Zum Inhalt springen

Mentale Gesundheit in der Musik

Dr. Daniel Scholz ist Professor für Musizierendengesundheit an der Hochschule in Lübeck. Als Neurowissenschaftler, Diplom-Psychologe, Verhaltenstherapeut studierte er zudem auch Jazz Komposition und arbeitet weiter als Musiker. Die Besonderheit seiner Stelle: ganz explizit fokussiert er sich auch auf die mentale Gesundheit von Musikerinnen und Musikern.

Ich habe mit ihm über konkrete Techniken zur Prävention von mentalen Problemen in unserem Beruf gesprochen. Natürlich durften Methoden zum Umgang mit Auftrittsangst und Lampenfieber ebenso wenig fehlen wie Tools zur Selbstorganisation.

Dr. Daniel Scholz - Professor für Musizierendengesundheit
Prof. Dr. Daniel Sebastian Scholz (Foto: © Laura Hinz)

Wichtige Organisationen

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Daniel Scholz lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

Spotify

Apple Podcast

Das Interview

Inhalt

Dass ich mit einem Interviewpartner mich zweimal treffe, ist tatsächlich jetzt in knapp 30 Folgen eine Premiere für mich. Entsprechend bin ich ein bisschen nervös.

Als ich im Vorfeld drüber nachgedacht habe, kam mir der Vergleich in den Sinn, dass unsere Situation jetzt ja so ähnlich ist, wie eine Auftrittssituation beziehungsweise eine „Minitour“ mit zwei Terminen. Wir haben uns für den ersten Termin vorbereitet. Es kam, zumindest für mich, zu einem guten Ergebnis und ich war sehr zufrieden. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an den Termin heute. Was wäre denn ein Tipp, den Sie mir mitgeben könnten, damit ich aus unserem Gespräch auf jeden Fall zufrieden rausgehe und nicht enttäuscht wäre, dass die erste Version aus technischen Gründen doch nicht funktioniert hat?

Da gibt es zwei Aspekte: Zum einen müssen Sie drüber nachdenken: Wie häufig müssen Sie ein Programm spielen, damit das wirklich gut wird? Sind zwei Termine ausreichend?  Die Antwort wäre wahrscheinlich nein. Sie müssten das auf jeden Fall, ich würde sagen, fünf bis zehn Mal spielen, bis so ein Programm wirklich gut wird.

Das ist auch etwas, woran zum Beispiel die Musikhochschulen total kranken. Wir haben ein Programm, erarbeitet und spielen das vielleicht ein- bis zweimal live. Es kann dann noch gar nicht gut sein, weil die Fallen und die Situationen, wenn es tatsächlich live ist, verändern sich. Sie fliegen im Zweifelsfall an anderen Stellen raus, als in der Vorführung davor und in ganz anderen Stellen, als zum Beispiel im Proberaum.

Und dann würde ich einen Baustein aus der Acceptance and Commitment Therapy empfehlen. Also man muss das akzeptieren, was man nicht ändern kann und deshalb einfach hinnehmen und sich dessen bewusstwerden. Jede Aufnahme und jeder Auftritt ist immer nur eine Momentaufnahme. Das ist das, was in diesem Moment möglich war.

Wenn man so möchte, haben wir da jetzt schon so eine kleine Lektion in „Resilienz“ erfahren. Sie hatten beim letzten Mal das schöne Zitat von Eckert Altenmüller erwähnt: „Im intergalaktischen Zusammenhang ist unser Fauxpas eigentlich bedeutungslos“. Von daher würde ich sagen, starten wir direkt rein und fangen noch mal mit unseren „Entweder-oder-Fragen“ an.       

Entweder-Oder-Fragen

Jimmy Hendrix oder Francisco Tarrega?

Schwierig. Francisco Tarrega war die erste Prägung an der klassischen Gitarre. Später hat auf auf jeden Fall Jimmy Hendrix übernommen. Ich habe hier sogar im Büro eine Jimmy Hendrix-esk bemalte Gitarre stehen, auf die besagte Eckart Altenmüller auch immer in Auge geworfen hat.

Ab 15, 16 Jahren hat Jimi Hendrix von Francisco Tarrega übernommen. Aber ich muss natürlich sagen, Tarrega ist im Zweifelsfall der Urvater.

Selten und viel oder immer und wenig?

Immer und wenig.

Wie wichtig würden Sie sagen, sind freie Tage für Musiker:innen in der Woche? Es ja typisch, vor allem in der Freiberuflichkeit irgendwann, dass man sich diesen berühmten freien Samstag/freien Sonntag nur ganz selten gönnt oder auch nur gönnen kann, weil Konzerte anstehen.

