt, sondern er hat sich das Thema Hirnstrommessungen (EEG-Messungen) angeschaut. Die Fragestellung war, wie sich die Hirnströme beim Sitzen auf dem MiShu verändern – und zwar sowohl ganz spontan, kurz nachdem man sich draufsetzt, als auch dann im Rahmen eines Konzentrationstest, bei dem eine Drucksituation aufgebaut wurde. Die Ergebnisse waren tatsächlich beeindruckend.  

Es gab bei allen Probanden schon nach ganz kurzer Zeit des Sitzens auf dem MiShu-Stuhl Alphaschwingungen. Alphaschwingungen sind der entspannte, wache Gehirnzustand, den wir eigentlich als Kinder normalerweise haben, und während dem das Gehirn besonders lernfähig und aufnahmebereit für Neues ist.  

Beim Konzentrationstest zeigte sich, dass Beta-2-Schwingungen entstehen. Beta-2 steht für eine große Leistungsfähigkeit. Die Studie zeigte außerdem, dass weniger Fehler passierten. Es ließ sich nachweisen, dass die Konzentration und auch die Belastbarkeit größer beim bewegten Sitzen ist. Das heißt der Körper kann bei Bewegung im Sitzen besser Druck und Spannung ausgleichen.  

Anwendung des MiShu Stuhls 

Sitzen ist nicht gleich Sitzen und wir sind alle verschieden groß. Das heißt es gibt ja wahrscheinlich auch einen Unterschied, wie man den Stuhl optimal einstellt und wie man sich optimal darauf setzen kann, damit er auch wirklich die Wirkung entfalten kann, die er hat. Gibt es verschiedene Größen und wie ist die optimale Sitzposition auf dem MiShu Stuhl? 

Es gibt verschiedene Größen, verschiedene Modelle und verschiedene Holzarten. Unser Kernprodukt ist eigentlich der MiShu Classic. Er entstand zuerst. Er hat das dreifache Gelenk, aber auch die Möglichkeit, dass man ein oder zwei Gelenke herausnehmen kann. Und das funktioniert mithilfe eines Stecksystems, ähnlich wie bei Lego. Den MiShu Classic gibt es in vier verschiedenen Größen und auch in vier verschiedenen Holzarten: Buche, Kirsche, Eiche oder Nussbaum.  

Daneben bieten wir auch vier verschiedenen Größen an. Die optimale Höhe des MiShu Stuhls richtet sich nach der Körpergröße – noch besser nach der Kniehöhe. Die Mitte der Kniescheibe sollte ungefähr genauso hoch sein, wie der höchste Punkt auf der Wölbung. Dann ist der Stuhl richtig. Wenn der Größenunterschied nicht allzu erheblich ist, kann man allerdings auch mit mehreren Personen den gleichen MiShu Stuhl nutzen.  

Und es gibt dann eben die MiShu Klavierbank. Die gibt es auch in zwei verschiedenen Höhen und in verschiedenen Holzarten. Zudem natürlich auch in schwarz lackiert, für die, die einen schwarz lackierten Flügel haben. Daneben gibt es noch ein kostengünstiges Einsteigermodell, der heißt MiShu Sun. Der hat von Haus aus immer drei Gelenke und ist nicht so variabel wie der MiShu Classic. 

Sie sind von Hause aus Körpertherapeutin und ich nehme an, dass Ihre Rückenschmerzen (die zur Erfindung des Stuhls führten) inzwischen weg sind. Das heißt, der Stuhl bringt auch gesundheitliche Vorteile insofern, dass er zumindest diesen typischen Volkskrankheiten wie Bandscheibenvorfall, Rückenschmerzen durch schlechtes Sitzen etc. vorbeugen kann. Könnte man sagen, dass er also nicht nur ein therapeutischer, sondern auch ein gesundheitlicher Stuhl ist? 

Der MiShu Stuhl ist einfach wertvoll für alle Menschen, die viel Zeit im Sitzen verbringen. Und das muss man leider sagen, das ist heutzutage eigentlich fast jeder. Die meisten Jobs sind Bürojobs. Und bei Musikern ist es ja so, dass man viel Zeit im Üben verbringt. Es gibt kaum mehr Berufe, wo die meisten Menschen entweder auf dem Feld oder im Handwerk gearbeitet haben. Es gibt da wissenschaftliche Studien, aus denen ganz eindeutig hervorgeht, dass das stundenlange Sitzen nicht nur für den Rücken schlecht ist, sondern tatsächlich ganz gesamtgesundheitlich eine große Belastung darstellt. 

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Differenzielles Lernen in der Musik https://what-is-practice.de/differenzielles-lernen-in-der-musik/ https://what-is-practice.de/differenzielles-lernen-in-der-musik/#comments Sun, 25 Aug 2024 14:07:42 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6576 Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn ist Bewegungs- und Trainingswissenschaftler an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Er gilt als Begründer des Differenziellen Lernens. Eine Methode, die auch inzwischen Einzug in die Musik gehalten hat. Was so abstrakt klingt ist in Wahrheit recht einleuchtend und simpel. Wir lernen aus Unterschieden.  Damit ist nicht gemeint, dass wir anfangen sollten,… Weiterlesen »Differenzielles Lernen in der Musik

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Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn ist Bewegungs- und Trainingswissenschaftler an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Er gilt als Begründer des Differenziellen Lernens. Eine Methode, die auch inzwischen Einzug in die Musik gehalten hat. Was so abstrakt klingt ist in Wahrheit recht einleuchtend und simpel. Wir lernen aus Unterschieden. 

Damit ist nicht gemeint, dass wir anfangen sollten, ein zweites Instrument zu lernen. Differenzielles Lernen zielt eher auf die kleinen Unterschiede ab, die beim Ausführen einer Bewegung am Instrument entstehen. Sie beschränken sich jedoch nicht nur auf Bewegungen, sondern variiert werden kann jeder musikalische Parameter von Ausdruck bis Genre. Die Frage, die sich natürlich nun stellt: Wie können wir uns das in der Musik zu nutze machen. Darüber soll es in dieser Podcast Folge gehen. 

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn in der Sporthalle der JGU Mainz
Wolfgang Schöllhorn nach dem Interview an der JGU Mainz

In der Folge habe ich mit Wolfgang Schöllhorn den Blick aber abseits von Sport und Musik gerichtet und mein Gast gibt Einblicke zu aktuellen Forschungsfragen rund um das optimale Lernen gibt. 

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Wolfgang Schöllhorn lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview

Inhalt

In Anlehnung an die Musikerinnen und Musikerinterviews, die ich immer führe, würde ich Ihnen gern zum Einstieg zwei Fragen stellen: Vervollständigen Sie folgenden Satz, trainieren heißt für Sie?

Meist eine veraltete Methode, die dringend einer Überarbeitung bedarf.

Das heißt Sie trainieren nicht?

Nein. Das Wort trainieren (train – to train) kommt ursprünglich aus dem französischen und bedeutete „das Pferd aus dem Stall ziehen“.

Und ich will niemanden hinter mir herziehen, sondern für mich ist es eigentlich eine Stimulation und eine Interaktion, wo mehr Kreativität von Seiten des Lernenden mit hineinkommen kann.

Das heißt Sie sagen nicht „ich trainiere“, sondern was ist Ihr Wort für das, was man so landläufig als trainieren bezeichnet?

Also wir sind auf der Suche nach einem adäquaten Wort, aber: ich bewege mich, ich lerne.

Das finde ich schön. Bewegung oder Lernen sollte ja nicht nur monotones Wiederholen sein, sondern im besten Fall abwechslungsreich und kreativ.

Was ist denn die neueste oder letzte Idee, die Sie selber in Ihrem eigenen Bewegen, Lernen ausprobiert haben beziehungsweise an Studierende weitergegeben haben?

Das Neueste, was ich jetzt an unsere Studierenden gegeben habe, ist das Resultat unserer neuen Forschung, dass auch Differenziales Lernen mit der Zeit abstumpft.

Und das war das, was ich eigentlich auch von Anfang an vor 20 Jahren schon gesagt hatte: es geht um Variation der Variation. Variation muss individuell und situativ angepasst werden.

Es gibt Leute, die werden bei zu viel Variation verrückt. Dann gibt es andere, die werden bei zu viel Wiederholung verrückt – und dann kann das aber auch von Zeit zu Zeit wechseln. Es hat schon eine starke psychologische Komponente, wann Wiederholung Vorteile bringt. Da können wir aber später nochmal drüber reden.

„Variation muss individuell und situativ angepasst werden“

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn

Entweder-Oder-Fragen

Sehr gerne, dazu habe ich auf jeden Fall auch ein paar Fragen vorbereitet. Für alle Zuhörerinnen und Zuhörer, die sie vielleicht noch nicht so gut kennen, habe ich mir ein paar Entweder-Oder-Fragen überlegt, um Sie vorzustellen.

Handball, Leichtathletik, Turnen oder Bobfahren?

Das ist jetzt quasi mein Lebenslauf in der Praxis.

Für mich gibt es da kein Entweder-Oder, sondern es war einfach nur die Neugierde.

Der Wechsel von Handball auf Leichtathletik war mehr oder weniger aus Gesundheitsgründen, weil ich im Handball (damals war es üblich auf Betonboden mit Linoleum zu spielen) die Knie nach zehn Jahren kaputt hatte. Während der Regeneration hatte ich die Leichtathleten kennengelernt.

Und die haben mich dann gefragt, ob ich als Handballer nicht auch mal Speer werfen könne. Wenn du Speer wirfst, dann kannst du auch Diskus und Kugelstoßen und damit war der Zehenkampf schon fast komplett zusammen.

Ich habe das dann eine Weile lang gemacht und habe dort aus Neugierde jemanden kennengelernt, der Bobfahren konnte. Ich bin dann dort relativ schnell erfolgreich gewesen und habe aber ganz am Ende, als ich schon Athleten trainiert hatte nebenher, mit meiner neuen Theorie ein Selbstexperiment gewagt.

Ich hatte dann mit Freunden von mir, Georgios und seinem Bruder Eftimios Karamitsos, der ist Nationaltrainer im Karate, einen Deal gemacht: Ich habe gesagt, ich bringe dir Sprinten bei und du bringst mir Karate bei. Aber ich will dich nur einmal die Woche sehen, weil ich den Rest dann selber mache. Und das haben wir dann gemacht. In sehr kurzer Zeit hatte ich den braunen Gurt und ich wusste, das Differenzielle Lernen funktioniert und habe es dann erst bei meinen Athleten angewandt.

Also alles, worüber ich rede, das stammt aus praktischer Erfahrung. Nicht nur als Athlet, sondern weil ich mein Studium selbst finanzieren musste, auch als Trainer.

Haben Sie eine Lieblingssportart, obwohl Sie so breit aufgestellt sind?

Nein, also womit ich mich schon ein bisschen schwertue, ist Wasser. Ich schwimme auch ab und zu, aber dann möchte ich wirklich schnell wieder raus. Alles, was so in den Ausdauer Bereich geht, ist jetzt nicht so mein Favorit.

Man hört Sie sind Schwabe, also: Mainz oder Ulm?

Also zum Studieren und Arbeiten gerne hier in Mainz.

Ich bin gern in Ulm, aber für die damalige Zeit war es wichtig, davon wegzukommen, weil Ulm für die Zeit nach der Schule doch eher etwas konservativ war. Da war die Gegend hier im Rhein-Main Gebiet ideal.

Erklären oder vormachen?

Weder noch. Fragen stellen.

Heute oder morgen?

Jetzt.

Wir hatten es davon eben schon im Vorgespräch. Ich kam auf die Frage, als ich ein Video von Ihnen gesehen habe, in dem Sie vor den deutschen Fußballlehrern sprechen. Da zitierten Sie am Anfang ein chinesisches Sprichwort, was wohl besagt: „Wenn du unglücklich sein möchtest, dann vergleiche dich mit anderen.“

Das ist vollkommen richtig. Das „andere“ kann man sogar weglassen. Wenn du unglücklich sein willst, dann vergleiche. Das reicht schon.

Das ist für mich im Sport, aber auch in der Musik ganz wichtig: Wenn ich ein Musikstück höre und will es genauso reproduzieren, dann fange ich schon an zu vergleichen. Oder wenn mir mal ein Stück gut gelingt, dann fange ich an zu vergleichen. Und der Vergleich, das wissen wir inzwischen, aktiviert den Frontallappen und damit wird die meist die Leistung reduziert. Das hindert uns auch daran im Moment maximal Leistung zu bringen.

Waren Sie immer schon frei davon oder war es bei Ihnen auch ein Prozess?

Nein, das war klar ein Prozess. Ich bin die klassische Schule durchgegangen.

Ich habe auch für 10 Jahre Oboe gelernt. Bei den Wiederholungen der Tonleiter in der anfangs viertel Stunde wusste ich damals schon nicht wozu.

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Was ist Differenzielles Lernen?

Können Sie beschreiben, was das Differenzielle Lernen auszeichnet, beziehungsweise wie es sich vor allen Dingen vom klassischen Lernen unterscheidet?

Wie das Wort es eigentlich schon sagt, liegt darin die Erkenntnis, dass wir prinzipiell nur, aus Differenzen lernen können.

Die zugrundeliegende Definition von Lernen: Lernen ist eine zeitlich überdauernde Verhaltensänderung oder Wissensänderung. Das heißt also das, was im Abitur stattfindet, ist kein Lernen. Das ist Kurzzeit-Reproduktion. Lernen ist eigentlich das, was wir auch ein Jahr danach noch wissen.

Zeitlich überdauernde Verhaltensänderung geht nur über Differenzen. Das hat auch einen informationstheoretischen Hintergrund: Wenn wir zweimal die gleiche Information erhalten, was sollen wir daraus lernen? Unser Körper ist auch darauf abgestimmt. Unsere Neuronen können sich sehr schnell an Wiederholungen anpassen.

Das merken wir immer, wenn wir morgens die Kleidung anziehen. Das ist für die Haut noch neu, aber sobald sich der Reiz beim Tragen wiederholt, sind wir uns der Kleider nicht mehr bewusst. Wiederholung stumpft ab.

Das Wort „differenziell“ rührt auch noch aus meiner Physikausbildung her und leitet sich von der Differential- und Integralrechnung ab. Es deutet darauf hin, dass es im Ursprung des Differenziellen Lernen eigentlich um die kleinen Differenzen ging.

Das bedeutet, wenn ich schon in einer Bewegung bin (wir haben damals mit Kugelstoßen gearbeitet), dann geht es nicht darum, dass ein Kugelstoßer noch zusätzlich Rad fahren und schwimmen soll, sondern dass er innerhalb des Kugelstoßens noch sehr viele Variationen drin hat.

Also, dass er nach rechts oben oder nach links unten stoßen kann. Er kann es in den Vorwärtsbewegen machen, er kann es in den Rückwärtsbewegen machen, mit dem Kopf nach links, Kopf nach rechts, Ellenbogen unten, Ellenbogen oben, etc.

Das heißt, wir haben damals gesagt, dass keine zwei aufeinanderfolgenden Wiederholungs- oder Bewegungsausführungen identisch sein sollten. Wir erzeugen zwischen zwei aufeinanderfolgenden Bewegungen Differenzen, wodurch unser System eine Chance hat, einen Vergleich anzustellen um zusätzliche Informationen zu erhalten.

Interessanterweise nutzt unser Gehirn genau diesen Mechanismus ständig: Nämlich beim Sehen. Wenn wir also unser linkes und rechtes Auge abwechselnd auf und zu machen und eine Linie angucken, dann sehen wir, dass die Linie hin und her springt. Das heißt, unser Gehirn nutzt die Differenz der beiden Abbilder, um die Entfernung zu bestimmen. Das Gleiche macht es auch beim Gehör. Wenn ein Schall zuerst auf das linke Ohr und dann aufs rechte Ohr kommt, gibt uns die zeitliche Differenz die Orientierung, woher der Schall kommt.

„Das bedeutet, wenn ich schon in einer Bewegung bin (wir haben damals mit Kugelstoßen gearbeitet), dann geht es nicht darum, dass ein Kugelstoßer noch zusätzlich Rad fahren und schwimmen soll, sondern dass er innerhalb des Kugelstoßens noch sehr viele Variationen drin hat.“

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn

Landläufig gibt es diese Vorstellung, dass wenn man etwas lernt und wiederholt, dass sich Myelin um die Synapsen bildet und eine Art Datenautobahn entsteht. Ist dann diese Vorstellung falsch?

Jein.

Also ich glaube, da liegt ein großes Missverständnis vor. Dieses auch als Binding- Problem bekannte Phänomen hatte ich damals schon bei Prof. Wolf Singer in Frankfurt am Max-Planck-Institut für Gehirnforschung gesehen: Wenn im Gehirn von vorne links die Frequenz kommt und dann hinten rechts ist – dann, so die Theorie fängt es an sich zu verbinden. Das stimmt für kurze Entfernungen, nur interessanterweise war das aber auch das einzige Lern-Design, was sie untersuchen konnten. Man hat kein anderes Lernen untersucht. Man hat quasi das Experiment so gestaltet, dass das rauskommt, was eigentlich rauskommen muss.

Und jetzt gibt es ja verschiednste Formen des Lernens, auch das sog. AHA-Lernen was wir zum Beispiel Fahrradfahren erleben. Das können wir damit nicht erklären. Balancieren können Sie damit nicht erklären. Es ist nur eine, und zwar eine der wenigsten Formen des Lernens, die man untersucht hat.

Hinzukommt, dass wir wissen dass sich unser System von selbst ändert. Also schon wenn ich nachts schlafe, schon wenn ich irgendeinen Gedanken habe, habe ich im Gehirn schon nicht mehr die gleichen Synapsen. In der Pubertät kommt zusätzlich Wachstum und die Veränderung des Hormonhaushalts dazu. Das heißt eigentlich, dass ich niemals wieder dieselbe Situation habe. Wozu soll ich dann wiederholen? Also, wiederholen macht Sinn – allerdings aus anderen Gründen, die meist mit einem Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle in Verbindung stehen.

Was wir inzwischen leider wissen ist, wenn zu viele Wiederholungen stattfinden und das ist ganz bekannt in der Musik, besteht die Gefahr der Fokalen Dystonie. Diese Krankheit tritt häufig bei enormem Ehrgeiz gepaart mit vielen Wiederholungen auf. Wir sehen dies nie bei viel Variation. Im Sport ist es übrigens ähnlich, zum Beispiel beim Golf das Yips. Es ist immer die Paarung viel Ehrgeiz mit viel Wiederholung.

Das heißt nicht prinzipiell, dass man keine Wiederholung zu lange machen sollte. Es muss allerdings differenziert werden. Im absoluten Top-Bereich ist Wiederholung und Ehrgeiz zudem etwas ganz anderes als beim Anfänger. Wenn ein Anfänger wiederholt, dann habe ich da immer noch genügend Variation drin. Deswegen lernen sie auch noch bei Wiederholung.