Extrem wichtig. Ich versuche das auch, allen Studierenden einzubläuen, dass sie ihr Zeitmanagement so hinkriegen müssen, dass es einen freien Tag gibt. Das muss ja nicht Samstag oder Sonntag sein. Es kann auch unter der Woche sein, so wie der Friseur z.B. den frei macht. Es muss auf jeden Fall ein Ausgleich und ein gewisser Abstand zum Instrument geschaffen werden. Das ist ein extrem wichtiger Baustein für Konsolidierung, also Verfestigung von Gedächtnisspuren.

Social Media oder Social Media Detox?

Lieber Social Media Detox.

Sie sind ja selber auch gar nicht aktiv auf Social Media. Wie beobachten Sie den Einfluss von Social Media insgesamt auf Studierende? Als Musikschaffender ist man in dieser besonderen Situation, dass eigentlich die Mitstudierenden, die Mitmusiker, immer auch Konkurrentinnen und Konkurrenten sind. Insofern kommt man fast gar nicht mehr ohne ein aktives Social-Media-Profil, ein aktives Verkaufen aus. Trotzdem geht damit immer auch ein andauerndes Vergleichen und Bewerten einher. Was raten Sie da Studierenden, wie man damit einen gelassenen Umgang findet – gleichzeitig aber auch in dem Wissen, man muss es ja heute irgendwie auch anbieten?

Ja, ich denke auch, dass man es heute leider anbieten muss. Außer man arbeitet in so einer ganz klaren Nischenbranche, wo es noch auf Zuruf und auf direkten Kontakt mit Leuten geht. Aber auch viele Freunde von mir beziehen hauptsächlich ihre Auftritte über Social-Media-Anfragen. Also ich fürchte, man muss es machen. Und dann ist der wichtige Baustein oder der wichtige Weg, dass man sich darüber klar wird, dass das ist ein Teil des Jobs ist und nicht ein Teil des Selbst. Und das ist leider genauso. Es ist so: Als Musiker müssen Sie einen Bauchladen haben, in dem Sie unterschiedliche Fähigkeiten anbieten und da gehört eben das Selbstmanagement und die Vermarktung auch dazu. Also ich würde allen wünschen, dass sie eher ein Management oder eine Booking-Agentur oder irgendjemand haben, der sie nach außen verkauft, aber das ist den wenigsten vergönnt.

Das stimmt. Tübingen oder Lübeck?

Heutzutage lieber Lübeck.

Wir kommen schon zur letzten „Entweder oder-Frage“: Musiker, Komponist oder Professor für Musizierenden Gesundheit?

Auch heutzutage eher Professor für Musizierenden-Gesundheit, wobei ich auch immer versuche, die Musik-und die Kompositionsaktivitäten aufrechtzuerhalten. Das wechselt immer ein bisschen in der Intensität. Auf der anderen Seite ist es so, dass ich ein gutes Basiseinkommen habe und ich jetzt nur noch Musik mache, auf die ich Lust habe. Das heißt, ich kann eigentlich freier und entspannter Musik machen.

Absolut. Was sich wahrscheinlich auch sehr gut auf die mentale Gesundheit am Ende auszahlt. Sie sind seit dem Wintersemester 2022/2023 Professor für Musizierendengesundheit in Lübeck. Da gibt es erstmals deutschlandweit den Schwerpunkt, dass besonders auf die mentale Gesundheit geschaut wird. Jetzt sind seit 2022/2023 knapp vier Semester vergangen. Würden Sie sagen, dass Sie einen offeneren Umgang mit mentalen Problemen, mentaler Gesundheit allgemein im Kosmos der Hochschule Lübeck feststellen? Oder ist es dafür noch zu früh, für so eine Art Wandel?

Einen absoluten Wandel, denke ich, kann man noch nicht sehen. Dafür ist es noch zu früh. Aber insgesamt würde ich schon sagen, dass es vor allem seit Corona gesamtgesellschaftlich eine größere Offenheit gegenüber Themen der mentalen Gesundheit oder eben auch mentaler Belastung gibt. Und dann muss ich sagen, insgesamt sind die Studierenden an der Musikhochschule in Lübeck sehr offen und sehr interessiert, was mentale Gesundheitsangebote angeht.

Man kennt es aus dem Pop-Bereich eigentlich schon ein bisschen länger, dass sich immer wieder berühmte Musikerinnen und Musikern zu mentalen Problemen öffentlich bekennen dieses Enttabuisieren, was Sie auch gerade angesprochen haben, fördern. Ich habe jüngst in der Vorbereitung, ein Arte -Tracks-Format mit Franziska Lauter vom MIM-Verband entdeckt. Und natürlich ist diese Vorbildfunktion von solchen privilegierten Musikerinnen und Musikern auf gar keinen Fall hoch genug zu bewerten. Allerdings, es klang vorher schon ganz an, dass die Situation natürlich nicht eins zu eins vergleichbar ist mit einem Freelance-Musiker im klassischen oder im Jazz-Bereich. Würden Sie sagen, dass es trotzdem auch in der Klassik oder im Jazz-Bereich vermehrt Trends gibt, sich zu öffnen? Oder ist das immer noch, vor allem in Orchestern, eher weiter ein Tabuthema?

Also es ist schon noch ein Tabuthema, aber nicht mehr so, wie in den 70er Jahren. Ich denke, da hat auch die Gesamtgesellschaft einen Einfluss drauf. Wir dürfen hier auch ein Seminar anbieten zum guten Umgang mit Lampenfieber. Das war auch explizit gewünscht, als ich hier angefangen habe.

Jetzt würde ich aber auch sagen, genauso wie Sie es ja gerade schon umrissen haben, diese Situation, das heißt in der Fachwelt, celebrity musicians, die bekannt sind und eine ganz andere Infrastruktur haben, die ist nicht übertragbar auf den Großteil der Freelance Musicians. Sie führen ein ganz anderes Leben, nämlich das mit dem Bauchladen: Ich unterrichte ein bisschen, dann habe ich noch meine Auftritte, vielleicht komponiere ich noch oder vielleicht mache ich noch Marketing oder Social Media für irgendjemand. Oder ich mache, was ich ganz häufig sehe bei Musikkollegen, noch Fotografie. Oder ich mache einen Podcast.

Das heißt, Sie müssen relativ breit aufgestellt sein. Und da kommen dann natürlich andere Schwierigkeiten. Wenn ich die finanzielle Grundversorgung nicht habe, kann ich mich auch gern zu meinem mentalen Gesundheitsproblem bekennen. Aber wie soll ich das stemmen, wenn ich, sage ich mal ganz harsch, nichts zu essen habe oder die Miete nicht bezahlen kann? Also dann bin ich zurückgeworfen auf die Künstlersozialkasse und muss irgendwie gucken, dass ich da wieder rauskomme. Oder ich muss vielleicht schauen, dass ich einen anderen Job finde, der meine Miete bezahlen kann.

Warnsignale und Prävention zur mentalen Gesundheit von Musiker:innen

Lassen Sie uns gerne mal einen Schritt zurückgehen und vielleicht, bevor wir uns über das Äußern von mentalen Problemen unterhalten, noch auf typische Warnsignale und Präventionsmerkmale eingehen. Können Sie ein paar typische Warnsignale skizzieren, die sich in Bezug auf mentale Gesundheit, immer wiederholen und die man als Musikerin und Musiker im Auge haben sollte?

Das sind die typischen gesellschaftlichen Warnsignale im Psychologie-, Psychotherapie-Bereich:

Wenn Sie jetzt dauerhaft Schlafstörungen haben, wenn Sie merken, dass das Beruhigungsbier am Abend nicht bei einem, sondern eher bei fünf Bieren bleibt. Oder der Joint. Wenn Sie merken, dass Sie Ihren Schlaf-und Wachrhythmus nicht mehr hinkriegen, oder Sie haben massive Antriebsschwierigkeiten. Das heißt, Sie kommen nicht mehr aus dem Bett, Sie liegen auf der Couch, Sie schlafen ganz arg viel oder sie schlafen ganz arg wenig. Das sind so die Warnsignale, die man kennt. Panikattacken – Wenn Leute noch zu sehr starken Reaktionen neigen, mit sehr häufigen Weinen oder Davonlaufen aus Situationen oder einem Erstarren. Das sind so die üblichen Warnsignale.

Und lässt sich da vorbeugend irgendwas machen?

Zum Beispiel einen Tag frei die Woche. Im Ernst, das ist ganz arg wichtig. Und da zu gucken, wie halte ich das mit meiner Schlafhygiene? Wie viel kann ich realistischerweise üben oder an meinen Projekten arbeiten pro Tag? Schaffe ich es, irgendwie noch einen Ausgleich zu finden? Habe ich noch genug Kontakt mit Freunden, Bekannten, Verwandten? Und schaffe ich es auch noch, vielleicht Sport zu machen oder so was? Sie brauchen Ausgleich und Sie brauchen Abstand auch von dem MusikerInnen-Dasein.