Allerdings je länger sie in unserem klassischen Schulsystem, im Ausbildungssystem etc. drin sind, desto weniger Varianz sieht man bei den Wiederholungen. Dies ist unter anderem auch der Grund warum es älteren Menschen schwerer fällt, Neues zu lernen. Sie glauben immer noch, die gleichen Methoden wie in der Schule anwenden zu müssen, weil es dort ja auch funktioniert hat. Der Unterschied war nur, dass in dieser Zeit viel Variation im Leben war und stets Neues erfahren wurde. Im Alter sind die Bedingungen anders und deshalb funktionieren auch Methoden aus früheren Jahren nicht mehr. Es geht einfach darum, genügend Variation weiter im Gesamtsystem zu halten.

(Warum) ist Differenzielles Lernen universell übertragbar?

Wir haben vorhin schon in Ihrer Biografie die Sportarten aufgezählt, die Sie selbst aktiv gemacht haben, aber auch die Sportarten, die inzwischen differenzielles Lernen anwenden. Jetzt kann man ja weder von der Musik noch im Sport von dem Sport reden. Wieso lässt sich das differenzielle Lernen trotzdem auf so viele Disziplinen anwenden?

Wir haben 2014 mit Stefan Albrecht (Querflöte) eine Studie gemacht. Wir luden die besten Flötisten aus dem Rhein-Main-Gebiet hier ein und ließen sie im Labor Mozarts zweites Konzert für Querflöte spielen. Alle Finger- und Körperbewegungen wurden mit Kameras und einer Kraftmessplatte aufgenommen.

Und obwohl die alle genau das gleiche Stück spielten (sie mussten es fünfmal an einem Tag spielen und kamen an drei Tagen hintereinander) konnten wir anhand jeder Fingerbewegung erkennen wer spielt. Wir konnten anhand der Körperbewegung erkennen wer spielt und das, ohne dass wir irgendeinen Ton aufgenommen hätten. Ich hätte es auch vom Ton her sagen können wer spielt. Allerdings konnten wir nicht die Tage voneinander unterscheiden. Das heißt, da war dann eine Überlappung.

Inzwischen haben wir Verfahren über unsere Deep Learning Netzen, mit denen wir auch die Tage unterscheiden können. Das heißt, wir sehen eigentlich, dass unser System selbst sich ständig verändert. Und das ist genau das, warum Wiederholungen nur wenig bringen. Sie helfen uns allerdings in Bezug auf psychische Sicherheit. Sie geben mir das Gefühl von Kontrolle. Und deswegen gibt es Personen, die das brauchen. Und diese Phänomene treten nicht nur im Sport oder der Musik auf, sondern scheinen grundlegend.

Warum das Differenzielle Lernen auf alle Bereiche zu übertragen ist, liegt wohl daran, dass hier physikalische Theorien gepaart  mit neurophysiologischen Grundlagen zugrunde liegen, und keine weitere Meisterlehre. Also sprich, jedes System, was noch am Leben ist, zeigt diese Phänomene, wie z.B. Schwankungen, Stabilitäten, Instabilitäten, Phasenübergänge etc. Und solange das System Schwankungen hat, am Leben ist, sind diese Theorien anwendbar.

Anwendungsbeispiele des Differenziellen Lernens in der Musik

Wenn ich jetzt ein Trompeter bin, dann weiß ich, dass die Finger niemals identisch auf die Ventile kommen. Die Lippenbewegung, Atmung, Stütze ist nicht immer gleich. Und vor allen Dingen sind sie in Kombination nicht immer identisch: Welchen Gedanken habe ich da gerade mit drin? Wie ist meine Stimmung? Wie ist mein Ernährungszustand?

Das heißt, die ständigen Variationen, die dort hinzukommen, die ignorieren wir bislang einfach. Wir denken, wir spielen Trompete, weil da vorne Noten sind. Nein, der Teufel steckt im Detail. Allerdings kann ich das im Prinzip nutzen, um die Variation aufrechtzuerhalten.

Das heißt, ich kann mal mit gebeugten Fingern, ich kann mit gestreckten Fingern spielen, ich kann mit hohem Ellbogen spielen, ich kann mit Ellbogen unter der Trompete spielen, ich kann mit Rücklage spielen, ich kann mit Vorlage spielen, ich kann das Spiel in Seitlage machen, ich kann den Nacken stärker beugen, ich kann in Überstreckung gehen Es gibt verdammt viele Möglichkeiten, wo man variieren kann.

Das heißt aber, Sie beschränken ganz bewusst die Differenzen, also die Variationen, auf dem Bewegungsapparat?

Nein, nicht nur auf die Bewegung. Das hat Professor Martin Widmaier mal wunderschön am Flügel des Peter-Cornelius-Konservatoriums in Mainz vorgeführt.

Er hatte zwei Flügel nebeneinander aufgestellt und Musikschulkinder Stücke im Vorbeigehen, nicht am Sitzen, spielen lassen. Die Spielaufforderungen variierten: Spiel doch mal wie Hagelkörner. Jetzt spiel doch mal wie Schneeflocken. Oder wie in einem Liebeslied. Und jetzt mal arrogant-aggressiv. Also Emotionen ausdrücken in der Musik ist ein ganz großer Bereich von Variation. Für die Bläser kommt noch hinzu, dass ich in kürzeren Rhythmen atmen kann, abwechselnd zwischen Bauch und Brustatmung, durch die Nase oder den Mund einatmen, und beliebige Kombinationen davon, oder ich könnte laut und langsam oder schnell und leise spielen, die hohen Töne leise, die tiefen Töne Laut und umgekehrt. Wenn man das noch mit den Bewegungen kombiniert, dann sieht man schnell die große Anzahl an Möglichkeiten. Wenn man dann noch an die Stücke rangeht und nur jeden zweiten Takt spielt, das Stück rückwärts spielt, in verschiedenen Rhythmen, dann öffnet sich noch ein ganz anderes Feld. Was häufig erst spät gemacht wird, könnte man schon am Anfang machen, die Stücke z.B. in verschiedenen Stilen spielen, Bach’s Tocatta im Blues-stil, oder Satchmo’s What a wonderful day klassisch interpretieren. Vieles davon wird vereinzelt schon angewandt, aber leider noch nicht systematisch und nicht bei allen in die Grundschule eingebaut. Herr Albrecht zum Beispiel lässt seine Flötenschüler von Beginn an auch Flageolett (Spielen mit Obertönen) mit Erfolg spielen, das klassisch erst spät wenn überhaupt eingeführt wird.

Ist ein variantenreiches Üben und Differenzielles Lernen im weitesten Sinne das Gleiche?

Ja. Wir hatten das Wort differenziell eigentlich nur aus dem Grund gewählt, weil es im Sport eine sogenannte Variability of Practice Theorie gab. Diese ging davon aus, dass wir sogenannte invariante Elemente haben. Die Invarianten, die kann man kombinieren mit variablen Parametern, damit die Invariante stabiler wird. Das wäre dann zum Beispiel Gehen mit langem Schritt, mit kurzem Schritt, schnell oder langsam – aber ich darf nicht meinen Stil verändern. Ich darf nicht federn oder schleichen gehen. Der Rhythmus muss jedoch drin bleiben. Wie sich mittlerweile allerdings rausstellte, ist die Theorie nur für kleinmotorische Bewegungen gedacht.

Und weil dort das Variable schon quasi benutzt war, haben wir nach einem Alternativbegriff geguckt. Und eigentlich ist es auch der Kern von allen anderen Lernansätzen: auch dort gilt: Wir lernen nur aus den Differenzen.

Umgangssprachlich würde ich variabel sagen. Allerdings nicht variabel im Sinne von „geblockt“ (10x Variante A, dann 10x Variante B) – sondern es geht auch darum, dass wir jede Bewegung oder jeden Ton anders machen. Ich kann dann im Übrigen auch, was viele Musikerinnen und Musiker machen, ein Musikstück erstmal nur mit punktierten Achtel durchspielen oder das Stück mal schnell, mal in Lento oder mal in Adagio.

Ich würde sagen, wenn am Anfang die Technik das Problem ist, dann fange ich an dort zu variieren. Wenn es dann um Ausdruck des Musikstücks geht, dann geht es mehr um Emotionen zu variieren.

„Wenn wir das Gehirn in diesen Alpha-Theta-Zustand kriegen, dann lernen wir optimal. Genau dafür ist Bewegung ideal und es muss nicht unbedingt Ausdauersport sein, sondern jede Form von Bewegung, allerdings Ganzkörperbewegungen. Fingerbewegungen alleine scheinen nicht zu genügen“

Prof. Dr. Wolgang Schöllhorn

Differenzielles Lernen im Vergleich zur O.P.T.I.M.A.L Theorie

Ich habe die ganze Zeit die Differenzielle Theorie oder das Differenzielle Lernen sogar ein bisschen weiter aufgefasst. Sie hatten es vorher schon angesprochen, dass Sie das Lernen ja auch in dieser zeitlichen Komponente sehen. Also nicht nur in der zeitlichen Komponente im Laufe des Lebens, sondern auch in der zeitlichen Komponente innerhalb des Tages (wir sind morgens anders aufnahmefähig als abends). Vielleicht kennen Sie aus der Musik Susan Williams?

Nein.

Susan Williams ist eine Barocktrompeterin, aus Holland, die in Bremen lehrt. Sie hat die O.P.T.I.M.A.L Theorie von Gabriele Wulf versucht auf die Musik zu adaptieren. Sie geht auch über das variantenreiche Üben hinaus und sagt, dass Lernen dann gut funktioniert, wenn man intrinsisch motiviert ist. Die beiden Theorien sind aber nicht so verknüpft, wie man auf den ersten Blick wahrscheinlich denken würde?

Wir sind gerade daran eine indirekte Verknüpfung herzustellen. Diese ist, dass man in beiden Fällen versucht, einen optimalen, jetzt ohne Akronym, einen optimalen Gehirnzustand zu erzeugen, der Lernen optimiert.

Ich bin allerdings ein bisschen skeptisch, weil gerade vor einem Jahr kam eine Meta-Analyse zum External Focus raus, die Bestandteil von der OPTIMAL-Theorie ist und die zeigt eigentlich, dass es keine systematischen Effekte gibt.

Und das ist auch das, was wir in Verbindung mit einem anderen System, Action-Type-System von Bertrand Theraulaz und Ralph Hipolite, feststellen.

Für manche Menschen, und deswegen bin ich immer mehr auf individuelle Geschichten aus, ist es förderlich, wenn sie extern fokussieren. Für andere ist es besser, wenn sie intern fokussieren.

Was heißt extern und intern in diesem Zusammenhang?

External Focus bedeutet sich auf einen Punkt, der außerhalb meines Körpers liegt, zu fokussieren. Intern entsprechend ein Punkt in meinem Körper. Da wird häufig, in meinen Augen, in der Wissenschaft viel kaputt gemacht, indem man Mittelwerte nimmt und dann ist es gerade Zufall, welche Art von Stichproben man hat.

Und was das O.P.T.I.M.A.L. Theorie betrifft, da sind noch zwei andere Sachen integriert worden, bei denen es um Motivation geht. Aber das sind sehr stark psychologische Elemente. Ich würde es gerne mal zusammen untersuchen.

Zum optimalen Lernen sehen wir, dass ein bestimmter Gehirnzustand notwendig ist. Und um diesen herstellen zu können, muss ich sehr individuell rangehen. Deswegen habe ich Schwierigkeiten mit an Mittelwerten orientierte Theorien generell (auch der O.P.T.I.M.A.L Theorie), die sagen, dass sie für alle gleich sind.

Für mich ist das ein ganz wichtiger Bestandteil der Differenziellen Theorie. Sie sagt nicht, dass das für alle gleich ist, sondern differenziell. Da ist noch ein ganz wichtiger Aspekt im differenziellen Lernen mit drin, nämlich die stochastische Resonanz. Wo ich die Differenzen anlege, muss ich meinem Lernenden gegenüber anpassen. Also wenn ich weiß, dass jemand abends müde ist, dann muss ich das anders machen, als wenn jemand gerade wach mit drei Tassen Kaffee ist.

Allerdings das ist ein großes Forschungsgebiet. Gemeinsam mit meinem Mitarbeiter Dr. Horst entwickeln wir daher gerade ein quantitatives Analyseverfahren zur Mustererkennung.

Mit Differenziellem Lernen setze ich die Grenzen weiter, damit ich eine höhere Chance habe zu interpolieren. Weil, wenn ich zu eng übe und dann kommt etwas außerhalb, dann muss ich extrapolieren und darin ist unser System nicht gut.

Jetzt könnte man ganz polemisch fragen, wenn das Differenzielle Lernen so überlegen ist, warum machen das nicht eigentlich alle so?

Die Frage höre ich öfters, vor allem am Anfang. Das ist immer so, wenn neue Sachen kommen. Zuerst wird es am Anfang bekämpft, dann wird es belächelt und am Schluss wussten es alle schon. Es ist und war schon immer schwierig, bestehende Lebensphilosophien und Überzeugungen zu ändern.

Und ja, unter dem Deckmantel des Lernens ist es leider so, dass in erster Linie Gehorsam beigebracht wurde.

Im Sport kommt hinzu, dass es schon viele anwenden, es aber aufgrund des Wettkampfcharakters und der Konkurrenzsituation nicht kundtun. Selbst ich erfahre es dann oft erst 10-15 Jahre danach, dass der Erfolg auf Differenzielles Lernen zurück ging.

An diesem Punkt waren wir schon ein paar Mal im Podcast: am Ende läuft es eigentlich immer darauf hinaus, dass man bestmöglich lernt oder weiterkommt, wenn man sich selbst sehr gut kennt und ein sehr genaues Bild von sich selber hat.

Allerdings wird wahrscheinlich gerade diese Fähigkeit zu wenig in Schul- und Musikausbildung kultiviert. Von daher wäre es ja eigentlich wünschenswert, wenn das eine Qualität wäre, die man den Leuten vermittelt oder?

Also jetzt wird es richtig philosophisch. Das ist eigentlich genau das, auch was schon über dem Orakel von Delphi stand und von vielen Philosophen wiederholt wurde: erkenne dich selbst.

Jetzt bin ich schon ein bisschen älter und ein bisschen mehr in der Welt rumgekommen, aber meine Beobachtung ist wirklich, alles, was wir machen, dient eigentlich nur dazu, uns selbst kennenzulernen und dann eventuell mal über den Sinn unseres Daseins nachzudenken.

Und jetzt komme ich ja von der Oboe und aus verschiedenen Sportarten mit Physik und Philosophiehintergrund und man wird eigentlich in allen Gebieten immer nur mit Problemen konfrontiert. Entweder stellt man sich ihnen und löst sie oder man läuft immer weiter in die kleinen Probleme rein und endet dann in Krankheiten. Das war auch einer meiner beeindruckendsten Sätze, die ich in einer Vorlesung in Physik von Carl Friedrich von Weizsäcker gehört hatte: „Warum muss der Mensch immer erst physisch erkranken, damit er psychisch gesunden kann.“

Ein anderer Spruch war für mich immer: das Schicksal hat so gewisse Winks und wenn man den Wink nicht versteht, dann kommt er das nächste Mal halt als Zaunpfahl daher. Ein anderer Spruch in eine ähnliche Richtung, der aus dem Indischen kommt: wenn du Gott zum Lachen bringen willst, dann mache einen Plan.

Das haben wir in Indien in unserer Ausbildung ständig gehört. Und es ist inzwischen auch klar, dass Pläne im überwiegend Frontallappen produziert werden. Deswegen steht es auch schon in der Bibel drin, dass wir zu Kindern werden müssen, um in das Reich Gottes zu gelangen. Und damit ist nicht gemeint kindisch zu sein. Sondern es geht darum, nicht zu planen, im Moment zu sein und nicht zu urteilen. Aus diesem Grund lernen auch Kinder so schnell.

Kinder bis zum fünften Lebensjahr zeigen im Gehirn nur die niedrigen Frequenzen, die theta und alpha). Die hohen Frequenzen, Beta und gamma kennt das kindliche Gehirn nicht. Die niedrigen Frequenzen sind aber genau diejenigen, die wir brauchen, um zu lernen. Und dies versuchen wir seit längerem für andere Bereiche zu nutzen, indem wir die niedrigen Frequenzen provozieren: Erwachsene wieder in den Gehirnzustand zu bringen, damit optimales Lernen stattfindet. Wenn wir das Gehirn in diesen Alpha-Theta-Zustand kriegen, dann lernen wir optimal. Genau dafür ist Bewegung ideal und es muss nicht unbedingt Ausdauersport sein, sondern jede Form von Bewegung, allerdings Ganzkörperbewegungen. Fingerbewegungen alleine scheinen nicht zu genügen. .

„Das Ziel ist nur, die Hindernisse und die Blockaden, die euch antrainiert wurden wegzukriegen.“

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn

Wie viel Variation ist zu viel?

Ich würde gerne zum Abschluss noch einmal rauszoomen, um den Leuten ein paar Handwerkszeuge mitgeben, wie sie beim Selbstbeobachten schauen können, in welche Richtung das Differenzielle Lernen bei Ihnen geht. Sie hatten das Wie in der Musik bereits etwas skizziert. Ich versuche mal zwei weitere Ebenen anzuschließen:

Die erste, die zeitliche, die hatten wir vorher schon ganz kurz umrissen. Ich habe hier nochmal einen anderen Blickwinkel drauf, den ich Ihnen gerne vorstellen würde, nämlich das Credo des „Viel hilft viel“.

Wahrscheinlich ist es nicht schlau, den ganzen Tag differenziell zu üben, denn so ein gewisses Maß an Wiederholung ist ja auch schon sinnvoll. Sie hatten das eben mit diesem psychologischen Aspekt umrissen. Ich weiß, Herr Widmaier hat das in so einem schönen Rechteck beschrieben, wo es um Konstanz und Varianz geht.

Können Sie beschreiben, inwiefern das differenzielle Lernen in so einem Alltag ausmachen kann, um nicht in einen Überforderungszustand zu geraten?

Das waren gleich mehrere Fragen. Der erste ist, Sie wollen jetzt, dass ich mich selbst ins Knie schieße. (lacht)

Hoffentlich nicht.

Das klingt so ein bisschen nach der Frage nach einem Rezept. Und das widerspricht ja eigentlich der Theorie des Differenziellen Lernens. Es war auch ein Ansatz gleich von Anfang an, dass ich gar nicht so viel publizieren wollte, weil ich erstmal die Leserschaft dazu anregen wollte, wieder mehr zu experimentieren. Und nicht nur irgendwas blind zu übernehmen, was in irgendwelchen Büchern steht.

Und da war auch ein schöner Spruch von mir, den ich übernommen habe von Schopenhauer: „Wer viel liest, lernt nur mit anderen Köpfen zu denken.“ Also denk bitte erst selbst nach, bevor du liest. Und nur, wenn es gar nicht mehr geht, dann schaue nach etwas anderem. Einige haben dies dann missbraucht und das Differenzielle Lernen irgendwie völlig schief interpretiert. Das war der Grund, warum wir dann anfingen, wieder etwas zu veröffentlichen.

Also prinzipiell: ich weiß es nicht, wie viel Variation notwendig ist. Allerdings besagt ein Teil der Theorie, dass man die beobachtenden Schwankungen langsam anfangen soll.