Tipps zur Selbstwirksamkeit

Auf diesen Ausgleich würde ich gleich noch mal gerne ein bisschen konkreter eingehen. Ich finde, wir hatten es ja ganz am Anfang schon so leicht spaßeshalber angedeutet, dass wir so eine kleine Lektion in Resilienz hatten. Und wenn man Resilienz sagt, dann weiß eigentlich jeder seit Corona auch, dass Selbstwirksamkeit damit immer einhergeht. Und ich finde, gerade als Musiker:in ist Selbstwirksamkeit ja sehr schwierig. Neue Dinge manifestieren sich in unserem Spiel, in unserer Karriere erst sehr spät. Wenn ich heute ein neues Programm übe, heißt das ja nicht, dass ich es heute Abend auch sofort kann. Das heißt, Selbstwirksamkeit als Musiker, das Erfahren von „Ich mache was und es verbessert sich“ ist eher ein langfristiger Prozess. Wie schafft man denn es als Musiker, Musikerin, diese Selbstwirksamkeit für sich erfahrbar zu machen?

Durch ein Tracking: Was habe ich mir vorgenommen? Was habe ich davon geschafft? Dass Sie wirklich auch relativ kleinteilige Tagespläne schreiben. Und da gehören dann auch schon wirklich ganz alltägliche Sachen dazu, wie:

  • Ich wollte die Saiten auf meiner Gitarre wechseln
  • Ich wollte mich um neue Blätter kümmern oder ein neues Mundstück oder so was.

Und dass Sie zum einen wirklich etwas zum Abhaken haben und dass Sie nicht das große Ganze aus dem Blick verlieren. Musikerinnen und Musiker bringen eine extreme Frustrationstoleranz mit, sonst könnten sie nicht ihr Instrument spielen. Aber natürlich ist es häufig so, dass sie ein bisschen aus dem Blick verlieren, was sie eigentlich an dem Tag geschafft haben und, ob sie etwas geschafft haben.

Und dann, ganz wichtig, ein Ressourcentagebuch, wo sie sich aufschreiben, was Sie gut gemacht haben und was Sie gut geschafft haben. Sodass Sie an Tagen, an denen es Ihnen schlechter geht, oder an denen Sie nicht so zuversichtlich sind, Sie nachschauen können und sagen können: „Hey, ich kann bestimmte Sachen gut, oder bestimmte Leute haben was Positives zu mir gesagt oder haben gesagt, dass sie was beeindruckt.

Das heißt, Sie führen im Grunde eigentlich zwei Tagebücher, wenn man so möchte. Einen To-Do-Block, wo Sie anstehende Aufgaben aufschreiben. Das geht quasi auf das Konto Selbstwirksamkeit. Und dann haben Sie ein zweites Büchlein, das Ressourcentagebuch, wo nur positive Sachen drinstehen.

So würde ich das empfehlen. Im Ressourcentagebuch stehen nur positive Sachen drin, weil wir die sonst aus dem Auge verlieren und vergessen. Defizite bleiben uns automatisch im Gedächtnis. Deshalb brauchen Sie sie eigentlich gar nicht aufzuschreiben.

Ausgleich als Musiker:in finden

Wir den Selbstwert als Musiker angesprochen und, dass man es versuchen sollte andere Hobbys zu haben, Sport machen oder sich mit Freunden zu verabreden. Das finde ich nämlich eine interessante Beobachtung –gar nicht nur an mir, aber auch in meinem Umfeld –, dass Musikerinnen und Musiker natürlich sehr stark geneigt sind, ihren Selbstwert an musikalische Erfolge zu koppeln. Sprich: das Konzert lief gut, es geht einem gut. Es geht sogar so weit, dass wenn man einen guten Übetag hat, dass das Umfeld das feststellt und man gute Laune hat. Entsprechend aber auch andersrum. Was sind gute Techniken, um das zu trennen? Also wie schaffe ich es denn, meinen Selbstwert nicht mit meinem musikalischen Erfolg zu koppeln?

Ja, das ist eine wichtige Aufgabe und ich denke, die ist auch ganz essenziell. Es ist wichtig, dass Sie es schaffen, sich darüber klarzuwerden, dass Sie nicht ihr Instrument sind. Sie sind jetzt nicht nur ein Trompeter oder eine Trompete, sondern Sie sind Podcaster, Sie sind ein liebevoller, fürsorglicher Katzenvater und ein toller Partner und so weiter. Also dass man sich diese ganzen Sachen wirklich bewusst macht. Und da ist auch noch mal ein anderer Aspekt: Ich denke, es ist sehr wichtig für Musikerinnen und Musiker, auch Freunde zu haben, die nicht Musiker sind. Weil sonst laufen die ganze Zeit Vergleichsprozesse unterschwellig ab.

Das heißt, das müssen Sie wirklich versuchen zu trennen und zu sehen, was Sie eben noch alles andere können und, dass Sie in erster Linie mal ein Mensch sind, und nach Carl Rogers ein bedingungslos liebenswerter Mensch. Tollerweise spielen auch noch ein Instrument oder singen. Aber das ist nur eine Kirsche auf dem Sahnehäubchen und nicht das Fundament.

Und weil Sie gerade die Vergleichung mit Kollegen noch mal angesprochen hatten: ich glaube, in unserer ersten Version des Interviews hatten Sie das mit dem Begriff „Prozessorientierung“ zusammengefasst. Wenn man sich vergleicht, dann nur mit früheren Versionen von einem selbst und nicht mit anderen Kollegen und Kolleginnen, die andere Gegebenheiten und auch vielleicht andere Umstände haben, in denen sie arbeiten und wirken.

Genau, da haben Sie recht. Also weg von so einer Produktnorm – das ist das Ergebnis, das sind meine Klicks auf YouTube oder im Podcast-Format. Sondern hin zu, wie Sie sagen, dem Prozess: Wie habe ich das früher gemacht? Wie habe ich mich individuell weiterentwickelt? Und auch gar nicht unbedingt so sehr auf dieses eine Stück, sondern mehr: Was habe ich für Mechanismen gelernt? Wie kann ich mit Sachen besser umgehen? Und das kann dann auch sein, dass ich selbstfürsorglicher mit mir umgehe, dass ich es inzwischen besser schaffe, meinen freien Tag die Woche einzuhalten oder, dass ich es besser schaffe, Feierabend zu machen usw.

Zusammenhang Depression und Auftrittsangst

Ich bin in der Vorbereitung auf eine sehr spannende Studie von Ihnen gestoßen, unter anderem auch gemeinsam mit Eckert Altenmüller, wo es den Zusammenhang zwischen geringem Selbstbewusstsein, Depression und Auftrittsangst geht. Sie haben herausgefunden, dass es einen entscheidenden Zusammenhang zwischen geringem Selbstbewusstsein in Kombination mit Auftrittsangst gibt, die zu einer Depression führen kann. Auf die Gefahr hin wahrscheinlich, dass Sie die gleichen Techniken gleich wieder erzählen, aber ich finde es trotzdem sehr spannend: Wie kann man dem vorbeugen? Beziehungsweise, wenn man merkt, ich steuere vielleicht auf so was zu, oder ich bin vielleicht schon in so einer depressiven Episode, wie komme ich denn da wieder raus? Oder schafft man das überhaupt alleine wieder da rauszukommen?

Also wenn ich in einer wirklichen Depression drin bin (wenn das nicht nur eine leichte depressive Phase ist – aber das kann man natürlich nur schwer einschätzen als Nichtfachperson) dann muss ich mir professionelle Hilfe suchen. Und bis dahin: Ressourcentagebuch.

Was Christine Sickert – das ist meine Doktorandin, die diese Arbeit verfasst hat, gesehen hat – ist, dass eben der zu geringe Selbstwert in Kombination mit der Auftrittsangst zu der depressiven Phase führt. Vielleicht auch noch mal ein anderer Aspekt, dass zum Beispiel diese Auftrittsangst, nicht immer eine Auftrittsangst sein muss, sondern es kann auch „nur“ Lampenfieber sein. Also das heißt, wie man das Ganze framed, wie man das Ganze für sich bewertet ist entscheidend.

Das heißt, dieser ganze Reflexionsprozesse und auch dieses Bewusstsein „Ich bin nicht nur Musiker, sondern auch andere Dinge, das ist wahrscheinlich in unserer heutigen Zeit mitunter die wichtigste Kompetenz, die Musikerinnen und Musiker mit bringen sollte –  abseits natürlich von fachlichem Können, um ein möglichst langes, mental gesundes und auch dann auch körperlich gesundes Berufsleben führen zu können, oder?

Ja, auf jeden Fall. Und da würde ich auch noch mal ein bisschen in ein Horn stoßen, dass diese Geschichte, von wegen „Ihr müsst alles auf eine Karte setzen und „Ihr müsst nur das wollen und so weiter, sonst könnt ihr es nicht schaffen“, dass das auf jeden Fall ein altes Märchen ist, was ich überhaupt nicht befeuern wollen würde. Sondern wir haben sehr viele Facetten und Musiker, Künstlerinnen sind in der Regel sehr offen und ziemlich vielseitig und wir sollten auch in der Ausbildung gucken, dass weitergehende Interessen gefördert. Und das kann auch sein, dass sie dann nebenher noch Psychologie oder Medizin studieren.