Weniger ist mehr

Und eigentlich war schon ein Ansatz des differenziellen Lernens, dass man nicht die gleiche Menge variabel trainiert, sondern dass man den Umfang des Übens massiv reduzieren kann. Und das sehen wir inzwischen auch bei Studien im Sport: Probanden wurden über zwei Monaten zu zwei Stunden mehr Schlaf gezwungen. Die Vergleichsgruppe trainierte in diesen zwei Stunden. Sie können sich vorstellen, was rauskam? Diejenigen mit mehr Schlaf haben die Leistungsfortschritte gemacht und nicht die, die trainiert haben in der Zeit.

Und das wissen wir auch aus anderen Studien. Kinder, die in der Grundschule täglich eine Stunde Sport hatten, zulasten von Deutsch, Mathe etc., sind in Mathe und Deutsch besser geworden als die anderen, die keinen täglichen Sport hatten.

Jetzt kam ich halt auch aus dem Mehrkampf, wo es ganz wichtig war zu ökonomisieren. Ich kann nicht jeden Tag einen Zehnkampf machen. Wenn ich eine Variation zum richtigen Zeitpunkt bringe, dann muss ich gar nicht mehr so viel üben.

Und das ist genau, was kleine Kinder schon spüren. Wenn es zu viel wird, schlafen sie wieder. Deswegen schlafen Kinder so viel – bis zu 16 Stunden. Das ist die Basis des Lernens. Es ist nicht das Aktive. Nein, sehr häufig ist das blinder Aktionismus.

Auswirkung von Mittagsschlaf auf den Lerneffekt

Und das zeigen auch andere Studien. Mittagsschlaf, wenig populär in Deutschland, hat große, positive Auswirkungen für anschließende Dinge.

Und was man sogar inzwischen beobachtet hat: Wir untersuchen das gerade parallel in einer großen mediterranen Ernährungsstudie von meinem Kollegen Dr. Ammar. Eine der Ursprünge der mediterranen Ernährung kam aus Kreta. Viel Olivenöl etc. Jetzt hat man das Ganze wiederholt und hat aber drauf geachtet, wer denn einen Mittagsschlaf macht. Und wenn man den rausnimmt, dann gibt es keine Vorteile mehr. Das heißt, die ganzen Effekte gingen auf den Mittagsschlaf zurück.

Also, noch mal ganz zurück zum Differenziellen Lernen. Ich würde sagen, wer es ausprobiert, soll wirklich mal eine gewisse Zeit lang probieren, soll experimentieren. Mal gucken, wie der Körper darauf reagiert.

Es ist ein großes Problem, dass wir so lange Zeit eingetrichtert bekommen haben, dass man unter 10.000 Wiederholung nicht auf die Landesmeisterschaften kommt; unter 2 Millionen Wiederholungen nicht zu Olympia. Das kenne ich aus der Musik auch: du musst 10 Stunden üben am Tag. Ich bezweifle das. Also ich glaube, wenn man es entsprechend variabel gestaltet, dass mindestens kleine Effekte rauskommen.

Oder, was wir eingangs schon besprochen haben, einfach mal andere Möbel drumherum probieren oder nur auf unebenem Grund mal zu trainieren. Da sehen wir schon Rieseneffekte in Bezug auf unsere Konzentration. Also für mich gilt es eigentlich, die Kleinigkeiten zu finden, die dann Riesenauswirkungen haben.

Diese Schlafstudie gibt es auch in der Musik von Eckart Altenmüller, wenn mich nicht alles täuscht.

Ja, würde ich ihm zutrauen. Er war auch bei unserem ersten Treffen vor zirka 15 Jahren dem Differentiellen Lernen gegenüber sehr aufgeschlossen.

Die Rolle des Lehrers im Differenziellen Lernen

Wie verändert sich denn die Rolle des Lehrers im Differenziellen Lernen? Denn der Fehler im klassischen Sinn, die gibt es ja nicht mehr. Das sind alles Schwankungen, bzw. Sie sagen Rauschen dazu. Aber wie geht man damit um als Pädagoge?

Das ist schwer, wenn man aus der alten Schule kommt.

Als Trainer bin ich nicht nur für die Ausführung des Sports zuständig, sondern für die Persönlichkeitsentwicklung. Bei mir in der Gruppe mit 20 Athleten war immer auch Austausch darüber, wie es in der Schule und privat läuft. Und die Persönlichkeitsentwicklung schließt für mich ein, auch im Sport zu lernen Verantwortung zu übernehmen.

Am Anfang gab ich viele Instruktionen, um ihnen auch klarzumachen, dass etwas anderes möglich ist. Sie kamen ja alle aus der klassischen Schule. Ich habe ihnen dann oft eine Variante gezeigt und sie aufgefordert selbst drei weitere Varianten zu entwickeln. So wurde es interaktiv. Das ist ein bekannter Lehrstil in der Pädagogik.

Ich endete oft in meinen Vorträgen mit der Frage, was die Take-Home-Message sei. Die Antwort darauf: Nichts, weil ihr wusstet alles schon.

Das Ziel ist nur, die Hindernisse und die Blockaden, die euch antrainiert wurden wegzukriegen. Das Verhalten, was ihr zeigt, war gut gewesen um als Kinder zu „überleben“. Aber jetzt erkennt es und fangt an daran zu arbeiten, um davon wegzukommen.

Outro

Ich hätte, ähnlich wie am Anfang, zwei Fragen für den Abschluss: Was lernen oder üben Sie gerade, was Sie noch nicht so gut können?

Ich bin am Lernen von Spanisch. Ich bin am überlegen, ob ich Kajakfahren noch lerne.

Ich probiere ständig neue Koordinationsübungen aus und bin jetzt aber gerade dran, den Einfluss von Erd-Magnetfeldern auf unser Gehirn mir anzugucken. Es zeigt sich, dass das einen wesentlich größeren Einfluss hat, als wir glauben, weil wir keine Sensoren dafür haben, die Efffekte sind aber vorhanden. Zudem stellt es unmittelbar die Verbindung zur Astrologie her. Da steckt verdammt viel Wissen drin, was einfach aus Ignoranz und Arroganz quasi unter den Tisch fällt. Also man kann da viel davon lernen.

Ja, das ist ein sehr spannender Punkt, den ich auch schon in der Vorbereitung gehört habe. Also wenn es da was Neues gibt, dann bin ich sehr neugierig.

Und wenn Sie jetzt in Ihre eigene Studierendenzeit zurückblicken, hätten Sie einen Tipp für jüngeres Ich aus heutiger Perspektive, um den Sie damals froh gewesen wären?

Nein, das ist vorbei. Es widerspricht auch dem „Im Moment sein“. Ich habe immer mein Bestes probiert, mehr ging nicht. Also was soll ich da ändern? Studien zeigen auch, dass man fast nur Dinge bereut, die man nicht gemacht hat. Ich habe viel ausprobiert.

Und dann jemandem Empfehlung zu geben? Nein, das mache ich nicht. Ich kann erzählen, was ich mache und gemacht habe, und dann kann jeder für sich entscheiden, ob er es nimmt oder nicht.

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Sport und Musik https://what-is-practice.de/sport-und-musik/ https://what-is-practice.de/sport-und-musik/#respond Fri, 07 Jun 2024 09:38:41 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6542 Was können Musikerinnen und Musiker von Sportler*innen lernen? Gerade im Sport sind effektive und moderne Trainingsmethoden sowie Techniken zur mentalen Gesundheit und dem mentalen Training längst angekommen – ein schönes Beispiel wie verankert das Thema mentale Gesundheit bspw. ist, war für mich die Doku „Heimvorteil mit Tommi Schmitt“, die jüngst im ZDF lief. Alle 3… Weiterlesen »Sport und Musik

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Was können Musikerinnen und Musiker von Sportler*innen lernen?

Gerade im Sport sind effektive und moderne Trainingsmethoden sowie Techniken zur mentalen Gesundheit und dem mentalen Training längst angekommen – ein schönes Beispiel wie verankert das Thema mentale Gesundheit bspw. ist, war für mich die Doku „Heimvorteil mit Tommi Schmitt“, die jüngst im ZDF lief. Alle 3 Profi Fußballer sprachen offen und selbstverständlich über das Thema mentale Gesundheit. In der letzten Folge „Wie übt eigentlich..?“ durfte ich Sebastian Scholz (Professor für Musizierendengesundheit in Lübeck) nach Tipps für Musikerinnen und Musiker in diesem Bereich befragen. 

Mentales Üben gibt es in der Musik bereits seit den 1940er Jahren

Und auch wenn mentales Üben und mentales Training in der Musik schon lange bekannt sind (erste wissenschaftliche Untersuchungen fanden hierzu bereits 1941 statt), finden sie nur schwer flächendeckend Einzug. Da kann der Sport Vorbild sein. Wir haben uns daher in dieser Folge angeschaut, wie ein Übertrag von Trainingsplänen und Strukturen aus dem Sport gelingen kann und was es dabei zu beachten gilt. Wie selbstbestimmt sind solche Pläne?

Gemeinsam mit dem NMZ Podcast „Laut und leise“ haben wir uns 3 Expert*innen zu diesem Thema eingeladen: Kim Bui ehemalige Profi-Turner, Tanja Becker-Bender – Professorin für Violine in Hamburg sowie Hauke Siewertsen – Sportpsychologe und Cellist.

Podcast-Folge anhören

Die Sonderfolge zum Thema Sport und Musik lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

Spotify

Apple Podcast

Den anderen Teil der Folge hört ihr…

… im Podcast „Laut & Leise“ der Neuen Musikzeitung (NMZ). Den Link dazu findet ihr hier:

Literatur, Doku- & Podcast Empfehlungen

Erkenntnisse aus den Sportwissenschaften in die Musik zu übertragen ist kein Trend der letzten Jahre. Erste Artikel darüber haben ich bereits in der Zeitschrift Üben & Musizieren aus dem Jahr 2006 gefunden. Dort wurde sogar berichtet, dass es sogar in den 1980er vereinzelte Professoren gab, die sportwissenschaftliche Lehren in ihren Unterrichten einbrachten.

Ein paar der Entdeckungen während der Recherchen möchte ich hier für euch zusammenstellen:

Anwendungen in den Musikhochschulen

Differenzielles Üben in der Musik

Die Musikhochschule Dresden hat eine sehr aufschlussreiche, vierteilige Reihe zum Thema „Differenzielles Üben“ produziert. Diese Lernmethode (ganz vereinfacht gesagt versucht man hier mit jeder neuen Wiederholung neue Reize zu setzen – à la „lernen an Unterschieden“) kommt direkt aus dem Sport und wird von zahlreichen Profimannschaften z.B. in der Bundesliga angewandt.

Das Zentrum für Berufsmusiker

Das Zentrum für Berufsmusiker unterstützt und berät seit mehr als 30 Jahren Musikerinnen und Musiker. Vor zwei Jahren veranstaltet es ein sehr interessantes Symposium zum Thema „Mentale Stärke im Leistungssport und in der Leistungsmusik“. Ein Nachbericht findet sich weiterhin auf YouTube

Die Themen Mentale Gesundheit sowie Mentales Training/Üben in der Musik durfte ich kürzlich auch mit zwei sehr interessanten Gästen in meinem Podcast „Wie übt eigentlich..?“ besprechen. Beides lässt sich auf allen bekannten Streaming-Plattformen weiterhin nachhören.

Sport-Podcasts

Eine unserer Expert:innen, Turnerin Kim Bui, erzählte im Podcast, dass es fester Bestandteil ihrer Trainingsroutine war ein „Überpotential“ zu schaffen. Damit meinte sie, dass sie sich in der Lage fühlen wollte auch unter schwierigeren Wettkampfumständen die Höchstleistung aus dem Training abzurufen.

Interessanterweise erzählte Tennisspielerin Andrea Petkovic kürzlich im Podcast „Schlag und fertig“ etwas ähnliches. Für alle Fußballfans bzw. Fans der Tennisspielerin ist diese Folge auch unabhängig davon sehr hörenswert.

Rastergrafik

Trainingspläne zum Üben – geht das?

Übeplan-Vorlage für dein Instrument

Erstelle deinen persönlichen Übeplan

Die größte Herausforderung beim Üben ist es, sich auf bestimmte Aspekte zu fokussieren. Diese sinnvoll auszuwählen ist nicht immer leicht. Genau dabei hilft dir die what is practice Übeplan-Vorlage.

  • Definiere deine Ziele
  • Coaching-Tool zum Visualisieren deiner Stärken und Schwächen
  • Auswertungs-Vorlage, die dich beim Erreichen deiner Ziele unterstützt
  • Übe-Tipps

Empfehlungen

45 Sekunden

Kim Bui

„Turnen ist für die dreimalige Olympiateilnehmerin Kim Bui die schönste Sportart der Welt, ihre Karriere war aber auch mit vielen Tränen, Schmerzen und Entbehrungen verbunden. So litt sie jahrelang unter Bulimie, um das geforderte Wettkampfgewicht halten zu können. 

Die ehemalige deutsche Athletensprecherin beschreibt in ihrem Buch eindringlich, welchen Willen und welcher Leidenschaft es bedarf, um Tag für Tag stundenlang für einen Wettkampf zu trainieren, der nur 45 Sekunden dauert. Was es bedeutet, als olympische Spitzenathletin in bescheidenen wirtschaftlichen Bedingungen zu leben und sich parallel um eine Berufsausbildung zu kümmern. Dabei setzt sie sich auch kritisch mit den Schattenseiten des Turnsports und hochsensiblen Themen wie Sexualisierung, Essstörungen, seelischem Missbrauch und Zukunftsängsten auseinander. Sie legt Wunden offen, ohne verletzend zu sein. Ihr Buch ist ein zutiefst menschlicher Appell an die Gesellschaft, sportliche Leistung auch jenseits der olympischen Medaillenränge wertzuschätzen.“

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Mentale Gesundheit in der Musik https://what-is-practice.de/mentale-gesundheit-in-der-musik/ https://what-is-practice.de/mentale-gesundheit-in-der-musik/#respond Mon, 03 Jun 2024 08:53:44 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6524 Dr. Daniel Scholz ist Professor für Musizierendengesundheit an der Hochschule in Lübeck. Als Neurowissenschaftler, Diplom-Psychologe, Verhaltenstherapeut studierte er zudem auch Jazz Komposition und arbeitet weiter als Musiker. Die Besonderheit seiner Stelle: ganz explizit fokussiert er sich auch auf die mentale Gesundheit von Musikerinnen und Musikern. Ich habe mit ihm über konkrete Techniken zur Prävention von… Weiterlesen »Mentale Gesundheit in der Musik

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Dr. Daniel Scholz ist Professor für Musizierendengesundheit an der Hochschule in Lübeck. Als Neurowissenschaftler, Diplom-Psychologe, Verhaltenstherapeut studierte er zudem auch Jazz Komposition und arbeitet weiter als Musiker. Die Besonderheit seiner Stelle: ganz explizit fokussiert er sich auch auf die mentale Gesundheit von Musikerinnen und Musikern.

Ich habe mit ihm über konkrete Techniken zur Prävention von mentalen Problemen in unserem Beruf gesprochen. Natürlich durften Methoden zum Umgang mit Auftrittsangst und Lampenfieber ebenso wenig fehlen wie Tools zur Selbstorganisation.

Dr. Daniel Scholz - Professor für Musizierendengesundheit
Prof. Dr. Daniel Sebastian Scholz (Foto: © Laura Hinz)

Wichtige Organisationen

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Daniel Scholz lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview

Inhalt

Dass ich mit einem Interviewpartner mich zweimal treffe, ist tatsächlich jetzt in knapp 30 Folgen eine Premiere für mich. Entsprechend bin ich ein bisschen nervös.

Als ich im Vorfeld drüber nachgedacht habe, kam mir der Vergleich in den Sinn, dass unsere Situation jetzt ja so ähnlich ist, wie eine Auftrittssituation beziehungsweise eine „Minitour“ mit zwei Terminen. Wir haben uns für den ersten Termin vorbereitet. Es kam, zumindest für mich, zu einem guten Ergebnis und ich war sehr zufrieden. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an den Termin heute. Was wäre denn ein Tipp, den Sie mir mitgeben könnten, damit ich aus unserem Gespräch auf jeden Fall zufrieden rausgehe und nicht enttäuscht wäre, dass die erste Version aus technischen Gründen doch nicht funktioniert hat?

Da gibt es zwei Aspekte: Zum einen müssen Sie drüber nachdenken: Wie häufig müssen Sie ein Programm spielen, damit das wirklich gut wird? Sind zwei Termine ausreichend?  Die Antwort wäre wahrscheinlich nein. Sie müssten das auf jeden Fall, ich würde sagen, fünf bis zehn Mal spielen, bis so ein Programm wirklich gut wird.

Das ist auch etwas, woran zum Beispiel die Musikhochschulen total kranken. Wir haben ein Programm, erarbeitet und spielen das vielleicht ein- bis zweimal live. Es kann dann noch gar nicht gut sein, weil die Fallen und die Situationen, wenn es tatsächlich live ist, verändern sich. Sie fliegen im Zweifelsfall an anderen Stellen raus, als in der Vorführung davor und in ganz anderen Stellen, als zum Beispiel im Proberaum.

Und dann würde ich einen Baustein aus der Acceptance and Commitment Therapy empfehlen. Also man muss das akzeptieren, was man nicht ändern kann und deshalb einfach hinnehmen und sich dessen bewusstwerden. Jede Aufnahme und jeder Auftritt ist immer nur eine Momentaufnahme. Das ist das, was in diesem Moment möglich war.

Wenn man so möchte, haben wir da jetzt schon so eine kleine Lektion in „Resilienz“ erfahren. Sie hatten beim letzten Mal das schöne Zitat von Eckert Altenmüller erwähnt: „Im intergalaktischen Zusammenhang ist unser Fauxpas eigentlich bedeutungslos“. Von daher würde ich sagen, starten wir direkt rein und fangen noch mal mit unseren „Entweder-oder-Fragen“ an.       

Entweder-Oder-Fragen

Jimmy Hendrix oder Francisco Tarrega?

Schwierig. Francisco Tarrega war die erste Prägung an der klassischen Gitarre. Später hat auf auf jeden Fall Jimmy Hendrix übernommen. Ich habe hier sogar im Büro eine Jimmy Hendrix-esk bemalte Gitarre stehen, auf die besagte Eckart Altenmüller auch immer in Auge geworfen hat.

Ab 15, 16 Jahren hat Jimi Hendrix von Francisco Tarrega übernommen. Aber ich muss natürlich sagen, Tarrega ist im Zweifelsfall der Urvater.

Selten und viel oder immer und wenig?

Immer und wenig.

Wie wichtig würden Sie sagen, sind freie Tage für Musiker:innen in der Woche? Es ja typisch, vor allem in der Freiberuflichkeit irgendwann, dass man sich diesen berühmten freien Samstag/freien Sonntag nur ganz selten gönnt oder auch nur gönnen kann, weil Konzerte anstehen.