Alles auf eine Karte setzen

Dieses Mantra, dass man im besten Fall irgendwann alles auf eine Karte setzen muss, hält sich ja trotzdem hartnäckig. Ich habe jetzt gerade lustigerweise vor ein paar Tagen auf ein Interview aus einem Podcast mit Braxton Cook gestoßen. Das ist ein Saxophonist aus den USA. Und ich verkürze das Zitat ein bisschen, aber er meinte sinngemäß, dass man an irgendeinem Punkt in seiner musikalischen Karriere mal so richtig – er hat das obsessed sogar genannt („you have to be obsessed once“) sein muss. Einfach, um diesen musikalischen Erfolg zu generieren. Das widerspricht ja eigentlich diesem: „Wenn du Bock hast, noch Psychologie zu studieren oder Medizin zu machen, go for it“.

Am Ende, das ist ja auch so ein bisschen dieses Hochstapler-Syndrom, zumindest kenne ich das, dass man als Musiker, der viele Sachen parallel macht, ganz oft auch das Gefühl hat: „Ich mache das, das und das, aber eigentlich so wirklich können, tue ich von dem nichts so wirklich. Das spricht dann wieder eher für das Mantra, dass man sich an irgendeinen Punkten in seiner Karriere für eins entscheiden sollte, oder?

Aber realistisch gesehen ist es doch so, dass 95 bis 97% der Musikstudierenden Musikhochschul-oder Musikschullehrer werden. Das heißt, sie unterrichten, spielen sie noch Gigs und vielleicht machen sie noch etwas anderes. Das heißt, auch da sind sie schon mehrgleisig unterwegs. Instrumentallehrer, wenn sie von der Musikhochschule kommen, sind völlig überqualifiziert. Also ich sage jetzt mal, wenn Sie in Hannover Konzertexamen klassisches Klavier haben und dann an der Musikschule anfangen, dann machen Sie Hänschen klein mit 5-Jährigen und 7-Jährigen. Und Sie könnten aber eigentlich Klavierkonzerte spielen, überall auf der Welt, mit renommierten Orchester. Aber es gibt leider nicht so viele Stellen für die ganzen Pianist:innen. Das heißt, da gehört viel Glück dazu. Da gehört natürlich Fähigkeit dazu, aber auch Glück. Da gehört auch eine gute Management-Fähigkeit dazu – also auch von Außenstehenden, die Sie unterstützen und die Sie in die richtigen Bahnen lenken.

Und dann habe ich noch eine Anmerkung zu „you have to be obsessed once“. Das geht ja. Sie können sagen: „Okay, nach dem Studium werde ich wahrscheinlich nie wieder so viel Zeit haben, zu üben wie jetzt“. Später muss ich dann ganz andere Sachen machen. Und dann können Sie sich im Studium extrem ausgiebig ihrem Instrument und ihren Fähigkeiten widmen. Und da finde ich z. B. Charlie Parker, auch ein sehr berühmter Saxophonist, der gesagt hat: „Ja, Du musst alles üben und können. Und dann vergiss es und spiel einfach.“ Das heißt, es ist ja durchaus der Raum dafür, „to be obsessed“ zu sein. Die Frage ist nur, über welchen Zeitraum sich das streckt. Das kann ja auch immer wieder sein. Danach ist es die Aufgabe wieder zurückzukehren und zu sagen: „Okay, dieses Daily-Business muss halt auch irgendwie weitergehen. Und ich kann nicht komplett sagen: „Es interessiert mich jetzt alles nicht mehr. Steuererklärung brauche ich auch nicht machen. Ich brauche auch nichts zurückzulegen, weil ich bin Künstler und ich kann mich nur voll und ganz meinem Instrument widmen und, um alles andere müssen sich die anderen kümmern.“

Da habe ich auch ein Problem mit dieser Geschichte von 10 Jahre, 10.000 Stunden: „Ja, klar, üb einfach zehn Jahre lang 10.000 Stunden und dann wird es schon irgendwie laufen.“ Sie absolvieren die Musikhochschule, Sie machen ihren Bachelor oder Master oder sogar Konzertexamen – das Problem ist, da wird leider niemand kommen und sagen: „Hey, ich weiß, dass du so fleißig geübt hast. Du kannst das jetzt alles spielen. Ich habe einen Job für dich.“ Sondern das sind zwei unterschiedliche Aspekte.

Also es gibt die inhaltliche und das andere ist eher so eine Management-Geschichte. Also Selbstmanagement, was wir vorhin auch schon angesprochen hatten: Social Media, Selbstvermarktung. Irgendjemand muss wissen, dass ich was sehr gut kann, sonst werde ich keine Aufträge kriegen.

Das nennt sich in der Psychologie „Believe in a Just-World“-Hypothes. Also was die Musikstudierende häufig am Anfang vor allem noch glauben, ist: „Wenn ich nur so und so viel übe, dann gibt es einen gerechten Gott und danach kriege ich irgendeinen Job, weil ich irgendwas kann.“ Und das ist die fiese Desillusionierung.

Es gibt wahnsinnige wahnsinnig viele gute Musiker:innen da draußen und die Musikhochschulen bilden eigentlich zu viele Leute aus.

Wo Sie gerade das „Believe in a Just World“ angesprochen haben, da fiel mir sofort ein Zitat von Andrea Petkovic, der Tennensspielerin, ein. Sie hat auch ein Buch geschrieben und ich glaube, es war im Zusammenhang mit dem Buch, wo sie in einem Podcast mal von einer Meritokratie gesprochen hat, also diesem „You merit something“ („Das hast du dir verdient“ in diesem Sinne). Und diese 10.000 Stunden, 10 Jahre, das ist ja diese berühmte Ericson-Studie, wenn ich das richtig im Kopf habe. Die wurde auch in Teilen inzwischen wiederlegt, habe ich zumindest gelesen, oder?

Ja, auf jeden Fall. Und da muss man natürlich auch noch sehen, wir haben einen ganz klaren Bias, was die Auswahl von den Leuten angeht, die diese Interviews geben. Also in der Regel werden die Leute interviewt, die es geschafft haben und nicht irgendein zufälliger Mensch. Und dann erstens mal reproduzieren die ganz häufig die alten Geschichten, die sie selber so gehört haben von Leuten, die es geschafft haben. Und dann ist es auch noch so, dass das natürlich für die Selbstwirksamkeit derjenigen, die es geschafft haben, was auch immer das bedeuten mag, total gut ist, zu sagen: „Ja, das liegt daran, dass ich einfach so hart gearbeitet habe.“ Das ist völlig in Ordnung.

Ich finde, es ist ganz wichtig, dass Sie ihre Erfolge auf ihr Können und ihre Fähigkeiten attribuieren. Aber natürlich: wenn Sie sagen: „Hey, ich bin jetzt Solist der Berliner Philharmoniker, aber das hätten auch einige andere werden können.“ Das ist nicht so selbstwertdienlich, wie zu sagen: „Nein, das liegt daran, dass ich so hart gearbeitet habe.“

Das ist dann ein ganz schmaler Gerade, wenn wir wieder auf unser Ressourcentagebuch von eben schauen, sich selber ehrlich zu machen und das auch genauso aufzuschreiben

Auf jeden Fall. Es ist nur so, dass ich mir bei den Interviews mit celebrity artists wünschen würde, dass sie sich dessen bewusst sind, dass sie auch einen pädagogischen Impact haben.

Natürlich finde ich es wichtig, dass selbstwertdienliche Ereignisse auf die eigene Arbeit und auf die eigene Selbstwirksamkeit attribuiert werden. Nur die Frage ist, wie man das dann weitergibt. Also, ob man den Leuten auch sagt: „Okay, ich biete dir für dich eine Attribution, die dir hilft. Nämlich zum Beispiel, dass du das Probespiel nicht gewonnen hast, liegt sicher auch daran, dass jemand anders halt mehr Glück gehabt hat oder, dass du vielleicht an dem Tag einen schlechten Tag hattest.“ anstatt zu sagen: „Ja, du hast einfach nicht hart genug gearbeitet.

Lampenfieber

Ich würde gerne noch zum Abschluss einmal auf das Thema Lampenfieber zusprechen kommen. Sie bieten ja in Lübeck an der Hochschule ein eigenes Seminar dazu an. Sind Sie denn selber manchmal noch aufgeregt vor Konzerten, Interviewsituationen, wenn Sie Vorträge halten irgendwo?

Auf jeden Fall. Also es kommt auch immer drauf an, wie ich geübt habe. Ich habe zum Beispiel vor nicht allzu langer Zeit gemerkt, dass ich einen Fachvortrag auf Englisch halten musste über unterschiedliche Themen, in denen ich zum Teil nicht mehr so drin war, weil das Tagesgeschäft gerade was anderes ist. Und früher habe ich das ganz regelmäßig gemacht und da war das überhaupt kein Problem. Und jetzt merke ich zum Beispiel: Okay, ich bin gerade in einer anderen Thematik. Ich spreche in letzter Zeit häufig auf Deutsch und dann muss ich erst mal so ein bisschen suchen und merke, da geht die Nervosität hoch, weil ich mich nicht ganz so souverän fühle.

Und das andere ist auch auf jeden Fall: Ich hatte früher schon sehr oft ausgeprägt Lampenfieber, vor allem jetzt bei Francisco Tarreger. Das war nicht ohne und ich habe da auch einen Weg hingelegt.