Extrem wichtig. Ich versuche das auch, allen Studierenden einzubläuen, dass sie ihr Zeitmanagement so hinkriegen müssen, dass es einen freien Tag gibt. Das muss ja nicht Samstag oder Sonntag sein. Es kann auch unter der Woche sein, so wie der Friseur z.B. den frei macht. Es muss auf jeden Fall ein Ausgleich und ein gewisser Abstand zum Instrument geschaffen werden. Das ist ein extrem wichtiger Baustein für Konsolidierung, also Verfestigung von Gedächtnisspuren.

Social Media oder Social Media Detox?

Lieber Social Media Detox.

Sie sind ja selber auch gar nicht aktiv auf Social Media. Wie beobachten Sie den Einfluss von Social Media insgesamt auf Studierende? Als Musikschaffender ist man in dieser besonderen Situation, dass eigentlich die Mitstudierenden, die Mitmusiker, immer auch Konkurrentinnen und Konkurrenten sind. Insofern kommt man fast gar nicht mehr ohne ein aktives Social-Media-Profil, ein aktives Verkaufen aus. Trotzdem geht damit immer auch ein andauerndes Vergleichen und Bewerten einher. Was raten Sie da Studierenden, wie man damit einen gelassenen Umgang findet – gleichzeitig aber auch in dem Wissen, man muss es ja heute irgendwie auch anbieten?

Ja, ich denke auch, dass man es heute leider anbieten muss. Außer man arbeitet in so einer ganz klaren Nischenbranche, wo es noch auf Zuruf und auf direkten Kontakt mit Leuten geht. Aber auch viele Freunde von mir beziehen hauptsächlich ihre Auftritte über Social-Media-Anfragen. Also ich fürchte, man muss es machen. Und dann ist der wichtige Baustein oder der wichtige Weg, dass man sich darüber klar wird, dass das ist ein Teil des Jobs ist und nicht ein Teil des Selbst. Und das ist leider genauso. Es ist so: Als Musiker müssen Sie einen Bauchladen haben, in dem Sie unterschiedliche Fähigkeiten anbieten und da gehört eben das Selbstmanagement und die Vermarktung auch dazu. Also ich würde allen wünschen, dass sie eher ein Management oder eine Booking-Agentur oder irgendjemand haben, der sie nach außen verkauft, aber das ist den wenigsten vergönnt.

Das stimmt. Tübingen oder Lübeck?

Heutzutage lieber Lübeck.

Wir kommen schon zur letzten „Entweder oder-Frage“: Musiker, Komponist oder Professor für Musizierenden Gesundheit?

Auch heutzutage eher Professor für Musizierenden-Gesundheit, wobei ich auch immer versuche, die Musik-und die Kompositionsaktivitäten aufrechtzuerhalten. Das wechselt immer ein bisschen in der Intensität. Auf der anderen Seite ist es so, dass ich ein gutes Basiseinkommen habe und ich jetzt nur noch Musik mache, auf die ich Lust habe. Das heißt, ich kann eigentlich freier und entspannter Musik machen.

Absolut. Was sich wahrscheinlich auch sehr gut auf die mentale Gesundheit am Ende auszahlt. Sie sind seit dem Wintersemester 2022/2023 Professor für Musizierendengesundheit in Lübeck. Da gibt es erstmals deutschlandweit den Schwerpunkt, dass besonders auf die mentale Gesundheit geschaut wird. Jetzt sind seit 2022/2023 knapp vier Semester vergangen. Würden Sie sagen, dass Sie einen offeneren Umgang mit mentalen Problemen, mentaler Gesundheit allgemein im Kosmos der Hochschule Lübeck feststellen? Oder ist es dafür noch zu früh, für so eine Art Wandel?

Einen absoluten Wandel, denke ich, kann man noch nicht sehen. Dafür ist es noch zu früh. Aber insgesamt würde ich schon sagen, dass es vor allem seit Corona gesamtgesellschaftlich eine größere Offenheit gegenüber Themen der mentalen Gesundheit oder eben auch mentaler Belastung gibt. Und dann muss ich sagen, insgesamt sind die Studierenden an der Musikhochschule in Lübeck sehr offen und sehr interessiert, was mentale Gesundheitsangebote angeht.

Man kennt es aus dem Pop-Bereich eigentlich schon ein bisschen länger, dass sich immer wieder berühmte Musikerinnen und Musikern zu mentalen Problemen öffentlich bekennen dieses Enttabuisieren, was Sie auch gerade angesprochen haben, fördern. Ich habe jüngst in der Vorbereitung, ein Arte -Tracks-Format mit Franziska Lauter vom MIM-Verband entdeckt. Und natürlich ist diese Vorbildfunktion von solchen privilegierten Musikerinnen und Musikern auf gar keinen Fall hoch genug zu bewerten. Allerdings, es klang vorher schon ganz an, dass die Situation natürlich nicht eins zu eins vergleichbar ist mit einem Freelance-Musiker im klassischen oder im Jazz-Bereich. Würden Sie sagen, dass es trotzdem auch in der Klassik oder im Jazz-Bereich vermehrt Trends gibt, sich zu öffnen? Oder ist das immer noch, vor allem in Orchestern, eher weiter ein Tabuthema?

Also es ist schon noch ein Tabuthema, aber nicht mehr so, wie in den 70er Jahren. Ich denke, da hat auch die Gesamtgesellschaft einen Einfluss drauf. Wir dürfen hier auch ein Seminar anbieten zum guten Umgang mit Lampenfieber. Das war auch explizit gewünscht, als ich hier angefangen habe.

Jetzt würde ich aber auch sagen, genauso wie Sie es ja gerade schon umrissen haben, diese Situation, das heißt in der Fachwelt, celebrity musicians, die bekannt sind und eine ganz andere Infrastruktur haben, die ist nicht übertragbar auf den Großteil der Freelance Musicians. Sie führen ein ganz anderes Leben, nämlich das mit dem Bauchladen: Ich unterrichte ein bisschen, dann habe ich noch meine Auftritte, vielleicht komponiere ich noch oder vielleicht mache ich noch Marketing oder Social Media für irgendjemand. Oder ich mache, was ich ganz häufig sehe bei Musikkollegen, noch Fotografie. Oder ich mache einen Podcast.

Das heißt, Sie müssen relativ breit aufgestellt sein. Und da kommen dann natürlich andere Schwierigkeiten. Wenn ich die finanzielle Grundversorgung nicht habe, kann ich mich auch gern zu meinem mentalen Gesundheitsproblem bekennen. Aber wie soll ich das stemmen, wenn ich, sage ich mal ganz harsch, nichts zu essen habe oder die Miete nicht bezahlen kann? Also dann bin ich zurückgeworfen auf die Künstlersozialkasse und muss irgendwie gucken, dass ich da wieder rauskomme. Oder ich muss vielleicht schauen, dass ich einen anderen Job finde, der meine Miete bezahlen kann.

Warnsignale und Prävention zur mentalen Gesundheit von Musiker:innen

Lassen Sie uns gerne mal einen Schritt zurückgehen und vielleicht, bevor wir uns über das Äußern von mentalen Problemen unterhalten, noch auf typische Warnsignale und Präventionsmerkmale eingehen. Können Sie ein paar typische Warnsignale skizzieren, die sich in Bezug auf mentale Gesundheit, immer wiederholen und die man als Musikerin und Musiker im Auge haben sollte?

Das sind die typischen gesellschaftlichen Warnsignale im Psychologie-, Psychotherapie-Bereich:

Wenn Sie jetzt dauerhaft Schlafstörungen haben, wenn Sie merken, dass das Beruhigungsbier am Abend nicht bei einem, sondern eher bei fünf Bieren bleibt. Oder der Joint. Wenn Sie merken, dass Sie Ihren Schlaf-und Wachrhythmus nicht mehr hinkriegen, oder Sie haben massive Antriebsschwierigkeiten. Das heißt, Sie kommen nicht mehr aus dem Bett, Sie liegen auf der Couch, Sie schlafen ganz arg viel oder sie schlafen ganz arg wenig. Das sind so die Warnsignale, die man kennt. Panikattacken – Wenn Leute noch zu sehr starken Reaktionen neigen, mit sehr häufigen Weinen oder Davonlaufen aus Situationen oder einem Erstarren. Das sind so die üblichen Warnsignale.

Und lässt sich da vorbeugend irgendwas machen?

Zum Beispiel einen Tag frei die Woche. Im Ernst, das ist ganz arg wichtig. Und da zu gucken, wie halte ich das mit meiner Schlafhygiene? Wie viel kann ich realistischerweise üben oder an meinen Projekten arbeiten pro Tag? Schaffe ich es, irgendwie noch einen Ausgleich zu finden? Habe ich noch genug Kontakt mit Freunden, Bekannten, Verwandten? Und schaffe ich es auch noch, vielleicht Sport zu machen oder so was? Sie brauchen Ausgleich und Sie brauchen Abstand auch von dem MusikerInnen-Dasein.

Tipps zur Selbstwirksamkeit

Auf diesen Ausgleich würde ich gleich noch mal gerne ein bisschen konkreter eingehen. Ich finde, wir hatten es ja ganz am Anfang schon so leicht spaßeshalber angedeutet, dass wir so eine kleine Lektion in Resilienz hatten. Und wenn man Resilienz sagt, dann weiß eigentlich jeder seit Corona auch, dass Selbstwirksamkeit damit immer einhergeht. Und ich finde, gerade als Musiker:in ist Selbstwirksamkeit ja sehr schwierig. Neue Dinge manifestieren sich in unserem Spiel, in unserer Karriere erst sehr spät. Wenn ich heute ein neues Programm übe, heißt das ja nicht, dass ich es heute Abend auch sofort kann. Das heißt, Selbstwirksamkeit als Musiker, das Erfahren von „Ich mache was und es verbessert sich“ ist eher ein langfristiger Prozess. Wie schafft man denn es als Musiker, Musikerin, diese Selbstwirksamkeit für sich erfahrbar zu machen?

Durch ein Tracking: Was habe ich mir vorgenommen? Was habe ich davon geschafft? Dass Sie wirklich auch relativ kleinteilige Tagespläne schreiben. Und da gehören dann auch schon wirklich ganz alltägliche Sachen dazu, wie:

  • Ich wollte die Saiten auf meiner Gitarre wechseln
  • Ich wollte mich um neue Blätter kümmern oder ein neues Mundstück oder so was.

Und dass Sie zum einen wirklich etwas zum Abhaken haben und dass Sie nicht das große Ganze aus dem Blick verlieren. Musikerinnen und Musiker bringen eine extreme Frustrationstoleranz mit, sonst könnten sie nicht ihr Instrument spielen. Aber natürlich ist es häufig so, dass sie ein bisschen aus dem Blick verlieren, was sie eigentlich an dem Tag geschafft haben und, ob sie etwas geschafft haben.

Und dann, ganz wichtig, ein Ressourcentagebuch, wo sie sich aufschreiben, was Sie gut gemacht haben und was Sie gut geschafft haben. Sodass Sie an Tagen, an denen es Ihnen schlechter geht, oder an denen Sie nicht so zuversichtlich sind, Sie nachschauen können und sagen können: „Hey, ich kann bestimmte Sachen gut, oder bestimmte Leute haben was Positives zu mir gesagt oder haben gesagt, dass sie was beeindruckt.

Das heißt, Sie führen im Grunde eigentlich zwei Tagebücher, wenn man so möchte. Einen To-Do-Block, wo Sie anstehende Aufgaben aufschreiben. Das geht quasi auf das Konto Selbstwirksamkeit. Und dann haben Sie ein zweites Büchlein, das Ressourcentagebuch, wo nur positive Sachen drinstehen.

So würde ich das empfehlen. Im Ressourcentagebuch stehen nur positive Sachen drin, weil wir die sonst aus dem Auge verlieren und vergessen. Defizite bleiben uns automatisch im Gedächtnis. Deshalb brauchen Sie sie eigentlich gar nicht aufzuschreiben.

Ausgleich als Musiker:in finden

Wir den Selbstwert als Musiker angesprochen und, dass man es versuchen sollte andere Hobbys zu haben, Sport machen oder sich mit Freunden zu verabreden. Das finde ich nämlich eine interessante Beobachtung –gar nicht nur an mir, aber auch in meinem Umfeld –, dass Musikerinnen und Musiker natürlich sehr stark geneigt sind, ihren Selbstwert an musikalische Erfolge zu koppeln. Sprich: das Konzert lief gut, es geht einem gut. Es geht sogar so weit, dass wenn man einen guten Übetag hat, dass das Umfeld das feststellt und man gute Laune hat. Entsprechend aber auch andersrum. Was sind gute Techniken, um das zu trennen? Also wie schaffe ich es denn, meinen Selbstwert nicht mit meinem musikalischen Erfolg zu koppeln?

Ja, das ist eine wichtige Aufgabe und ich denke, die ist auch ganz essenziell. Es ist wichtig, dass Sie es schaffen, sich darüber klarzuwerden, dass Sie nicht ihr Instrument sind. Sie sind jetzt nicht nur ein Trompeter oder eine Trompete, sondern Sie sind Podcaster, Sie sind ein liebevoller, fürsorglicher Katzenvater und ein toller Partner und so weiter. Also dass man sich diese ganzen Sachen wirklich bewusst macht. Und da ist auch noch mal ein anderer Aspekt: Ich denke, es ist sehr wichtig für Musikerinnen und Musiker, auch Freunde zu haben, die nicht Musiker sind. Weil sonst laufen die ganze Zeit Vergleichsprozesse unterschwellig ab.

Das heißt, das müssen Sie wirklich versuchen zu trennen und zu sehen, was Sie eben noch alles andere können und, dass Sie in erster Linie mal ein Mensch sind, und nach Carl Rogers ein bedingungslos liebenswerter Mensch. Tollerweise spielen auch noch ein Instrument oder singen. Aber das ist nur eine Kirsche auf dem Sahnehäubchen und nicht das Fundament.

Und weil Sie gerade die Vergleichung mit Kollegen noch mal angesprochen hatten: ich glaube, in unserer ersten Version des Interviews hatten Sie das mit dem Begriff „Prozessorientierung“ zusammengefasst. Wenn man sich vergleicht, dann nur mit früheren Versionen von einem selbst und nicht mit anderen Kollegen und Kolleginnen, die andere Gegebenheiten und auch vielleicht andere Umstände haben, in denen sie arbeiten und wirken.

Genau, da haben Sie recht. Also weg von so einer Produktnorm – das ist das Ergebnis, das sind meine Klicks auf YouTube oder im Podcast-Format. Sondern hin zu, wie Sie sagen, dem Prozess: Wie habe ich das früher gemacht? Wie habe ich mich individuell weiterentwickelt? Und auch gar nicht unbedingt so sehr auf dieses eine Stück, sondern mehr: Was habe ich für Mechanismen gelernt? Wie kann ich mit Sachen besser umgehen? Und das kann dann auch sein, dass ich selbstfürsorglicher mit mir umgehe, dass ich es inzwischen besser schaffe, meinen freien Tag die Woche einzuhalten oder, dass ich es besser schaffe, Feierabend zu machen usw.

Zusammenhang Depression und Auftrittsangst

Ich bin in der Vorbereitung auf eine sehr spannende Studie von Ihnen gestoßen, unter anderem auch gemeinsam mit Eckert Altenmüller, wo es den Zusammenhang zwischen geringem Selbstbewusstsein, Depression und Auftrittsangst geht. Sie haben herausgefunden, dass es einen entscheidenden Zusammenhang zwischen geringem Selbstbewusstsein in Kombination mit Auftrittsangst gibt, die zu einer Depression führen kann. Auf die Gefahr hin wahrscheinlich, dass Sie die gleichen Techniken gleich wieder erzählen, aber ich finde es trotzdem sehr spannend: Wie kann man dem vorbeugen? Beziehungsweise, wenn man merkt, ich steuere vielleicht auf so was zu, oder ich bin vielleicht schon in so einer depressiven Episode, wie komme ich denn da wieder raus? Oder schafft man das überhaupt alleine wieder da rauszukommen?

Also wenn ich in einer wirklichen Depression drin bin (wenn das nicht nur eine leichte depressive Phase ist – aber das kann man natürlich nur schwer einschätzen als Nichtfachperson) dann muss ich mir professionelle Hilfe suchen. Und bis dahin: Ressourcentagebuch.

Was Christine Sickert – das ist meine Doktorandin, die diese Arbeit verfasst hat, gesehen hat – ist, dass eben der zu geringe Selbstwert in Kombination mit der Auftrittsangst zu der depressiven Phase führt. Vielleicht auch noch mal ein anderer Aspekt, dass zum Beispiel diese Auftrittsangst, nicht immer eine Auftrittsangst sein muss, sondern es kann auch „nur“ Lampenfieber sein. Also das heißt, wie man das Ganze framed, wie man das Ganze für sich bewertet ist entscheidend.

Das heißt, dieser ganze Reflexionsprozesse und auch dieses Bewusstsein „Ich bin nicht nur Musiker, sondern auch andere Dinge, das ist wahrscheinlich in unserer heutigen Zeit mitunter die wichtigste Kompetenz, die Musikerinnen und Musiker mit bringen sollte –  abseits natürlich von fachlichem Können, um ein möglichst langes, mental gesundes und auch dann auch körperlich gesundes Berufsleben führen zu können, oder?

Ja, auf jeden Fall. Und da würde ich auch noch mal ein bisschen in ein Horn stoßen, dass diese Geschichte, von wegen „Ihr müsst alles auf eine Karte setzen und „Ihr müsst nur das wollen und so weiter, sonst könnt ihr es nicht schaffen“, dass das auf jeden Fall ein altes Märchen ist, was ich überhaupt nicht befeuern wollen würde. Sondern wir haben sehr viele Facetten und Musiker, Künstlerinnen sind in der Regel sehr offen und ziemlich vielseitig und wir sollten auch in der Ausbildung gucken, dass weitergehende Interessen gefördert. Und das kann auch sein, dass sie dann nebenher noch Psychologie oder Medizin studieren.

Alles auf eine Karte setzen

Dieses Mantra, dass man im besten Fall irgendwann alles auf eine Karte setzen muss, hält sich ja trotzdem hartnäckig. Ich habe jetzt gerade lustigerweise vor ein paar Tagen auf ein Interview aus einem Podcast mit Braxton Cook gestoßen. Das ist ein Saxophonist aus den USA. Und ich verkürze das Zitat ein bisschen, aber er meinte sinngemäß, dass man an irgendeinem Punkt in seiner musikalischen Karriere mal so richtig – er hat das obsessed sogar genannt („you have to be obsessed once“) sein muss. Einfach, um diesen musikalischen Erfolg zu generieren. Das widerspricht ja eigentlich diesem: „Wenn du Bock hast, noch Psychologie zu studieren oder Medizin zu machen, go for it“.

Am Ende, das ist ja auch so ein bisschen dieses Hochstapler-Syndrom, zumindest kenne ich das, dass man als Musiker, der viele Sachen parallel macht, ganz oft auch das Gefühl hat: „Ich mache das, das und das, aber eigentlich so wirklich können, tue ich von dem nichts so wirklich. Das spricht dann wieder eher für das Mantra, dass man sich an irgendeinen Punkten in seiner Karriere für eins entscheiden sollte, oder?

Aber realistisch gesehen ist es doch so, dass 95 bis 97% der Musikstudierenden Musikhochschul-oder Musikschullehrer werden. Das heißt, sie unterrichten, spielen sie noch Gigs und vielleicht machen sie noch etwas anderes. Das heißt, auch da sind sie schon mehrgleisig unterwegs. Instrumentallehrer, wenn sie von der Musikhochschule kommen, sind völlig überqualifiziert. Also ich sage jetzt mal, wenn Sie in Hannover Konzertexamen klassisches Klavier haben und dann an der Musikschule anfangen, dann machen Sie Hänschen klein mit 5-Jährigen und 7-Jährigen. Und Sie könnten aber eigentlich Klavierkonzerte spielen, überall auf der Welt, mit renommierten Orchester. Aber es gibt leider nicht so viele Stellen für die ganzen Pianist:innen. Das heißt, da gehört viel Glück dazu. Da gehört natürlich Fähigkeit dazu, aber auch Glück. Da gehört auch eine gute Management-Fähigkeit dazu – also auch von Außenstehenden, die Sie unterstützen und die Sie in die richtigen Bahnen lenken.

Und dann habe ich noch eine Anmerkung zu „you have to be obsessed once“. Das geht ja. Sie können sagen: „Okay, nach dem Studium werde ich wahrscheinlich nie wieder so viel Zeit haben, zu üben wie jetzt“. Später muss ich dann ganz andere Sachen machen. Und dann können Sie sich im Studium extrem ausgiebig ihrem Instrument und ihren Fähigkeiten widmen. Und da finde ich z. B. Charlie Parker, auch ein sehr berühmter Saxophonist, der gesagt hat: „Ja, Du musst alles üben und können. Und dann vergiss es und spiel einfach.“ Das heißt, es ist ja durchaus der Raum dafür, „to be obsessed“ zu sein. Die Frage ist nur, über welchen Zeitraum sich das streckt. Das kann ja auch immer wieder sein. Danach ist es die Aufgabe wieder zurückzukehren und zu sagen: „Okay, dieses Daily-Business muss halt auch irgendwie weitergehen. Und ich kann nicht komplett sagen: „Es interessiert mich jetzt alles nicht mehr. Steuererklärung brauche ich auch nicht machen. Ich brauche auch nichts zurückzulegen, weil ich bin Künstler und ich kann mich nur voll und ganz meinem Instrument widmen und, um alles andere müssen sich die anderen kümmern.“

Da habe ich auch ein Problem mit dieser Geschichte von 10 Jahre, 10.000 Stunden: „Ja, klar, üb einfach zehn Jahre lang 10.000 Stunden und dann wird es schon irgendwie laufen.“ Sie absolvieren die Musikhochschule, Sie machen ihren Bachelor oder Master oder sogar Konzertexamen – das Problem ist, da wird leider niemand kommen und sagen: „Hey, ich weiß, dass du so fleißig geübt hast. Du kannst das jetzt alles spielen. Ich habe einen Job für dich.“ Sondern das sind zwei unterschiedliche Aspekte.

Also es gibt die inhaltliche und das andere ist eher so eine Management-Geschichte. Also Selbstmanagement, was wir vorhin auch schon angesprochen hatten: Social Media, Selbstvermarktung. Irgendjemand muss wissen, dass ich was sehr gut kann, sonst werde ich keine Aufträge kriegen.

Das nennt sich in der Psychologie „Believe in a Just-World“-Hypothes. Also was die Musikstudierende häufig am Anfang vor allem noch glauben, ist: „Wenn ich nur so und so viel übe, dann gibt es einen gerechten Gott und danach kriege ich irgendeinen Job, weil ich irgendwas kann.“ Und das ist die fiese Desillusionierung.

Es gibt wahnsinnige wahnsinnig viele gute Musiker:innen da draußen und die Musikhochschulen bilden eigentlich zu viele Leute aus.

Wo Sie gerade das „Believe in a Just World“ angesprochen haben, da fiel mir sofort ein Zitat von Andrea Petkovic, der Tennensspielerin, ein. Sie hat auch ein Buch geschrieben und ich glaube, es war im Zusammenhang mit dem Buch, wo sie in einem Podcast mal von einer Meritokratie gesprochen hat, also diesem „You merit something“ („Das hast du dir verdient“ in diesem Sinne). Und diese 10.000 Stunden, 10 Jahre, das ist ja diese berühmte Ericson-Studie, wenn ich das richtig im Kopf habe. Die wurde auch in Teilen inzwischen wiederlegt, habe ich zumindest gelesen, oder?

Ja, auf jeden Fall. Und da muss man natürlich auch noch sehen, wir haben einen ganz klaren Bias, was die Auswahl von den Leuten angeht, die diese Interviews geben. Also in der Regel werden die Leute interviewt, die es geschafft haben und nicht irgendein zufälliger Mensch. Und dann erstens mal reproduzieren die ganz häufig die alten Geschichten, die sie selber so gehört haben von Leuten, die es geschafft haben. Und dann ist es auch noch so, dass das natürlich für die Selbstwirksamkeit derjenigen, die es geschafft haben, was auch immer das bedeuten mag, total gut ist, zu sagen: „Ja, das liegt daran, dass ich einfach so hart gearbeitet habe.“ Das ist völlig in Ordnung.

Ich finde, es ist ganz wichtig, dass Sie ihre Erfolge auf ihr Können und ihre Fähigkeiten attribuieren. Aber natürlich: wenn Sie sagen: „Hey, ich bin jetzt Solist der Berliner Philharmoniker, aber das hätten auch einige andere werden können.“ Das ist nicht so selbstwertdienlich, wie zu sagen: „Nein, das liegt daran, dass ich so hart gearbeitet habe.“

Das ist dann ein ganz schmaler Gerade, wenn wir wieder auf unser Ressourcentagebuch von eben schauen, sich selber ehrlich zu machen und das auch genauso aufzuschreiben

Auf jeden Fall. Es ist nur so, dass ich mir bei den Interviews mit celebrity artists wünschen würde, dass sie sich dessen bewusst sind, dass sie auch einen pädagogischen Impact haben.

Natürlich finde ich es wichtig, dass selbstwertdienliche Ereignisse auf die eigene Arbeit und auf die eigene Selbstwirksamkeit attribuiert werden. Nur die Frage ist, wie man das dann weitergibt. Also, ob man den Leuten auch sagt: „Okay, ich biete dir für dich eine Attribution, die dir hilft. Nämlich zum Beispiel, dass du das Probespiel nicht gewonnen hast, liegt sicher auch daran, dass jemand anders halt mehr Glück gehabt hat oder, dass du vielleicht an dem Tag einen schlechten Tag hattest.“ anstatt zu sagen: „Ja, du hast einfach nicht hart genug gearbeitet.

Lampenfieber

Ich würde gerne noch zum Abschluss einmal auf das Thema Lampenfieber zusprechen kommen. Sie bieten ja in Lübeck an der Hochschule ein eigenes Seminar dazu an. Sind Sie denn selber manchmal noch aufgeregt vor Konzerten, Interviewsituationen, wenn Sie Vorträge halten irgendwo?

Auf jeden Fall. Also es kommt auch immer drauf an, wie ich geübt habe. Ich habe zum Beispiel vor nicht allzu langer Zeit gemerkt, dass ich einen Fachvortrag auf Englisch halten musste über unterschiedliche Themen, in denen ich zum Teil nicht mehr so drin war, weil das Tagesgeschäft gerade was anderes ist. Und früher habe ich das ganz regelmäßig gemacht und da war das überhaupt kein Problem. Und jetzt merke ich zum Beispiel: Okay, ich bin gerade in einer anderen Thematik. Ich spreche in letzter Zeit häufig auf Deutsch und dann muss ich erst mal so ein bisschen suchen und merke, da geht die Nervosität hoch, weil ich mich nicht ganz so souverän fühle.

Und das andere ist auch auf jeden Fall: Ich hatte früher schon sehr oft ausgeprägt Lampenfieber, vor allem jetzt bei Francisco Tarreger. Das war nicht ohne und ich habe da auch einen Weg hingelegt.

Ich würde auch sagen, dass ich jetzt davon nicht frei bin. Das variiert. Häufig merke ich zum Beispiel erst hinterher, dass ich doch ganz schön aufgeregt gewesen bin und dann mache ich was dagegen. Oder ich sage mir hinterher: „Ja, ist doch okay. Also es war noch im Lampenfieber-Bereich – es war noch keine Auftrittsangst.

In Ihrem Seminar wird es so umgesetzt, dass Sie mit klassischen Expositionsübungen arbeiten. Das heißt, Studierende spielen sich einfach im Seminar gegenseitig vor. Kann man daraus schließen, dass viel Vorspielen gleich irgendwann weniger Auftrittsangst, weniger Lampenfieber?

Das ist das eine. Und dann, was noch ein ganz essentieller Baustein ist, dass Sie danach positive Selbstauslagen treffen müssen. Also Sie müssen sich hinsetzen vor die versammelte Gruppe und müssen mindestens zwei positive Sachen über ihr eigenes Spiel sagen. Und das fällt denen total schwer. Das ist einfach nicht in unserer Kultur. Wir haben eine sehr defizitorientierte Kultur und Leute, die was Positives über sich selbst sagen, werden sehr schnell als arrogant und überheblich abgestempelt. Deshalb üben wir so was ganz explizit. Zwei positive Sachen über das eigene Spiel und die eigene Performance sagen.

Tipps gegen Lampenfieber als Musiker

Hätten Sie denn zum Abschluss von diesem Themenkomplex eine sehr gut nachmachbare Übung, Atemübung beispielsweise, um sich ganz konkret in der Konzertsituation vor einem Auftritt ein bisschen zu entspannen und für den Auftritt ein bisschen weniger aufgeregt zu sein?

Also könnten Sie zum Beispiel Lippenbremse machen oder atmen im Dreivvierteltakt. Es geht dann so, dass Sie einen Dreivvierteltakt einatmen und dann zwei Dreivvierteltakte lang durch den Mund aus. Dann machen Sie einen Dreivvierteltakt Pause und fangen dann wieder von vorne an. Machen Sie so viele Zyklen, bis Sie merken, das es einen Effekt auf Sie hat. Ganz wichtig ist, dass Sie das in ihre Übelroutinen einbauen, damit Sie darauf ganz automatisch zugreifen können und nicht in einer Aufregungssituation das alles über den Haufen werfen.

Outro

Was lernen oder üben Sie gerade, was Sie noch nicht so gut können? Darf gerne auch nicht musikalisch sein. Beim letzten Mal war es melodisch Moll über halbverminderte Akkorde. Ist es das weiterhin?

Ja, tatsächlich habe ich gestern Abend erst wieder geübt. Es ist sehr konkret und vielleicht ein bisschen sehr abstrakt für Leute, mit nicht-musiktheoretischem oder Jazz-Hintergrund: E-Moll7b5 als Brechung über einen G-Moll 6, also mit einer großen Sechste funktioniert. E-Moll7b5 ist austauschbar ist mit G-Moll 6.

Und welchen Tipp würden Sie aus Ihrer heutigen Perspektive gerne Ihrem jüngeren Erstsemester-Musik-oder Psychologiestudierenden-Ich mitgeben, um den Sie damals froh gewesen wären?

Ja, eine Zuversicht, so nach dem Motto: „Das wird schon.“

Am Anfang des Psychologiestudiums habe ich fast nur Musik gemacht. Also ganz viel geprobt, in der Studierenden Big Band gespielt, eigene Bands weiterentwickelt. Wir haben dann auch ein Plattenlabel gegründet und so. Und ich habe irgendwie nicht gesehen, wo das mit der Psychologie hingehen soll und ich war auch kein besonders guter Psychologiestudent. Heutzutage bin ich extrem froh, dass ich das fertig gemacht habe. Ich konnte dann auch ganz anders an das Musikstudium rangehen und denken, das ist eigentlich meine größte Leistung, dass ich gegen so viel Widerstand das Psychologiestudium fertig gemacht habe und auch erfolgreich abgeschlossen habe.

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Wie üben wir gesund, Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn? https://what-is-practice.de/gesundes-ueben-und-musizieren-claudia-spahn/ https://what-is-practice.de/gesundes-ueben-und-musizieren-claudia-spahn/#respond Mon, 29 Jan 2024 10:13:13 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6315 Wie üben und musizieren wir gesund? Wenn jemand diese Frage gewissenhaft beantworten kann, dann Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn. Sie studierte Medizin und Musik und leitet – gemeinsam mit Bernhard Richter – seit knapp 20 Jahren das Freiburger Institut für Musikermedizin. Ich wollte wissen: Wie sieht aus musikermedizinischer Sicht der perfekte Übeplan aus. Angefangen beim… Weiterlesen »Wie üben wir gesund, Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn?

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Wie üben und musizieren wir gesund? Wenn jemand diese Frage gewissenhaft beantworten kann, dann Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn. Sie studierte Medizin und Musik und leitet – gemeinsam mit Bernhard Richter – seit knapp 20 Jahren das Freiburger Institut für Musikermedizin. Ich wollte wissen: Wie sieht aus musikermedizinischer Sicht der perfekte Übeplan aus.

Angefangen beim Warm-Up über Pausen und Erholungsphasen bis zur Prävention von typischen Musikerkrankheiten gibt Claudia Spahn wichtige Tipps wie ein gesundes Üben und Musizieren klappt. Ihr fundiertes Wissen und ihre langjährige Erfahrung machen sie zu einer führenden Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der Musikergesundheit.

Darüberhinaus erzählt Claudia Spahn von dem neuen Master-Studiengang „Musikphysiologie“ in Freiburg, der sich zur Aufgabe gemacht hat die Lücke zwischen Theorie und Praxis weiter zu schließen.

Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn bei meinem Besuch im Freiburger Institut für Musikermedizin

Literaturempfehlungen zum gesunden Üben und Musizieren

Musikergesundheit - Claudia Spahn

Musikergesundheit in der Praxis

In diesem umfangreichen Buch geben euch Prof. Dr. Claudia Spahn, Prof. Dr. med. Bernhard Richter und Alexandra Türk-Espitalier Hintergrundwissen zu den körperlichen und psychischen Grundlagen des gesunden Musizierens. Sie helfen, die Ursachen der eigenen Symptome zu finden und geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Mir gefallen die abwechslungsreichen Übungen am Ende, die sich perfekt in das tägliche Üben integrieren lassen.


Der gesunde Musiker

Der gesunde Musiker

Wenn wir an Warm-Up oder Aufwärmen im musikalischen Kontext denken, schließt das in den allermeisten Fällen bereits unser Instrument mit ein. Aber auch unser Körper will optimal vorbereitet ins Üben starten. Pia Skarabis gibt hierzu in „Der gesunde Musiker – Traningsprogramme für Beruf und Hobby“ wertvolle Ausgleichsübungen für die unterschiedlichen Instrumente.

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview mit Claudia Spahn

Inhalt

Vervollständige folgenden Satz: Üben heißt für Sie….

In einem selbstbestimmt strukturellen Rahmen sich persönlich musikalisch weiterentwickeln.

Welche Musik (Album / Künstler) läuft bei Ihnen gerade in Dauerschleife?

Selbst musizierend sind aktuell mehrere Titel von Friedrich Hollaender, einem jüdischen Komponisten im Berlin der 1920/30er Jahre. Die meisten werden ihn sicher wegen seiner Songs mit Marlene Dietrich kennen. Hier gibt es einige tolle Titel, die mich schon mein ganzes Leben lang begleiten und die ich auch immer wieder in meinem Kabarett-Duo mit einem Sänger spiele.

Und hörend auch gerne Blues und Jazz – gar nicht immer nur Klassik.

Gibt es eine CD, die Sie musikalisch (auf Ihr Spiel bezogen) am meisten geprägt?

Nein, das kann ich so nicht sagen. Ich finde ganz viele Künstler ganz toll.

Ich glaube, dass ich vom Typ her eher eine Pionierin in ganz vielen Dingen bin. Inzwischen kann ich ja schon etwas zurückblicken. Deshalb kann ich es mir erlauben, eine kleine Quintessenz meines Lebens zu ziehen. (lacht)

Ich finde, man kann von allen Menschen etwas lernen. Alle sind interessant. Auch in meiner Pubertät hatte ich nie Idole, da ich kein Mensch bin, der auf einzelne Leute total abfährt. Ich würde mich eher als jemand beschreiben, der von vielen Menschen gerne etwas annimmt. Allerdings vieles auch aus mir selbst heraus entwickele.

Aber natürlich habe ich auch im Studium ganz viel von meinen Lehrerinnen und Lehrern mitgenommen. So hat mich selbstverständlich auch meine Professorin stark geprägt. Aber es gibt nicht den einen Namen, den ich hier nennen würde.  

Musik trifft Medzin

Claudia Spahns Werdegang

Sie haben zunächst das Medizin-Studium angefangen und dann Ihr Musik-Studium angeschlossen – wenn ich richtig recherchiert habe?

Ja.  Ich habe begonnen mit dem Medizin-Studium, das ist richtig.

Ich habe in Würzburg mein Abitur gemacht und war schon während der Schulzeit in einer Vorklasse der Musikhochschule, wie man heute sagen würde. Allerdings habe ich dann zunächst Medizin in Freiburg studiert – jedoch weiterhin intensiv Musik gemacht und mir dort auch Unterricht gesucht.

Mir hat die Musik doch sehr gefehlt und daher wollte ich mich weiter professionell ausbilden. Daraufhin habe ich die Aufnahmeprüfung gemacht und nach dem Physikum (also nach dem vierten Semester des Medizin-Studiums) parallel Musik studiert.

Hat sich Ihr Üben im Verlauf der Zeit verändert? Möglicherweise auch mit dem Wissen aus dem Medizin-Studium?

Also um ganz ehrlich zu sein: Ich habe ja in den 1980er Jahren studiert und da gab es noch gar keine so großen Verbindungen zwischen Medizin und Musik.

Natürlich es gab schon seit den 1970er das Institut von Christoph Wagner in Hannover – damals bezeichnete er es noch als Musikphysiologie. Aber die Musikermedizin war da noch nicht sehr bekannt.

Im Grunde waren es auch ganz viele Zufälle, die da eine Rolle spielten. Bei mir war dieser Zufall, als ich Ärztin im Praktikum war – also kurz nach Abschluss meines Medizinstudiums. Zu dieser Zeit wurde ein Kongress in New York veranstaltet, der sich „Performing Arts Medicine“ nannte. Eine Kollegin wurde darauf aufmerksam und so fuhr ich mit ihr gemeinsam dorthin. Das war sozusagen die erste Berührung mit diesem Feld. Durch den Kongress entstanden dann auch weitere Verbindungen hier in Deutschland, bspw. mit der Fachgesellschaft (DGfMM).

Eine direkte Verbindung zwischen Musik und Medizin habe ich während meiner Studienzeit gar nicht direkt wahrgenommen. Obwohl sich beide Bereiche trotz ihrer Verschiedenheit bereichert haben. Die Verbindung kam erst viel später – im Jahr 2002, als ich mein erstes Lehrangebot an der Freiburger Musikhochschule nach Anfrage der damaligen Rektorin Frau Professor Nastasi angeboten habe.

Und wenn Sie jetzt sagen, die beiden Bereiche haben sich bereichert: Haben Sie dann auch versucht das Wissen über korrekte Bewegungen und richtiges Lernen aus dem Medizinstudium in die Musik zu übertragen?

Das ist eine sehr interessante Frage, die Sie stellen. Den ganz konkreten Transfer, wie wir ihn heute aus den Neuro- und Trainingswissenschaften kennen, gab es noch nicht. Ich glaube, dass ich vieles von dem allerdings schon intuitiv gemacht habe.

Für mich war die Bereicherung eher auf der persönlichen Ebene. Das Medizin-Studium ist ja gerade am Anfang eine große Massenveranstaltung. Mich hat daran immer gestört, dass niemand gemerkt hat, ob ich da war oder nicht. Da war natürlich das Musikstudium mit seinem Einzelunterricht und der künstlerisch-kreativen Entwicklung ein schöner Gegensatz, um sich gesehen zu fühlen. Das hat mich sehr voran gebracht.

Andererseits hat es in der Musik schon geholfen, dass die Medizin Studierenden etwas objektivierendes (eine Meta-Ebene einnehmen können) beibringt. Diese Art sein Tun reflektieren und relativieren zu können hat mir im Musikstudium schon geholfen – allerdings eher auf einer abstrakteren Ebene.

Tipps zum optimalen Übe-Plan aus Sicht der Musikermedizin

Dann ist es ja schön zu sehen, dass sich der Kreis nun etwas schließt. Unter anderem mit dem neuen Master-Studiengang „Musikerphysiologie“, der in Freiburg kürzlich geschaffen wurde. Dieser vereint ja genau diese beiden Welten und könnte weiter dazu beitragen, dass sich die Lücke zwischen Theorie und Praxis weiter und weiter schließt.

Genau. Es ist ja interessant, dass sich dieses gesamte Feld weiter und weiter entwickelt und wir insgesamt in Deutschland, mit allen Instituten und der Fachgesellschaft, in der Entwicklung vorne mit dabei sind.

Wir haben jetzt hier in Freiburg konkret eine Profilierung und eine Differenzierung vorangetrieben. Denn auf der einen Seite gibt es die Musikermedizin, bei der es um die Behandlung spezifischer gesundheitliche Probleme bei Musizierenden aller Couleur geht. Die spannende Frage dabei war immer schon: Was macht die Medizin an einer Musik- oder Kunsthochschule?

Schließlich ist das auch die spannende Frage hier in Ihrem Podcast: Wie gelangen Informationen – heute würde man vielleicht sogar aus den Lebenswissenschaften sagen – in die Ausbildung von Musizierenden? Insbesondere von Profimusikerinnen und Musikern. Das nennen wir dann Musikphysiologie. Gerade hier gibt es viele Inhalte, die neu in die Ausbildung kommen und es sich deshalb lohnt, daraus ein eigenes Grundlagenfach zu entwickeln.

Seit diesem Wintersemester kann man dieses Fach als Hauptfach bei uns im Master studieren. Dort geht es vor allem darum, die Grundlagen (Wie bereite ich mich auf Auftritte und Probespiele vor? Wie entwickle ich mich weiter? Wie übe ich dafür? Wie vermittle ich das, was ich bin? Was möchte ich zur Gesellschaft beitragen?) zu erwerben und zu entwickeln. Als Studierender kann man dann sehr individualisiert mithilfe von bspw. (Orchester-)Praktika z.B. gesundheitliche Aspekte in die Orchester tragen oder, wie das Beispiel der Kooperation mit der AOK zeigt, die Unterstützung von Musikvereinen in unserer Gesellschaft voranbringen. Immer davon ausgehend, dass es sich um sehr gut ausgebildete Musikerinnen und Musiker handelt.

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Übeplan Vorlage what is practice

Lade dir die Übeplan-Vorlage herunter

Die größte Herausforderung beim Üben ist es, sich auf bestimmte Aspekte zu fokussieren. Diese sinnvoll auszuwählen ist nicht immer leicht. Genau dabei hilft dir die what is practice Übeplan-Vorlage.

  • Definiere deine Ziele
  • Coaching-Tool zum Visualisieren deiner Stärken und Schwächen
  • Auswertungs-Vorlage, die dich beim Erreichen deiner Ziele unterstützt
  • Übe-Tipps

Das klingt nach einem sehr ganzheitlichen Konzept. Wenn wir dieses Themenfeld nun etwas im Detail aufgreifen: Lassen sich aus musikermedizinischer Sicht Empfehlungen für ein geeignetes Warm-Up geben? Auch wenn natürlich allgemeingültige Hinweise schwierig sind, gibt es Empfehlungen für das Aufwärmen unseres Körpers noch vor dem ersten Ton auf dem Instrument?

Das ist schön, dass Sie das so natürlich ansprechen. Denn es ist immer noch nicht so, dass wir das als Selbstverständlichkeit gelernt haben. Anders als im Sport oder im Tanz.

Am Anfang geht es vor allem darum den Körper, aber auch die mentale Verfassung, auf das Üben einzustimmen. Das ist der weitere Sinn des Warm-Ups. Natürlich geht es auch um die Durchblutung und das Anwärmen der Gelenke – also Übungen machen, die dies unterstützen und ankurbeln. Durchaus auch in die Aktion kommen (z.B. Abklopfübungen).

Was ebenso sehr wichtig ist, ist das der Körper in einer guten Grundposition – und Ausrichtung sein sollte. Wir achten im Sitzen und im Stehen immer darauf, dass die Mittelachse sehr präsent und gut eingestellt ist. Aus dieser Position gehen wir zum Instrument bzw. kommt das Instrument zu uns. Diese Schritte sollten bewusst vollzogen werden – gerade auch, wenn man selbst unterrichtet.

Wir sitzen hier gerade sehr zurückgelehnt, mit den Beinen überschlagen jeweils. Das ist sicher nicht die Mittelachse, von der Sie sprechen?

Im Sitzen wäre das nicht angelehnt, wie wir hier sitzen. (lacht) Sondern aufrecht auf dem Stuhl. Die beiden tiefsten Punkte, also unsere beiden Sitzbeinhöcker, sollten wir gut spüren können. Sie sind die beiden tiefsten Punkte, die aufliegen. Wenn man sich an diesen ausrichtet, richtet sich automatisch die Wirbelsäule mit auf. Dazu gibt es ein sehr passendes Image aus der Ideokinese. In dieser Position hat man eine gute Freiheit für Arm-, Finger- und Handbewegung – und natürlich auch für die Atmung.

Musikerpausen und Erholungsphasen: Die Notwendigkeit von Ruhezeiten

Gerade in der Musik hält sich weiter hartnäckig das Mantra „mehr gleich besser“ (Übezeit). In der Vorbereitung bin ich auf ein Gespräch mit Horst Hildebrandt (Musikermediziner der ZHDK) gestoßen in dem er sagte, dass er seinen Studierenden empfiehlt in Blöcken à jeweils 10 Minuten maximal zu üben. Jeweils von 2 Minuten Pause dazwischen unterbrochen. Das Ganze wird 5x wiederholt und darauf folgt eine große Pause. Würden Sie das unterschreiben bzw. gibt es musikermedizinisch eine Empfehlung wie das Verhältnis von Spannung und Entspannung beim Üben sein sollte?

Da mischen sich für mich zwei Punkte. Zunächst bin ich der gleichen Meinung wie mein Kollege Horst Hildebrandt. Wichtig ist vor allem ein Konzept zu haben und nicht in Dauerschleife Übungen stupide zu wiederholen (obwohl das seltener wird).

Übt man in kleinen Portionen ist man sehr konzentriert und fokussiert. Dadurch ist die Präzision in den Wiederholungen sehr hoch. Man vermeidet dadurch den Penelope-Effekt – also sich bei zu langem Üben falsche Bewegungen anzueignen. Das Intervall von 10 Minuten ist, wenn man mental konzeptualisiert und konzentriert übt, auch gesund.

Wenn man auf die musikermedizinische Seite geht, ist dies auch genau die Empfehlung, die wir in unseren Therapien geben. Nämlich in kleinen Portionen üben, die unterhalb der eigenen Schmerzgrenze bleiben. Natürlich können diese dann sogar noch kürzer sein.

Der Alltag ist allerdings oft genau gegen ein solches Üben. Das Problem ist, dass Studierende die Zeit, in der sie den Überaum haben, ausschließlich am Instrument verbringen wollen. Denn vermeintlich ist nur diese Zeit die „gute“ Zeit. Also ein total an der Dauer orientiertes Übe-Paradigma. Das ist natürlich sehr schwierig. Allerdings stellen wir bei uns in den Seminaren fest, dass es hierzu auch eine Gegenbewegung gibt.

Die Pause sollte dann weg vom Instrument sein und möglichst mit Ausgleichs- oder Entspannungspausen gestaltet werden.

Was könnten solche Ausgleichsübungen sein?

Ich finde Ausgleichsübungen sind super einfach, da man mit ihnen leicht seinem eigenen Körpergefühl nachgehen kann. Wenn man eine gewisse Zeit in einer bestimmten Position verharrt hat, hat man ganz natürlich das Bedürfnis sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Also zum Beispiel vom Beugen ins Strecken.

Das setzt natürlich voraus, dass man sein Smartphone möglichst weit weg liegen hat. Sonst ist die Verlockung, gerade in diesen Mini-Pausen sehr groß, doch zum Handy zu greifen.

Das stimmt natürlich. Übt man nach diesem Muster, ist es wichtig ein klares Konzept zu haben, wie man damit umgeht. Schließlich gibt es auch nützliche Funktionen auf unseren Smartphones. Die Gefahr ist aber (das kenne ich auch), dass man sich gedanklich in Nachrichten oder Ähnlichem verliert.

Ganz aktuell wurden die Ergebnisse der Pisa-Studie veröffentlicht. Erneut schnitt Deutschland schlecht ab – ein Kritikpunkt ist unter anderem auch die schwache Integration von modernen Lehrmethoden. Wenn ich jetzt an solche modernen Konzepte wie das Üben in kleinen Blöcken à 10 Minuten denken, könnte man auch in der Musikpraxis Parallelen entdecken. Tun sich Erkenntnisse aus der Wissenschaft schwer in die Übe-Praxis zu gelangen? Haben Sie ein ähnliches Gefühl?

Ja, das ist auch ein langer Weg. Bestimmte Veränderungen im Denken benötigen einfach ihre Zeit. Wenn ich allerdings zurückschaue in meine eigene Unterrichtszeit als Studentin in der Musikhochschule, sehe ich dort bereits große Unterschiede. Auch das Interesse und die Offenheit diesem Thema gegenüber ist inzwischen sehr viel größer geworden. Das stellen wir nicht nur bei unseren Studierenden fest.

Typische Krankheitsbilder von Musiker*innen und ihre Prävention

Jetzt sind wir hier bei Ihnen am Freiburger Institut für Musikermedizin. Bevor wir gleich auf das Themenfeld Prävention noch zu spreche kommen, können Sie uns sagen, welche Krankheiten Sie hier typischerweise am häufigsten behandeln?

Damit man es sich besser vorstellen kann: Wir haben hier eine Ambulanz, die ähnlich wie andere Ambulanzen in Klinken organisiert ist. Allerdings stehen bei uns überall Instrumente. Wir haben mehrere Fachärzte sowie Physio- und Stimmtherapeuten.

Das häufigste Krankheitsbild als Symptom ist Schmerz – im weiteren Sinne Überlastungssyndrome. Zumeist im oberen Bereich des Körpers – oftmals in den Unterarmen.

Daneben gibt es auch, das haben wir in unserem Lehrbuch Musikermedizin unterschieden, Krankheiten (wie z.B. Arthrose), die die Musikausübung betreffen und beeinträchtigen gleichzeitig aber auch durch das Musizieren verstärkt werden. Auch einzig musikspezifische Erkrankungen wie die fokale Dystonie oder Lampenfieber/Auftrittsangst werden hier behandelt.

In der Vorbereitung bin ich auf eine Studie von Heiner Gembris Studie aus 2012 gestoßen. Darin wurden Orchestermusiker*innen und Musikstudierende gefragt, ob sie an körperlichen Beschwerden leiden, die das Musizieren erschweren. Bei den Orchestermusiker*innen waren es 55% (schon mehr als ¼ bei den unter 30-Jährigen. Besonders Streichinstrumentalisten sind davon wohl überdurchschnittlich oft betroffen.

Wieso quälen wir uns so gern?

Dieses alte „no pain, no gain“ hat besonders die ältere Generation an Musikerinnen und Musikern noch stärker verkörpert. Allerdings löst sich dies nach und nach auf. Letztlich rollen wir das Feld von hinten auf: Sie mit Ihrem Podcast ebenso wie bspw. unser neuer Studiengang hier in Freiburg.

Dass es bei einer so besonderen, und besonders schönen, Berufsausübung auch zu spezifischen Krisen kommen kann, ist denke ich – auch im Vergleich zu anderen hochspezialisierten Leistungsberufen, weniger erstaunlich. Wichtiger ist, wie man darauf eingestellt ist und welche Tools man gelernt hat, um sich wieder anzupassen. Daher ist das Thema Resilienz so entscheidend – nicht nur auf mentaler Ebene, sondern auch erweitert auf den Körper. Resilienz ist etwas, dass man jeden Tag herstellen muss. Ohne auch dabei in „Resilienzstress“ zu kommen.

Allerdings muss man auch nicht in Ängstlichkeit verharren und denken, der Beruf ist so schlimm. Ich bin kein Freund davon das Thema zu „kathastrophisieren“. Wichtig ist, dass man wieder in Erholung kommt. Auch hier ist die Sportwissenschaft und Sportmedizin wesentlich weiter. Wir schauen in der Musik aktuell hier noch zu wenig drauf.

Mit Resilienz haben Sie ja bereits das große Themenfeld Prävention angesprochen. Dem sollte dann vermutlich in der Musiker*innen-Ausbildung weiter noch ein größer Stellenwert zugesprochen werden, um genau dem vorzubeugen?

Ja, absolut. Wenn wir als Fachvertreterinnen und Fachvertreter die Grundlage so vermitteln, dass Musizieren letztlich mit Freude – so einfach es klingt – und körperlicher und geistiger Gesundheit geleistet werden kann und auch so gesehen wird – sowohl in der Amateur und Profiwelt – dann haben wir unglaublich viel gewonnen.

Die Chance ist, dass wir zeigen, welche Erkenntnisse die Musikausübung positiv befördern. Wenn wir das schaffen, sind wir am Kern dessen, worum es geht. Dann wird sich hoffentlich daraus Gesundheit mit ergeben.

Lampenfieber

Sie haben auch viel zum Thema Lampenfieber geforscht. Gerade dann, wenn aus Lampenfieber Auftrittsangst wird und uns Versagensängste hemmen bzw. sich körperlich bemerkbar machen (Blockaden, Gedächtnisverlust, muskuläre Anspannung), wirkt sie sich ja massiv auf unser Spiel aus.

Für mich ist der Umgang mit Lampenfieber und Auftrittsangst auch Teil des Übens. Denn die mentalen Ansätze, die wir hierzu haben, sind eine große Chance, die dort mitgeübt werden können.

Gerade in den Phasen wie z.B. dem Studium, in denen das Verhältnis von Üben und Auftritten sehr zu Gunsten des Übens liegt, den Umgang mit Lampenfieber einzuüben ist sinnvoll. Ich versetze mich also in die Rolle des Vorspiels/Konzerts hinein und stelle mir vor, wie die Auftrittssituation ablaufen wird. Dadurch lassen sich Auftrittssymptome positiv konditionieren.

Früher gab es oftmals die Auffassung, dass wenn man ausreichend geübt hat, man kein Lampenfieber haben muss. Das halte ich für etwas verkürzt. Oftmals stimmt es eben nicht, weil die Situation sich zeigen zu müssen im Auftritt/Probespiel, nochmals andere Dinge freisetzt. Eine gute Vorbereitung ist sicher wichtig für das Gelingen eines Auftritts, allerdings noch keine Garantie.

Außer dem klassischen Üben (also reproduzierendes Üben) ist es wichtig weitere Tools zu lernen, wie beispielsweise die Sekundenschnellentspannung, Anker und anderes. Dieses muss dann natürlich auch ins Üben integriert werden.

Daran schließen auch sehr schön die beiden letzten Folgen mit Annemarie Gäbler vom NDR Sinfonieorchester, mit der wir übers Probespiel gesprochen haben und die Folge mit Prof. Dr. Silke Kruse-Weber in der es um den Umgang mit Fehlern ging, an.

Outro

Was lernen (üben) Sie gerade, was Sie noch nicht können (gerne auch nicht musikalisch)?

Aber was ich wirklich noch lernen möchte, ist Saxofon spielen. Das mache ich dann, wenn ich endlich mehr Zeit und regelmäßig Zeit zum Üben haben.

Welchen Tipp würden Sie Ihrem jüngerem, Erstsemester-Musikstudenten-Ich gerne mitgeben, um den Sie damals froh gewesen wären?

Das ist schwierig. Ich fand mein Studium super.

Ich muss sagen ich hatte wirklich sehr tollen Input und habe viele tolle Menschen kennengelernt. Das Studium ist sicher eine wichtige Phase, aber danach geht es ja noch weiter. Wie wir heute wissen, hören wir ja nie auf zu lernen.

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Buchtipp: Musikergesundheit in der Praxis https://what-is-practice.de/buchtipp-musikergesundheit-in-der-praxis/ https://what-is-practice.de/buchtipp-musikergesundheit-in-der-praxis/#respond Sun, 28 Jan 2024 11:11:34 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6349 In „Musikergesundheit in der Praxis“ präsentiert Prof. Dr. Claudia Spahn Musikerinnen und Musiker einen unverzichtbaren Leitfaden für ein gesundes Üben und Musizieren. Dieses Buch bietet wertvolle Einblicke und praktische Tipps, um Verletzungen vorzubeugen, ergonomische Spieltechniken zu entwickeln und Stress effektiv zu bewältigen. *Affiliate Link: Wenn du das Buch über diesen Link kaufst erhalte ich 5%… Weiterlesen »Buchtipp: Musikergesundheit in der Praxis

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In „Musikergesundheit in der Praxis“ präsentiert Prof. Dr. Claudia Spahn Musikerinnen und Musiker einen unverzichtbaren Leitfaden für ein gesundes Üben und Musizieren. Dieses Buch bietet wertvolle Einblicke und praktische Tipps, um Verletzungen vorzubeugen, ergonomische Spieltechniken zu entwickeln und Stress effektiv zu bewältigen.

Musikergesundheit - Claudia Spahn

*Affiliate Link: Wenn du das Buch über diesen Link kaufst erhalte ich 5% Provision. Für dich bleibt der Preis gleich – allerdings unterstützt du damit ganz automatisch meine Arbeit. Vielen Dank also! 🙂

Verstehen wie unser Körper musiziert

Durch ihre langjährige Erfahrung und ihre fundierte Expertise bietet Prof. Dr. Spahn wertvolle Einblicke und Empfehlungen, die sowohl Anfängern als auch etablierten Musikern helfen können, ihre Gesundheit zu erhalten und zu verbessern. Besonders hervorzuheben sind die praxisnahen Übungen und die konkreten Handlungsempfehlungen, die dazu beitragen, die Risiken von Überlastung und Verletzungen zu minimieren.


Claudia Spahn im Podcast „Wie übt eigentlich..?“

Wie üben wir gesund? Wenn jemand diese Frage gewissenhaft beantworten kann, dann Claudia Spahn. Sie studierte Medizin und Musik und leitet – gemeinsam mit Bernhard Richter – seit knapp 20 Jahren das Freiburger Institut für Musikermedizin.

Ich wollte wissen: Wie sieht aus musikmedizinischer Sicht der perfekte Übeplan aus.

Angefangen beim Warm-Up, über Pausen und Erholungsphasen bis zur Prävention von typischen Musikerkrankheiten gibt Claudia Spahn wichtige Tipps wie ein gesundes Üben und Musizieren klappt.

Darüberhinaus erzählt Claudia Spahn vom neuen Master-Studiengang „Musikphysiologie“ in Freiburg, der sich zur Aufgabe gemacht hat die Lücke zwischen Theorie und Praxis weiter zu schließen.


Fazit

„Musikergesundheit in der Praxis“ von Prof. Dr. Claudia Spahn ist ein unverzichtbares Werk für alle Musikerinnen und Musiker – egal ob Profi oder Hobby-Musiker. Mit fundierten Erkenntnissen, praktischen Übungen und klaren Empfehlungen bietet dieses Buch eine umfassende Anleitung zur Erhaltung und Verbesserung der körperlichen und mentalen Gesundheit.

Auf einen Blick

Musikergesundheit in der Praxis - Claudia Spahn

Sprache: Deutsch
Verlag: Henschel Verlag
Umfang: 111 Seiten
Für wen: Alle Musiker*innen
Sonstiges:

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Buchtipp: Reflect! https://what-is-practice.de/buchtipp-reflect/ https://what-is-practice.de/buchtipp-reflect/#respond Sun, 26 Nov 2023 18:38:30 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6235 Ein Beobachtungs- und Reflexionstool für Instrumental- und Gesangslehrende Reflect! von Silke Kruse-Weber (unter Mitarbeit von Margareth Tumler und Elizabeth Bucura) ist der vierte Band der Grazer Schriften zur Instrumental- und Gesangspädagogik. Spielerisch verbindet es auf besondere Art und Weise didaktisches, theoretisches Wissen mit Musikpraxis. Das Kartenset soll die systematische Reflexion über den eigenen Unterricht anregen.… Weiterlesen »Buchtipp: Reflect!

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Ein Beobachtungs- und Reflexionstool für Instrumental- und Gesangslehrende

Reflect! von Silke Kruse-Weber (unter Mitarbeit von Margareth Tumler und Elizabeth Bucura) ist der vierte Band der Grazer Schriften zur Instrumental- und Gesangspädagogik. Spielerisch verbindet es auf besondere Art und Weise didaktisches, theoretisches Wissen mit Musikpraxis. Das Kartenset soll die systematische Reflexion über den eigenen Unterricht anregen. Silke Kruse-Weber, die bereits Gast im Podcast „Wie übt eigentlich..?“ war, denkt allerdings noch weiter. Reflect! soll nicht nur Optimierungswerkzug sein, sondern kann auch bei Kommunikation und Kollaboration an Musikschulen, Hochschulen oder in Bewerbungsverfahren unterstützen. Auch im Austausch mit Kolleg*innen oder in Lehrer*innen-Elterngesprächen kann Reflect! zum Einsatz kommen.

Reflect! Buchcover
Reflect! von Silke Kruse-Weber

*Affiliate Link: Wenn du das Buch über diesen Link kaufst erhalte ich 5% Provision. Für dich bleibt der Preis gleich – allerdings unterstützt du damit ganz automatisch meine Arbeit. Vielen Dank also! 🙂

Kompetenzen spielerisch stärken

Mithilfe von offenen Fragen werden Lehrkräfte in

  • sozial-kommunikativen-
  • didaktisch-methodischen-
  • künstlerischen-
  • Selbstlernkompetenzen

zur Selbstreflexion angeregt. Diese bilden für Silke Kruse-Weber die Grundlage eines guten Unterrichts. Denn obwohl wir oftmals viel über den idealen Unterricht wissen, hemmen uns eigene Schülererlebnisse.

„Teachers teach as they were taught, not as they were taught to teach“

H.B Altmann

Arbeitsblätter runden das Buch ab

Neben dem Kartenset helfen auch Arbeitsblätter über das eigene Unterrichten und Arbeiten als Musiker*in ins Nachdenken zu kommen. Das Balance Wheel (in Anlehnung an das Coaching-Tool „Wheel of Life“, das es in ähnlicher Form auch bei Susan Williams „Optimal Üben“ gibt) ist dabei ein hervorragendes Werkzeug sich übersichtlich über eigenen Stärken und Schwächen klar zu werden. Dabei überzeugt, dass es nicht beim ersten Übersichtsschritt (Balance Wheel) bleibt, sondern auch Anregungen zur Veränderung (in Form von weiteren Nachfragen) gegeben werden. Die Arbeitsblätter existieren für alle vier Kompetenzbereiche.

Fazit

Für die Autorinnen um Silke Kruse-Weber steht bei Reflect! nicht weniger als ein erfüllendes Berufsleben im Vordergrund. Mehrmals wird im Buch darauf verwiesen dass, „wenn Denken, Fühlen und Handeln von uns Lehrenden in einem begründeten und sinnstiftenden Zusammenhang stehen, […] daraus Berufszufriedenheit folgen“ kann. Damit erweitert sich der Einflussbereich von Musiklehrenden auf mehr als nur eine technische und musikalische Ausbildung. Reflect! bringt sie in größere Zusammenhänge wie „Makers in Society“ oder Hartmut Rosas „Resonanztheorie“ (ein googeln dieser Theorie lohnt sich – ich empfehle des weiteren auch den Podcast „Hotel Matze“, in dem Hartmut Rosa bereits zu Gast war).

Mir persönlich gefällt diese weite Auffassung sehr gut. Das Kartenset, damit es seine vollumfängliche Wirkung entfalten kann, funktioniert allerdings nur bei kompletter Ehrlichkeit des Lesers/ der Leserin. Andernfalls verfehlt es sein Ziel. Richtig angewandt ist es jedoch ein sehr gutes Tool, dass uns nicht nur als Lehrkraft sondern uns auch als Musiker*in insgesamt weiterbringen kann.

Auf einen Blick

Reflect! Buchcover

Sprache: Deutsch
Verlag: Waxmann Verlag
Umfang: 113 Seiten
Für wen: Musiklehrer*innen, Musiker
Sonstiges:

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Was lernen wir aus unseren Fehlern, Silke Kruse-Weber? https://what-is-practice.de/fehlermanagement-aus-fehlern-lernen-silke-kruse-weber/ https://what-is-practice.de/fehlermanagement-aus-fehlern-lernen-silke-kruse-weber/#respond Mon, 20 Nov 2023 11:04:38 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6200 Fehlermanagement in der Musik Wir alle machen Fehler. Doch was verraten sie uns über unser Üben und wie können wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen? Ihr merkt schon: In der heutigen Folge dreht sich alles um das „aus Fehlern lernen“ – oder anders formuliert: Das Fehlermanagement in der Musik. Mit Prof. Silke Kruse-Weber habe ich… Weiterlesen »Was lernen wir aus unseren Fehlern, Silke Kruse-Weber?

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Fehlermanagement in der Musik

Wir alle machen Fehler. Doch was verraten sie uns über unser Üben und wie können wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen? Ihr merkt schon: In der heutigen Folge dreht sich alles um das „aus Fehlern lernen“ – oder anders formuliert: Das Fehlermanagement in der Musik.

Mit Prof. Silke Kruse-Weber habe ich mir ich das Thema von drei Seiten angeschaut: Zu Hause beim Üben, bei Konzerten auf der Bühne und natürlich aus der Sicht einer Lehrperson. Welche Tipps Prof. Silke Kruse-Weber aus ihrer langjährigen Forschung zum Umgang mit Fehler hatte, erfahrt ihr in dieser Folge.

Silke Kruse-Weber war bis Ende September 2022 Professorin für Instrumental- und Gesangspädagogik an der Kunstuniversität Graz. Seit Oktober 2023 ist sie Vertretungsprofessorin für Musikpädagogik/Instrumental- und Gesangspädagogik am Leopold Mozart College für Musik der Universität Augsburg. Vor ihrer akademischen Laufbahn studierte sie Klavier und Evangelische Kirchenmusik und arbeitete als Pianistin sowie Instrumentallehrerin für Klavier. Im Podcast erzählt sie von ihrem persönlichen Weg in die Wissenschaft.

Silke Kruse-Weber (Foto: Aleksey Vylegzhanin)

Literaturempfehlungen

Reflect! Buchcover

Reflect!

Ein Beobachtungs- und Reflexionstool für Instrumental- und Gesangsunterricht

Mithilfe eines Kartensets entwickelte Silke Kruse-Weber ein Beobachtungs- und Reflexionstool für den Musikunterricht. Erschienen in den Grazer Schriften zur Instrumental- und Gesangspädagogik (Waxmann Verlag).

Das Buch erschien im Juli 2023.


Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern

Kreative Potenziale beim Musizieren und Unterrichten

In diesem Sammelband finden sich verschiedene Aufsätze, rund um den Umgang mit Fehlern. Es entstand im Rahmen des Symposiums „Exzellenz durch Umgang mit Fehlern“.

Der Sammelband erschien im Jahr 2012.


Die Kunst der Lehre - Waloschek, Gruhle

Die Kunst der Lehre

Ein Praxishandbuch für Lehrende an Musikhochschulen

In diesem Sammelband von Maria Anna Waloschek und Constanze Gruhle findet sich ein Aufsatze von Prof. Dr. Silke Kruse-Weber und Victoria Vorraber . Thema: Umgang mit Fehlern im Spannungsfeld zwischen Fehlerfreundlichkeit und Perfektionsstreben

Die Kunst der Lehre erschien 2022 und fasst damit einen sehr aktuellen Stand der Forschung zusammen.

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Prof. Silke Kruse-Weber lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Apple Podcast

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Das Interview mit Silke Kruse-Weber

INHALT

Vervollständige folgenden Satz: Üben heißt für Sie….

Die Musik und mich umfassend erforschen.

Welche Musik (Album / Künstler) läuft bei Ihnen gerade in Dauerschleife?

In Dauerschleife gibt es aktuell keine Musik. Aber Martha Argerich mit den Bach Sonaten für Violoncello und Klavier, bzw. im Original für Gambe, höre ich sehr sehr oft. Sie begleiten mich seit Jahrzehnten durch mein Leben.

Welche CD / Welcher Künstler*in hat Sie musikalisch (auf Ihr Spiel bezogen) am meisten geprägt ?

Um ehrlich zu sein gibt es hier eine Schallplatte, die ich als Konfirmandin geschenkt bekommen habe: Die Balladen von Frédéric Chopin mit Artur Rubinstein. Die g-Moll Ballade hatte es mir damals so angetan, dass ich Klavier studieren wollte.

Von der Musikerin zur Musikpädagogin

Sie haben zunächst Evangelische Kirchenmusik und später Klavier studiert. Und haben dann– wenn man so möchte – Ihre akademische Laufbahn mit einem Musikwissenschaftsstudium und einer Promotion in Musikpädagogik fortgesetzt. Daneben waren Sie lange Zeit auch weiter künstlerisch aktiv. Beides ist sehr zeitintensiv. Wie sah Ihr persönliches Üben über diese Zeit aus?

Als ich bereits mehrere Jobs innehatte, fand mein Üben zumeist in Blöcken statt. Für bestimmte Konzerte habe ich mich in den Monaten zuvor gezielt und intensiv vorbereitet. Aber es war nicht mehr das tägliche Üben direkt nach dem Aufstehen am Morgen, so wie es zuvor war. Das konnte es nicht mehr sein, da meine Zeit auch mit anderen Dingen ausgefüllt war.

Wie hat Ihr Üben von Ihrer Forschung profitiert?

Meine Forschungstätigkeiten sind erst seit ca 2000 im Rahmen meiner Dissertation dazugekommen. Allerdings, wenn ich jetzt erneut mit dem Musizieren anfangen sollte, dann würde dies ganz sicher Auswirkungen auf mein Üben haben.

Wie anders würden Sie heute üben?

Ich würde bewusster, noch spielerischer und weniger eng fokussierend auf nur ein bestimmtes Ziel üben. Viel mehr erforschen, was alles möglich ist. Kurz um: umfassender üben.

Wie haben Sie sich entschieden, die aktive musikalische Karriere für die wissenschaftliche einzutauschen? Gab es hierfür einen speziellen Anlass?

Das war in der Tat ein langer Prozess. Als ich damals noch Pianistin und Klavierlehrerin war, erhielt ich ein Stipendium für eine Promotion. Zunächst war dies ein externaler Grund diese sehr reizvolle Arbeit aufzunehmen. Gleichzeitig war ich zu dieser Zeit auch bereits Mutter und suchte nach Wegen, mein Leben weniger stressig zu gestalten. Ich hatte Probleme mit Aufführungsangst und wollte dies nicht so stark auf die Familie projizieren. Also suchte ich nach neuen Perspektiven.

Im Laufe der Zeit fand ich ein Dissertationsthema: es waren Schriften über das Lernen und Lehren im Klavierunterricht im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Zunächst verstand ich diese kaum, da ich nicht wusste auf was es zu achten galt. Wer ist wer? Was ist überhaupt wichtig? Mit der Zeit fand ich dann aber einen Zugang.

Gleichzeitig unterrichtete ich bereits und stellte fest, dass mir das Unterrichten (und auch das eigene Üben) viel mehr Spaß bereiten. Ich hatte zunehmend mehr „theoretische Brillen“, mit denen ich das Unterrichten begründen und beobachten konnte. Das hat mir nicht nur sehr viel Freude gegeben, sondern wirkte sich auch positiv auf die Schülerinnen und Schüler aus. Weiter und weiter habe ich mich dann zu einer Musikpädagogin transformiert und dies dann schließlich auch bis in die wissenschaftliche Arbeit ausgedehnt.

„Ich hatte zunehmend mehr „theoretische Brillen“, mit denen ich das Unterrichten begründen und beobachten konnte. Das hat mir nicht nur sehr viel Freude gegeben, sondern wirkte sich auch positiv auf die Schülerinnen und Schüler aus.“

Silke Kruse-Weber

Fehler im eigenen Üben (zu Hause)

Von Fehlerfreundlichkeit und Risikomanagement

Also man kann sagen, ein sehr persönlicher Beweggrund letztlich. Irgendwann hat sich Ihr Forschungsschwerpunkt auf das Themengebiet „Fehler“ ausgeweitet. Die naheliegendste Frage ist da natürlich: Was war Ihr letzter Fehler und wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe gerade vor fünf Minuten einen Fehler entdeckt (lacht).

Anlässlich dieses Podcasts habe ich in einem meiner Artikel geschaut und gesehen, dass dort ein Wort nicht stimmt. Nun gut, ich kann darüber inzwischen schmunzeln. Es regt mich nicht besonders auf, aber ich habe es festgestellt. Es lässt sich jetzt nicht mehr korrigieren. Ich denke aber, man versteht die Message dennoch.

Man könnte sagen, dass Sie also eine gute Gelassenheit mit der Zeit entwickelt haben. Wenn wir die Frage nun auf die Musik übertragen, stellen wir fest, dass an Hochschulen und im Musikunterricht oftmals das Prinzip „Fehlervermeidung“ praktiziert wird. Das überträgt sich dann logischerweise auf das eigene Üben zu Hause. Warum ist dieses Prinzip nicht förderlich?

Vor allem für das eigene Musizieren nicht förderlich. Es ist ein erster Schritt hin zur Entwicklung einer möglichen Auftrittsangst.

Wenn ich, wie ich es eingangs bereits geschildert habe, daraufhin übe keine Fehler mehr zu machen, wird der Spielraum, in dem ich musizieren kann, immer enger. Das löst Angst aus. Andererseits möchte man natürlich ein großartiges Ergebnis abliefern und freut sich, über ein gelungenes Konzert. Allerdings sind die Wege dorthin nicht linear.

Was sind Ihrer Meinung nach bessere Strategien, um im eigenen Üben mit Fehlern umzugehen?

Da gibt es viele Ansätze. Bekannt ist die sogenannte Fehlerfreundlichkeit bei der man sich mit Fehlern auseinandersetzt und Gelegenheiten bietet, sie zu verbessern.

Zur Vorbereitung einer Aufführung ist das sogenannte Risikomanagement wichtig. Das heißt, dass ich eine Aufführung nicht so plane, als dass sie ideal verläuft und ich mich nicht darauf vorbereite, welche Störfaktoren eintreffen könnten. Sondern im Gegenteil: Je mehr mögliche Störfaktoren ich mir kreativ im Vorfeld überlege und den Umgang mit ihnen beim Üben trainiere, desto emotional entspannter meine Haltung während der Aufführung.

Meine Klavierschüler*innen haben diese Art des Risikomanagement im Unterricht besonders geliebt. Eine kleine Anekdote dazu: Kurz vor einer Aufführung haben wir im Unterricht eine Aufführungssituation simuliert, bei der ich mit Papier geraschelt oder als Höhepunkt vom Klavier-Hocker gefallen bin. Die Schüler*innen sollten möglichst weiterspielen und sich nicht ablenken lassen.

Lassen Sie uns gerne hier einmal einsteigen. Den Effekt, auf den Sie hier gerade anspielen ist der sogenannte „Rumpelstilzchen-Effekt. In Ihren Büchern geben Sie noch weitere Störbeispiele, wie z.B. direkt nach dem Sport spielen (mit hohem Puls) oder mit verschiedenen Raumtemperaturen experimentieren.

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Fehlermanagement

Nicht den Fehler vermeiden, sondern die daraus resultierenden negativen Konsequenzen

Fehler sollten einfach, schnell und ohne Stress behoben werden. Nehmen wir das Beispiel einer Etüde, die wir gerade neu lernen. Im Erarbeitungsprozess verspielen wir uns in Takt 17. Wie würden wir nun im besten Fall vorgehen?

Fehlermanagement brauche ich dann, wenn ich mich auf der Bühne verspiele. Das bedeutet keine Grimassen machen, nicht aufhören, sondern einfach weiterspielen. Ein gutes Vorbild hierzu sind Expert*innen, die ebenfalls Fehler machen. Allerdings hört man sie nicht mehr so stark.

Im Erarbeitungsprozess eines neuen Stücks verhält es sich anders. Es gibt das deliberate practice. Darin teilt man das Stück in verschiedene Bereiche auf und schaut, welche Schwierigkeiten wo liegen.

Zum einen kann man sich harmonisch und satztechnisch mit der Fehlerstelle beschäftigen. Man kann sie in verschiedenen Varianten spielen. Man kann versuchen zu erforschen, wie man die Stelle bewegungstechnisch anders / besser musizieren kann. Auch die Frage, welche Aussage mit dieser Stelle getroffen werden soll, ist ein wichtiger Punkt. Also den Fokus auch auf die musikalische Intention legen und nicht nur auf die Bewegung.

Ich finde, man kann gar nicht oft genug betonen, wie wichtig dieses variantenreiche Üben ist. Können Sie erklären, warum dies so erfolgsversprechend ist?

Es gibt nicht nur ein Ziel, sondern es kommt darauf an, verschiedenes, also auch verschiedene Ziele und Foki zu explorieren. Es geht darum, weniger bewertend zu sein und nicht mehr EIN Richtig oder Falsch aufkommen zu lassen. Stattdessen werden die Spielräume geöffnet und im Hinblick auf eine Erweiterung exploriert. Wie könnte ich es spielen? Was will ich sagen? Wie könnte ich es anders spielen? was könnte ich noch ausprobieren? Das heisst es, umfassend zu üben und zu forschen. Die Folge ist, dass wir im Musizieren dann flexibler und emotional entspannter gegenüber sogenannten „Fehlern“ sind und kreativer mit Ihnen umgehen können, weil wir uns freier fühlen.

An dieser Stelle vielleicht kurz der Verweis auf das Interview mit Susan Williams, die in ihrem Buch „Optimal Üben“ mit den Spielkarten eine ähnliche Übe-Strategie vorschlägt. Ein typisches Gegenargument, dass sofort kommen könnte wäre, dass sobald man einmal einen Fehler eingeübt hat, es umso länger braucht, bis man ihn wieder überschrieben hat. Würde das nicht für eine sofortige Korrektur sprechen?

Man muss unterscheiden: wir sprechen nicht von einer gewissen Nachlässigkeit. Es gibt von Gerhard Mantel den schönen Ausdruck „Das Prinzip Hoffnung“ – also nur zu hoffen, dass es besser wird, muss unterschieden werden von einem bewussten und umfassenden Üben. Bei einem nachlässigen Üben können sich in der Tat Fehler einschleichen.

Fehler als Lehrkraft – Wie ermögliche ich Erfolg bei meinen Schüler*innen?

Wir haben den Fall ein Schüler, eine Schülerin oder im Hochschulkontext ein Student oder eine Studentin verspielt sich. Was wäre die beste Art zu reagieren als Lehrkraft? Sofort korrigieren, ignorieren und darauf setzen, dass der Schüler den Fehler sowieso selbst bemerkt hat?

Wenn Lernende aus Fehlern lernen sollen, dann müssen wir sie dazu aktivieren, selbst über ihre Fehler nachzudenken. Bei falschen Tönen habe ich meinen Klavierschülern mit dem sogenannten C-Turm eine gewisse Hilfestellung aufgebaut. Durch Fragen habe ich dann, vor allem die Anfänger-Kinder, hingeleitet, wie sie die richtige Tonhöhe finden können. Es ist wichtig, nicht sofort das Ergebnis zu verraten. Sonst ist ein Lernen aus Fehlern nicht möglich. Leider passiert dies immer noch viel zu häufig – besonders aus Zeitersparnisgründen.

Setzt das jeweils voraus, dass sich die Schüler*innen über ihren Fehler bewusst sein müssen?

Die Nachfragen funktionieren auch dann, wenn die Schüler*innen ihren Fehler vielleicht gar nicht selbst bemerkt haben. Natürlich: Je neuer man in einer Sache ist, desto weniger weiß man möglicherweise, welche Fehler man macht. Selbstverständlich muss ich ihnen dabei Orientierungshilfen an die Hand geben. Einen Weg zum Ziel, den sie spüren und nachvollziehen können.

Im Vorgespräch hatten wir kurz über die Podcast-Folge mit Prof. Eckart Altenmüller gesprochen. Auch bei ihm ist „spüren“ ein sehr wichtiger Punkt. Die Aufgabe von uns Musikpädagogen ist es daher, dieses „spüren“ bei unseren Schüler*innen im Unterricht erlebbar zu machen.

Zum Abschluss dieses Themenkomplexes hätte ich noch eine Nachfrage zum Bereich „Angst“. In ihrem Buch „Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern“ beschreiben, Sie dass das richtige Maß an Angst auch durchaus etwas positives sein kann. Wie ist das gemeint?

Man sagt, dass ein mittleres Maß an Angst das Ideal ist. Bei einem zu geringen Grad an Anspannung ist man gelangweilt (zu wenig Erregung) und bei einem zu viel an Anspannung tritt Überforderung ein, die bis zur Aufführungsangst gehen kann.. .  

Grafik zu Yerkes Dodson Gesetz

Mehr Informationen dazu:

Robert M. Yerkes and John D. Dodson (1908): the relation of strength of stimulus to rapidity of habitformation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18, 459-482.

Unterschiedliche Rollen der Lehrkraft

In Ihrer Literatur beschreiben Sie sehr ansprechend die verschiedenen Rollen einer Lehrkraft. Besonders gut hat mir der Vergleich Meister und Gärtner gefallen: Also der Lehrer wie ein Gärtner, der Rahmenbedingungen für seiner Schüler*innen schafft versus der Lehrer als Meister. Was steckt hinter diesen beiden Vergleichen?

Das sind zwei Rollen, die man als Lehrperson einnehmen kann. Und beide haben ihre Berechtigung. Es wird häufig polarisiert und gesagt, dass die Meister-Schüler-Lehrer vorbei sei und es nur noch die Ermöglichungsdidaktik geben sollte. Allerdings sind es bestimmte Momente, Stadien und Situationen, und vor allem die Bedürfnisse der Lernenden, die darüber entscheiden, welche Rolle ich einnehme.

Ich denke, dass wir schon weiterhin die Meisterin oder der Meister in unserer jeweiligen Domäne bleiben müssen. Zum Problem wird es, wenn man einseitig unterrichtet und nicht in der Lage ist diese Rollen zu wechseln.

Im Sinne der Ressourcenorientierung, wo man von Fehlern ausgeht, liegt es doch auch nahe auch den Lehrkräften diese Fehler zuzugestehen bzw. wäre es nicht sogar „förderlich“ – im Sinne von „ich verspiele mich selbst und zeige dir, dass Fehler völlig ok sind“?

Für mich klingt das komisch (lacht). Aber man muss sich gar nicht anstrengen, um sich zu verspielen. Das passiert von ganz allein. Es ist dann nur wichtig, mit diesen Situationen authentisch und offen umzugehen. Die Fehler also anzusprechen. Schülerinnen und Schüler mögen das.

„Es geht nicht um ein Automatisieren, sondern es geht darum sich intensiv mit der Musik auseinanderzusetzen und das Vertrauen darin zu haben, sie bestmöglich (nach seinen Möglichkeiten) vorbereitet zu haben. Es geht darum, eine Haltung zu entwickeln, die es mir ermöglicht auch während der Aufführung eine Gelassenheit und Flexibilität zu haben. Nicht nur meinen Fehlern gegenüber, sondern auch im Duktus des Werkes und der Musik.“

Silke Kruse-Weber

Fehler auf der Bühne

Passiert ein Fehler auf der Bühne, gibt es oft zwei unterschiedliche Umgangsformen, die man beobachten kann.

  • Ich verspiele mich und lasse mir anmerken, dass ich mich verspielt habe (denke weiter über den Fehler nach und verspiele mich in der Folger weiter)
  • Ich verspiele mich und sehe den Fehler als Motivation mich noch mehr anzustrengen

In Ihrer Literatur beschreiben Sie das erste Szenario als den sogenannten „Tausendfüßler-Effekt“…

Ja, der Tausendfüßler-Effekt kann passieren, wenn plötzlich eine Störung in einem vermeintlich automatisierten Ablauf auftritt. Wenn ich mich bspw. zu wenig umfassend (besonders auch kognitiv) mit einem Stück auseinandergesetzt habe, sind Blackouts nahezu vorprogrammiert, da ich das Stück nur motorisch gelernt habe.

Wenn Sie einen Tausendfüßler fragen, welchen Fuß er zuerst nimmt, kann er das plötzlich nicht mehr sagen. Beim Musizieren ist dies allerdings anders und daher ist auch die Vorbereitung so entscheidend. Besonders das wie wir üben.

Es geht nicht um ein Automatisieren, sondern es geht darum sich intensiv mit der Musik auseinanderzusetzen und das Vertrauen darin zu haben, sie bestmöglich (nach seinen Möglichkeiten) vorbereitet zu haben. Es geht darum, eine Haltung zu entwickeln, die es mir ermöglicht auch während der Aufführung eine Gelassenheit und Flexibilität zu haben. Nicht nur meinen Fehlern gegenüber, sondern auch im Duktus des Werkes und der Musik.

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Das Entscheidende ist also nicht nur das (motorische) Zusammenschütteln, wie wir eben besprochen haben, sondern das Werk zugleich auf vielfältige Weise kognitiv zu erfassen (harmonisch, historisch, satztechnisch…).

Genau. Dadurch lässt sich der Tausendfüßler-Effekt minimieren. Und vieles mehr. Man gewinnt Selbstwirksamkeit, insofern das Musizieren auf einem Durchdringungsprozess aller wesentlichen Parameter basiert.

Typisch ist beispielsweise, dass man sich nur die schweren Stellen anschaut und die vermeintlich leichten Stellen werden übersprungen. Das ist schade, denn genau dort kann der Tausendfüßler-Effekt auftreten.

Auf die folgende Frage widersprechen mir in den meisten Fällen meine Gäste. Ich würde allerdings wetten, dass Sie hingegen mir zustimmen würden: Das klingt nach einem sehr analytischen Vorgehen in der Vorbereitung auf ein Stück, oder?

Ich denke ja. Das Analytische ist wichtig.

Also eine Art „Fahrplan“ im Vorfeld zum Üben zu entwickeln ist durchaus sinnvoll?

Sie meinen, dass man sich dies vorher alles aufschreibt?

Nein, nicht zwangsläufig verschriftlichen – aber zumindest gedanklich einen Überblick im Vorfeld haben, bevor man an sein Instrument geht.

Sich im Vorfeld Ziele zu setzten und mögliche Wege dahin, das ist sehr wichtig. Noch wichtiger ist es allerdings sich im Nachhinein zu reflektieren, inwiefern die eigenen musikalischen Ziele erreicht wurden und wie ich mich dabei gefühlt habe. Dadurch verhindere ich zum Beispiel, dass sich ungünstige Bewegungen einschleifen.

Das Verschriftlichen dieses Prozesses ist nochmals eine größere Herausforderung. Ich habe dies einmal mit Studierenden versucht, die das sehr ungern gemacht haben. Jedoch haben einige im Nachhinein festgellt, wie hilfreich diese Arbeit war. In der Theorie ist dies von sehr großem Vorteil, allerdings wird es in der Praxis noch wenig umgesetzt. Möglicherweise steht hier noch ein Paradigmenwechsel vor uns…

Abschließend zum Thema: Gäbe es auch Ihrer Sicht einen Wunsch, wie sich die Fehlerkultur im Musikunterricht ändern sollte oder sehen Sie hier, dass sich bereits ein Wandel zum besseren vollzieht?

Ich denke ein Paradigmenwechsel hat bereits stattgefunden, jedoch ist er noch nicht überall angekommen. Es wird zunehmend mehr geforscht und es entstehen weiter Professuren für Instrumental- und Gesangspädagogik. In kleinen Schritten geht es vorwärts…

Wenn es einen Wunsch gibt, dann, dass die Polarisierung zwischen Theorie und Praxis weiter miniert wird und sie als etwas Zusammengehöriges begriffen werden.

Outro

Was lernen (üben) Sie gerade, was Sie noch nicht können? Gerne auch nicht musikalisch.

Kochen.

Welchen Tipp würden Sie Ihrem jüngerem, Erstsemester-Musikstudenten-Ich gerne mitgeben, um den Sie damals froh gewesen wären?

Es geht nicht um das wie viel des Übens, sondern um ein umfassendes und tiefgehendes Forschen.

„Es geht nicht um das wie viel des Übens, sondern um ein umfassendes und tiefgehendes Forschen.“

Silke Kruse-Weber

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Üben ist nicht gleich Üben. Das wissen wir alle. Aber was genau zeichnet effektives Üben aus? Die Wissenschaftlerin Susan Hallam hat hierzu viel geforscht und eine Definition vorgelegt. In diesem Artikel stelle ich vier Tipps und Tricks vor, wie richtiges Üben gelingt.

Effektiv Üben heißt…

Susan Hallam definiert effektives Üben als das, was uns zum gewünschten „Endprodukt“ führt und zwar in so wenig Zeit wie möglich, ohne dabei negative Auswirkungen auf unsere langfristigen Ziele zu haben. Sehr frei übersetzt könnte man auch sagen: Effektives Üben ist eben das, was funktioniert, ohne uns dabei zu schaden (z.B. durch Antrainieren einer ungünstigen Haltung o.Ä.).

Effektives Üben ist eben das, was funktioniert, ohne uns dabei zu schaden.

Diese Definition zeigt, wie stark effektives Üben von unseren persönlichen und individuellen Fähigkeiten abhängt. Eine Übe-Strategie, die für Person 1 funktioniert, bewährt sich noch lange nicht in gleichem Maße für Person 2. Zum anderen wird jedoch auch deutlich, wie stark der Erfolg beim Üben von der Beschäftigung mit uns selbst abhängt. Was ist damit gemeint?

Um überhaupt einordnen zu können, wie effektiv meine Übe-Einheit war, muss ich mir vor dem Instrumentalspiel Gedanken über das machen, was ich erreichen möchte. Soll ein bestimmtes Lied gelernt oder eine schwere Passage gemeistert werden? Möglicherweise möchte man in der Übe-Einheit auch nur einen Lick in verschiedenen Tonarten spielen können. Wichtig ist, sich darüber im Vorfeld Gedanken zu machen. Noch wichtiger ist es dann allerdings, nach dem Üben selbstkritisch zu schauen, inwiefern die zurückliegende Übe-Einheit auf dieses Ziel eingezahlt hat.

Üben geht nicht mit dem Auspacken des Instruments los

Tipp 1: Der Fahrplan

Studien zeigen, dass es sogar in Musikhochschulen nicht immer gelingt, Studierenden effektive Übe-Strategien an die Hand zu geben, mit denen eine Weiterentwicklung der eigenen musikalischen Fähigkeiten möglich ist . Das betrifft vor allem die Länge unser Übe-Einheiten. Denn, was oftmals unterschätzt wird, ist das ein zu viel üben nicht nur gesundheitliche Folge (z.B. Verletzungen) haben kann, sondern auch negative Auswirkungen auf das gelernte Material hat (siehe: Penelope-Effekt).

Wichtig ist daher auch die kognitive Beschäftigung mit dem Stück:

  • Wo liegen schwierige Passagen, die mehr Aufmerksamkeit benötigen?
  • Wie teile ich schwierige Stellen sinnvoll unterteilen?
  • Wie kann ich eine schwere Stelle schneller spielen? (siehe: 2 zu 1 Technik)
  • Welche Funktion hat meine Stimme?

Unser Üben sollte daher nicht erst mit dem Auspacken des Instruments starten. Die kognitive Beschäftigung mit dem Stück (harmonisch, satztechnisch, historisch etc.) stärkt unser Üben ungemein. Ganz nebenbei können sie auch dabei helfen dem Tausendfüßler-Effekt vorbeugen – dazu mehr in der Podcast-Folge mit Prof. Dr. Silke Kruse-Weber.

Möglicherweise hilft es sogar, sich eine Art „Fahrplan“ zu notieren. Welche Passagen benötigen mehr Aufmerksamkeit? Welche Techniken stehen mir zur Verfügung. Bis wann möchte ich das Stück können?

Üben in Chunks

Tipp 2: Schwierige Stellen sinnvoll aufteilen

Ist eine Passage in einem neuen Stück schwierig zu spielen, ist eine gängige Vorgehensweise wiederholen, wiederholen, wiederholen. Effektiv ist dies allerdings nur bedingt. Forschungen aus anderen Fachrichtungen haben gezeigt, dass unser Kurzzeitgedächtnis nur einen begrenzten Speicherplatz hat. Ungefähr sieben „Items“ können darin zeitgleich gespeichert werden.

Für unser musikalisches Üben bedeutet das, dass wir die Länge der zu übenden Stelle (auch Chunk genannt) sinnvoll auswählen sollten. Möglicherweise empfiehlt es sich, die Phrasenlänge anfangs etwas kürzer zu wählen, bevor man sie in größere Chunks überführt. So meistert man nach und nach die einzelnen Schwierigkeiten, ehe die ganze Passage fehlerfrei spielbar ist.

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Üben ohne Ablenkung

Tipp 3: Aus den Augen, aus dem Sinn

In einer Studie beobachteten Wissenschafler*innen 260 Studierende beim Lernen. Im Schnitt wurden sie alle 6 Minuten von ihrem Smartphone oder Laptop aus der Konzentration gerissen. Besonders Social Media Benachrichtigungen sorgten dabei für regelmäßige Ablenkung. Das Smartphone in den Flugmodus zu schalten, sobald man mit dem Üben starten möchte, ist also bereits ein guter Start. Ich arbeite zudem gerne mit der Pomodoro-Technik und verbanne in diesen 25-Minuten Übe-Einheiten mein Handy ganz aus meiner Nähe. Sonst werden die kleinen, fünf-minütigen Pausen doch meist ungewollt länger…

Mini-Pausen während des Übens

Tipp 4: Die richtige Erholung für unser Gehirn

Eine Studie aus dem Jahr 2021 konnte zeigen, dass kleine Pausen von 10-Sekunden einen immensen Einfluss auf den Speichervorgang in unserem Gehirn und somit auch auf unseren Lernerfolg haben. 

Studie zur 10 Sekunden Pause

Wie man in der Abbildung deutlich sehen kann, fand der Lernerfolg ausschließlich in den 10-Sekunden Pausen statt. Nicht jedoch während der 10-Sekunden Übezeit. Im Gegenteil: Mit nachlassender Konzentration sank die  Fähigkeiten der Teilnehmer*innen die Aufgabe korrekt auszuführen. Um also effektiv zu üben, sind nicht nur die „großen“ Pausen wichtig. Zum richtigen Üben gehören auch kleine Mini-Pausen für unser Gehirn.

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Down the rabbit hole

Literatur

Hallam, Susan: What do we know about practising? Towards a model synthesising the research lit- erature, in: H. Jørgensen & A. Lehman (Hrsg.), Does practice make perfect? Current theory and research on instrumental music practice (pp. 179–231).

Susan Hallam,Tiija Rinta, Maria Varvarigou and Andrea Creech: The development of practising strategies in young people.

Hallam, Susan: What predicts level of expertise attained, quality of performance and future musical aspirations in young instrumental players? Psychology of Music.

Foto-Credit: Cristina Gottardi

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