Ich würde auch sagen, dass ich jetzt davon nicht frei bin. Das variiert. Häufig merke ich zum Beispiel erst hinterher, dass ich doch ganz schön aufgeregt gewesen bin und dann mache ich was dagegen. Oder ich sage mir hinterher: „Ja, ist doch okay. Also es war noch im Lampenfieber-Bereich – es war noch keine Auftrittsangst.

In Ihrem Seminar wird es so umgesetzt, dass Sie mit klassischen Expositionsübungen arbeiten. Das heißt, Studierende spielen sich einfach im Seminar gegenseitig vor. Kann man daraus schließen, dass viel Vorspielen gleich irgendwann weniger Auftrittsangst, weniger Lampenfieber?

Das ist das eine. Und dann, was noch ein ganz essentieller Baustein ist, dass Sie danach positive Selbstauslagen treffen müssen. Also Sie müssen sich hinsetzen vor die versammelte Gruppe und müssen mindestens zwei positive Sachen über ihr eigenes Spiel sagen. Und das fällt denen total schwer. Das ist einfach nicht in unserer Kultur. Wir haben eine sehr defizitorientierte Kultur und Leute, die was Positives über sich selbst sagen, werden sehr schnell als arrogant und überheblich abgestempelt. Deshalb üben wir so was ganz explizit. Zwei positive Sachen über das eigene Spiel und die eigene Performance sagen.

Tipps gegen Lampenfieber als Musiker

Hätten Sie denn zum Abschluss von diesem Themenkomplex eine sehr gut nachmachbare Übung, Atemübung beispielsweise, um sich ganz konkret in der Konzertsituation vor einem Auftritt ein bisschen zu entspannen und für den Auftritt ein bisschen weniger aufgeregt zu sein?

Also könnten Sie zum Beispiel Lippenbremse machen oder atmen im Dreivvierteltakt. Es geht dann so, dass Sie einen Dreivvierteltakt einatmen und dann zwei Dreivvierteltakte lang durch den Mund aus. Dann machen Sie einen Dreivvierteltakt Pause und fangen dann wieder von vorne an. Machen Sie so viele Zyklen, bis Sie merken, das es einen Effekt auf Sie hat. Ganz wichtig ist, dass Sie das in ihre Übelroutinen einbauen, damit Sie darauf ganz automatisch zugreifen können und nicht in einer Aufregungssituation das alles über den Haufen werfen.

Outro

Was lernen oder üben Sie gerade, was Sie noch nicht so gut können? Darf gerne auch nicht musikalisch sein. Beim letzten Mal war es melodisch Moll über halbverminderte Akkorde. Ist es das weiterhin?

Ja, tatsächlich habe ich gestern Abend erst wieder geübt. Es ist sehr konkret und vielleicht ein bisschen sehr abstrakt für Leute, mit nicht-musiktheoretischem oder Jazz-Hintergrund: E-Moll7b5 als Brechung über einen G-Moll 6, also mit einer großen Sechste funktioniert. E-Moll7b5 ist austauschbar ist mit G-Moll 6.

Und welchen Tipp würden Sie aus Ihrer heutigen Perspektive gerne Ihrem jüngeren Erstsemester-Musik-oder Psychologiestudierenden-Ich mitgeben, um den Sie damals froh gewesen wären?

Ja, eine Zuversicht, so nach dem Motto: „Das wird schon.“

Am Anfang des Psychologiestudiums habe ich fast nur Musik gemacht. Also ganz viel geprobt, in der Studierenden Big Band gespielt, eigene Bands weiterentwickelt. Wir haben dann auch ein Plattenlabel gegründet und so. Und ich habe irgendwie nicht gesehen, wo das mit der Psychologie hingehen soll und ich war auch kein besonders guter Psychologiestudent. Heutzutage bin ich extrem froh, dass ich das fertig gemacht habe. Ich konnte dann auch ganz anders an das Musikstudium rangehen und denken, das ist eigentlich meine größte Leistung, dass ich gegen so viel Widerstand das Psychologiestudium fertig gemacht habe und auch erfolgreich abgeschlossen habe.

Wer schreibt hier eigentlich..?

Musiker | Podcast-Host | Blogger | + posts

Patrick Hinsberger studierte Jazz Trompete bei Matthieu Michel und Bert Joris und schloss sein Studium im Sommer 2020 an der Hochschule der Künste in Bern (Schweiz) ab.
Seit seiner Bachelor-Arbeit beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema musikalisches Üben und hostet seit 2021 den Interview-Podcast "Wie übt eigentlich..?"

Was denkst du davon?

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert