Fehlermanagement in der Musik
Wir alle machen Fehler. Doch was verraten sie uns über unser Üben und wie können wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen? Ihr merkt schon: In der heutigen Folge dreht sich alles um das „aus Fehlern lernen“ – oder anders formuliert: Das Fehlermanagement in der Musik.
Mit Prof. Silke Kruse-Weber habe ich mir ich das Thema von drei Seiten angeschaut: Zu Hause beim Üben, bei Konzerten auf der Bühne und natürlich aus der Sicht einer Lehrperson. Welche Tipps Prof. Silke Kruse-Weber aus ihrer langjährigen Forschung zum Umgang mit Fehler hatte, erfahrt ihr in dieser Folge.
Silke Kruse-Weber war bis Ende September 2022 Professorin für Instrumental- und Gesangspädagogik an der Kunstuniversität Graz. Seit Oktober 2023 ist sie Vertretungsprofessorin für Musikpädagogik/Instrumental- und Gesangspädagogik am Leopold Mozart College für Musik der Universität Augsburg. Vor ihrer akademischen Laufbahn studierte sie Klavier und Evangelische Kirchenmusik und arbeitete als Pianistin sowie Instrumentallehrerin für Klavier. Im Podcast erzählt sie von ihrem persönlichen Weg in die Wissenschaft.
Literaturempfehlungen
Reflect!
Ein Beobachtungs- und Reflexionstool für Instrumental- und Gesangsunterricht
Mithilfe eines Kartensets entwickelte Silke Kruse-Weber ein Beobachtungs- und Reflexionstool für den Musikunterricht. Erschienen in den Grazer Schriften zur Instrumental- und Gesangspädagogik (Waxmann Verlag).
Das Buch erschien im Juli 2023.
Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern
Kreative Potenziale beim Musizieren und Unterrichten
In diesem Sammelband finden sich verschiedene Aufsätze, rund um den Umgang mit Fehlern. Es entstand im Rahmen des Symposiums „Exzellenz durch Umgang mit Fehlern“.
Der Sammelband erschien im Jahr 2012.
Die Kunst der Lehre
Ein Praxishandbuch für Lehrende an Musikhochschulen
In diesem Sammelband von Maria Anna Waloschek und Constanze Gruhle findet sich ein Aufsatze von Prof. Dr. Silke Kruse-Weber und Victoria Vorraber . Thema: Umgang mit Fehlern im Spannungsfeld zwischen Fehlerfreundlichkeit und Perfektionsstreben
Die Kunst der Lehre erschien 2022 und fasst damit einen sehr aktuellen Stand der Forschung zusammen.
Lieber hören statt lesen?
Die Folge mit Prof. Silke Kruse-Weber lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.
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Das Interview mit Silke Kruse-Weber
INHALT
- Von der Musikerin zur Musikpädagogin
- Fehler im eigenen Üben (zu Hause)
- Fehlermanagement
- Fehler als Lehrkraft
- Unterschiedliche Rollen der Lehrkraft
- Fehler auf der Bühne
- Outro
Vervollständige folgenden Satz: Üben heißt für Sie….
Die Musik und mich umfassend erforschen.
Welche Musik (Album / Künstler) läuft bei Ihnen gerade in Dauerschleife?
In Dauerschleife gibt es aktuell keine Musik. Aber Martha Argerich mit den Bach Sonaten für Violoncello und Klavier, bzw. im Original für Gambe, höre ich sehr sehr oft. Sie begleiten mich seit Jahrzehnten durch mein Leben.
Welche CD / Welcher Künstler*in hat Sie musikalisch (auf Ihr Spiel bezogen) am meisten geprägt ?
Um ehrlich zu sein gibt es hier eine Schallplatte, die ich als Konfirmandin geschenkt bekommen habe: Die Balladen von Frédéric Chopin mit Artur Rubinstein. Die g-Moll Ballade hatte es mir damals so angetan, dass ich Klavier studieren wollte.
Von der Musikerin zur Musikpädagogin
Sie haben zunächst Evangelische Kirchenmusik und später Klavier studiert. Und haben dann– wenn man so möchte – Ihre akademische Laufbahn mit einem Musikwissenschaftsstudium und einer Promotion in Musikpädagogik fortgesetzt. Daneben waren Sie lange Zeit auch weiter künstlerisch aktiv. Beides ist sehr zeitintensiv. Wie sah Ihr persönliches Üben über diese Zeit aus?
Als ich bereits mehrere Jobs innehatte, fand mein Üben zumeist in Blöcken statt. Für bestimmte Konzerte habe ich mich in den Monaten zuvor gezielt und intensiv vorbereitet. Aber es war nicht mehr das tägliche Üben direkt nach dem Aufstehen am Morgen, so wie es zuvor war. Das konnte es nicht mehr sein, da meine Zeit auch mit anderen Dingen ausgefüllt war.
Wie hat Ihr Üben von Ihrer Forschung profitiert?
Meine Forschungstätigkeiten sind erst seit ca 2000 im Rahmen meiner Dissertation dazugekommen. Allerdings, wenn ich jetzt erneut mit dem Musizieren anfangen sollte, dann würde dies ganz sicher Auswirkungen auf mein Üben haben.
Wie anders würden Sie heute üben?
Ich würde bewusster, noch spielerischer und weniger eng fokussierend auf nur ein bestimmtes Ziel üben. Viel mehr erforschen, was alles möglich ist. Kurz um: umfassender üben.
Wie haben Sie sich entschieden, die aktive musikalische Karriere für die wissenschaftliche einzutauschen? Gab es hierfür einen speziellen Anlass?
Das war in der Tat ein langer Prozess. Als ich damals noch Pianistin und Klavierlehrerin war, erhielt ich ein Stipendium für eine Promotion. Zunächst war dies ein externaler Grund diese sehr reizvolle Arbeit aufzunehmen. Gleichzeitig war ich zu dieser Zeit auch bereits Mutter und suchte nach Wegen, mein Leben weniger stressig zu gestalten. Ich hatte Probleme mit Aufführungsangst und wollte dies nicht so stark auf die Familie projizieren. Also suchte ich nach neuen Perspektiven.
Im Laufe der Zeit fand ich ein Dissertationsthema: es waren Schriften über das Lernen und Lehren im Klavierunterricht im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Zunächst verstand ich diese kaum, da ich nicht wusste auf was es zu achten galt. Wer ist wer? Was ist überhaupt wichtig? Mit der Zeit fand ich dann aber einen Zugang.
Gleichzeitig unterrichtete ich bereits und stellte fest, dass mir das Unterrichten (und auch das eigene Üben) viel mehr Spaß bereiten. Ich hatte zunehmend mehr „theoretische Brillen“, mit denen ich das Unterrichten begründen und beobachten konnte. Das hat mir nicht nur sehr viel Freude gegeben, sondern wirkte sich auch positiv auf die Schülerinnen und Schüler aus. Weiter und weiter habe ich mich dann zu einer Musikpädagogin transformiert und dies dann schließlich auch bis in die wissenschaftliche Arbeit ausgedehnt.
Fehler im eigenen Üben (zu Hause)
Von Fehlerfreundlichkeit und Risikomanagement
Also man kann sagen, ein sehr persönlicher Beweggrund letztlich. Irgendwann hat sich Ihr Forschungsschwerpunkt auf das Themengebiet „Fehler“ ausgeweitet. Die naheliegendste Frage ist da natürlich: Was war Ihr letzter Fehler und wie sind Sie damit umgegangen?
Ich habe gerade vor fünf Minuten einen Fehler entdeckt (lacht).
Anlässlich dieses Podcasts habe ich in einem meiner Artikel geschaut und gesehen, dass dort ein Wort nicht stimmt. Nun gut, ich kann darüber inzwischen schmunzeln. Es regt mich nicht besonders auf, aber ich habe es festgestellt. Es lässt sich jetzt nicht mehr korrigieren. Ich denke aber, man versteht die Message dennoch.
Man könnte sagen, dass Sie also eine gute Gelassenheit mit der Zeit entwickelt haben. Wenn wir die Frage nun auf die Musik übertragen, stellen wir fest, dass an Hochschulen und im Musikunterricht oftmals das Prinzip „Fehlervermeidung“ praktiziert wird. Das überträgt sich dann logischerweise auf das eigene Üben zu Hause. Warum ist dieses Prinzip nicht förderlich?
Vor allem für das eigene Musizieren nicht förderlich. Es ist ein erster Schritt hin zur Entwicklung einer möglichen Auftrittsangst.
Wenn ich, wie ich es eingangs bereits geschildert habe, daraufhin übe keine Fehler mehr zu machen, wird der Spielraum, in dem ich musizieren kann, immer enger. Das löst Angst aus. Andererseits möchte man natürlich ein großartiges Ergebnis abliefern und freut sich, über ein gelungenes Konzert. Allerdings sind die Wege dorthin nicht linear.
Was sind Ihrer Meinung nach bessere Strategien, um im eigenen Üben mit Fehlern umzugehen?
Da gibt es viele Ansätze. Bekannt ist die sogenannte Fehlerfreundlichkeit bei der man sich mit Fehlern auseinandersetzt und Gelegenheiten bietet, sie zu verbessern.
Zur Vorbereitung einer Aufführung ist das sogenannte Risikomanagement wichtig. Das heißt, dass ich eine Aufführung nicht so plane, als dass sie ideal verläuft und ich mich nicht darauf vorbereite, welche Störfaktoren eintreffen könnten. Sondern im Gegenteil: Je mehr mögliche Störfaktoren ich mir kreativ im Vorfeld überlege und den Umgang mit ihnen beim Üben trainiere, desto emotional entspannter meine Haltung während der Aufführung.
Meine Klavierschüler*innen haben diese Art des Risikomanagement im Unterricht besonders geliebt. Eine kleine Anekdote dazu: Kurz vor einer Aufführung haben wir im Unterricht eine Aufführungssituation simuliert, bei der ich mit Papier geraschelt oder als Höhepunkt vom Klavier-Hocker gefallen bin. Die Schüler*innen sollten möglichst weiterspielen und sich nicht ablenken lassen.
Lassen Sie uns gerne hier einmal einsteigen. Den Effekt, auf den Sie hier gerade anspielen ist der sogenannte „Rumpelstilzchen-Effekt“. In Ihren Büchern geben Sie noch weitere Störbeispiele, wie z.B. direkt nach dem Sport spielen (mit hohem Puls) oder mit verschiedenen Raumtemperaturen experimentieren.
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Fehlermanagement
Nicht den Fehler vermeiden, sondern die daraus resultierenden negativen Konsequenzen
Fehler sollten einfach, schnell und ohne Stress behoben werden. Nehmen wir das Beispiel einer Etüde, die wir gerade neu lernen. Im Erarbeitungsprozess verspielen wir uns in Takt 17. Wie würden wir nun im besten Fall vorgehen?
Fehlermanagement brauche ich dann, wenn ich mich auf der Bühne verspiele. Das bedeutet keine Grimassen machen, nicht aufhören, sondern einfach weiterspielen. Ein gutes Vorbild hierzu sind Expert*innen, die ebenfalls Fehler machen. Allerdings hört man sie nicht mehr so stark.
Im Erarbeitungsprozess eines neuen Stücks verhält es sich anders. Es gibt das deliberate practice. Darin teilt man das Stück in verschiedene Bereiche auf und schaut, welche Schwierigkeiten wo liegen.
Zum einen kann man sich harmonisch und satztechnisch mit der Fehlerstelle beschäftigen. Man kann sie in verschiedenen Varianten spielen. Man kann versuchen zu erforschen, wie man die Stelle bewegungstechnisch anders / besser musizieren kann. Auch die Frage, welche Aussage mit dieser Stelle getroffen werden soll, ist ein wichtiger Punkt. Also den Fokus auch auf die musikalische Intention legen und nicht nur auf die Bewegung.
Ich finde, man kann gar nicht oft genug betonen, wie wichtig dieses variantenreiche Üben ist. Können Sie erklären, warum dies so erfolgsversprechend ist?
Es gibt nicht nur ein Ziel, sondern es kommt darauf an, verschiedenes, also auch verschiedene Ziele und Foki zu explorieren. Es geht darum, weniger bewertend zu sein und nicht mehr EIN Richtig oder Falsch aufkommen zu lassen. Stattdessen werden die Spielräume geöffnet und im Hinblick auf eine Erweiterung exploriert. Wie könnte ich es spielen? Was will ich sagen? Wie könnte ich es anders spielen? was könnte ich noch ausprobieren? Das heisst es, umfassend zu üben und zu forschen. Die Folge ist, dass wir im Musizieren dann flexibler und emotional entspannter gegenüber sogenannten „Fehlern“ sind und kreativer mit Ihnen umgehen können, weil wir uns freier fühlen.
An dieser Stelle vielleicht kurz der Verweis auf das Interview mit Susan Williams, die in ihrem Buch „Optimal Üben“ mit den Spielkarten eine ähnliche Übe-Strategie vorschlägt. Ein typisches Gegenargument, dass sofort kommen könnte wäre, dass sobald man einmal einen Fehler eingeübt hat, es umso länger braucht, bis man ihn wieder überschrieben hat. Würde das nicht für eine sofortige Korrektur sprechen?
Man muss unterscheiden: wir sprechen nicht von einer gewissen Nachlässigkeit. Es gibt von Gerhard Mantel den schönen Ausdruck „Das Prinzip Hoffnung“ – also nur zu hoffen, dass es besser wird, muss unterschieden werden von einem bewussten und umfassenden Üben. Bei einem nachlässigen Üben können sich in der Tat Fehler einschleichen.
Fehler als Lehrkraft – Wie ermögliche ich Erfolg bei meinen Schüler*innen?
Wir haben den Fall ein Schüler, eine Schülerin oder im Hochschulkontext ein Student oder eine Studentin verspielt sich. Was wäre die beste Art zu reagieren als Lehrkraft? Sofort korrigieren, ignorieren und darauf setzen, dass der Schüler den Fehler sowieso selbst bemerkt hat?
Wenn Lernende aus Fehlern lernen sollen, dann müssen wir sie dazu aktivieren, selbst über ihre Fehler nachzudenken. Bei falschen Tönen habe ich meinen Klavierschülern mit dem sogenannten C-Turm eine gewisse Hilfestellung aufgebaut. Durch Fragen habe ich dann, vor allem die Anfänger-Kinder, hingeleitet, wie sie die richtige Tonhöhe finden können. Es ist wichtig, nicht sofort das Ergebnis zu verraten. Sonst ist ein Lernen aus Fehlern nicht möglich. Leider passiert dies immer noch viel zu häufig – besonders aus Zeitersparnisgründen.
Setzt das jeweils voraus, dass sich die Schüler*innen über ihren Fehler bewusst sein müssen?
Die Nachfragen funktionieren auch dann, wenn die Schüler*innen ihren Fehler vielleicht gar nicht selbst bemerkt haben. Natürlich: Je neuer man in einer Sache ist, desto weniger weiß man möglicherweise, welche Fehler man macht. Selbstverständlich muss ich ihnen dabei Orientierungshilfen an die Hand geben. Einen Weg zum Ziel, den sie spüren und nachvollziehen können.
Im Vorgespräch hatten wir kurz über die Podcast-Folge mit Prof. Eckart Altenmüller gesprochen. Auch bei ihm ist „spüren“ ein sehr wichtiger Punkt. Die Aufgabe von uns Musikpädagogen ist es daher, dieses „spüren“ bei unseren Schüler*innen im Unterricht erlebbar zu machen.
Zum Abschluss dieses Themenkomplexes hätte ich noch eine Nachfrage zum Bereich „Angst“. In ihrem Buch „Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern“ beschreiben, Sie dass das richtige Maß an Angst auch durchaus etwas positives sein kann. Wie ist das gemeint?
Man sagt, dass ein mittleres Maß an Angst das Ideal ist. Bei einem zu geringen Grad an Anspannung ist man gelangweilt (zu wenig Erregung) und bei einem zu viel an Anspannung tritt Überforderung ein, die bis zur Aufführungsangst gehen kann.. .
Mehr Informationen dazu:
Robert M. Yerkes and John D. Dodson (1908): the relation of strength of stimulus to rapidity of habitformation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18, 459-482.
Unterschiedliche Rollen der Lehrkraft
In Ihrer Literatur beschreiben Sie sehr ansprechend die verschiedenen Rollen einer Lehrkraft. Besonders gut hat mir der Vergleich Meister und Gärtner gefallen: Also der Lehrer wie ein Gärtner, der Rahmenbedingungen für seiner Schüler*innen schafft versus der Lehrer als Meister. Was steckt hinter diesen beiden Vergleichen?
Das sind zwei Rollen, die man als Lehrperson einnehmen kann. Und beide haben ihre Berechtigung. Es wird häufig polarisiert und gesagt, dass die Meister-Schüler-Lehrer vorbei sei und es nur noch die Ermöglichungsdidaktik geben sollte. Allerdings sind es bestimmte Momente, Stadien und Situationen, und vor allem die Bedürfnisse der Lernenden, die darüber entscheiden, welche Rolle ich einnehme.
Ich denke, dass wir schon weiterhin die Meisterin oder der Meister in unserer jeweiligen Domäne bleiben müssen. Zum Problem wird es, wenn man einseitig unterrichtet und nicht in der Lage ist diese Rollen zu wechseln.
Im Sinne der Ressourcenorientierung, wo man von Fehlern ausgeht, liegt es doch auch nahe auch den Lehrkräften diese Fehler zuzugestehen bzw. wäre es nicht sogar „förderlich“ – im Sinne von „ich verspiele mich selbst und zeige dir, dass Fehler völlig ok sind“?
Für mich klingt das komisch (lacht). Aber man muss sich gar nicht anstrengen, um sich zu verspielen. Das passiert von ganz allein. Es ist dann nur wichtig, mit diesen Situationen authentisch und offen umzugehen. Die Fehler also anzusprechen. Schülerinnen und Schüler mögen das.
Fehler auf der Bühne
Passiert ein Fehler auf der Bühne, gibt es oft zwei unterschiedliche Umgangsformen, die man beobachten kann.
- Ich verspiele mich und lasse mir anmerken, dass ich mich verspielt habe (denke weiter über den Fehler nach und verspiele mich in der Folger weiter)
- Ich verspiele mich und sehe den Fehler als Motivation mich noch mehr anzustrengen
In Ihrer Literatur beschreiben Sie das erste Szenario als den sogenannten „Tausendfüßler-Effekt“…
Ja, der Tausendfüßler-Effekt kann passieren, wenn plötzlich eine Störung in einem vermeintlich automatisierten Ablauf auftritt. Wenn ich mich bspw. zu wenig umfassend (besonders auch kognitiv) mit einem Stück auseinandergesetzt habe, sind Blackouts nahezu vorprogrammiert, da ich das Stück nur motorisch gelernt habe.
Wenn Sie einen Tausendfüßler fragen, welchen Fuß er zuerst nimmt, kann er das plötzlich nicht mehr sagen. Beim Musizieren ist dies allerdings anders und daher ist auch die Vorbereitung so entscheidend. Besonders das wie wir üben.
Es geht nicht um ein Automatisieren, sondern es geht darum sich intensiv mit der Musik auseinanderzusetzen und das Vertrauen darin zu haben, sie bestmöglich (nach seinen Möglichkeiten) vorbereitet zu haben. Es geht darum, eine Haltung zu entwickeln, die es mir ermöglicht auch während der Aufführung eine Gelassenheit und Flexibilität zu haben. Nicht nur meinen Fehlern gegenüber, sondern auch im Duktus des Werkes und der Musik.
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Das Entscheidende ist also nicht nur das (motorische) Zusammenschütteln, wie wir eben besprochen haben, sondern das Werk zugleich auf vielfältige Weise kognitiv zu erfassen (harmonisch, historisch, satztechnisch…).
Genau. Dadurch lässt sich der Tausendfüßler-Effekt minimieren. Und vieles mehr. Man gewinnt Selbstwirksamkeit, insofern das Musizieren auf einem Durchdringungsprozess aller wesentlichen Parameter basiert.
Typisch ist beispielsweise, dass man sich nur die schweren Stellen anschaut und die vermeintlich leichten Stellen werden übersprungen. Das ist schade, denn genau dort kann der Tausendfüßler-Effekt auftreten.
Auf die folgende Frage widersprechen mir in den meisten Fällen meine Gäste. Ich würde allerdings wetten, dass Sie hingegen mir zustimmen würden: Das klingt nach einem sehr analytischen Vorgehen in der Vorbereitung auf ein Stück, oder?
Ich denke ja. Das Analytische ist wichtig.
Also eine Art „Fahrplan“ im Vorfeld zum Üben zu entwickeln ist durchaus sinnvoll?
Sie meinen, dass man sich dies vorher alles aufschreibt?
Nein, nicht zwangsläufig verschriftlichen – aber zumindest gedanklich einen Überblick im Vorfeld haben, bevor man an sein Instrument geht.
Sich im Vorfeld Ziele zu setzten und mögliche Wege dahin, das ist sehr wichtig. Noch wichtiger ist es allerdings sich im Nachhinein zu reflektieren, inwiefern die eigenen musikalischen Ziele erreicht wurden und wie ich mich dabei gefühlt habe. Dadurch verhindere ich zum Beispiel, dass sich ungünstige Bewegungen einschleifen.
Das Verschriftlichen dieses Prozesses ist nochmals eine größere Herausforderung. Ich habe dies einmal mit Studierenden versucht, die das sehr ungern gemacht haben. Jedoch haben einige im Nachhinein festgellt, wie hilfreich diese Arbeit war. In der Theorie ist dies von sehr großem Vorteil, allerdings wird es in der Praxis noch wenig umgesetzt. Möglicherweise steht hier noch ein Paradigmenwechsel vor uns…
Abschließend zum Thema: Gäbe es auch Ihrer Sicht einen Wunsch, wie sich die Fehlerkultur im Musikunterricht ändern sollte oder sehen Sie hier, dass sich bereits ein Wandel zum besseren vollzieht?
Ich denke ein Paradigmenwechsel hat bereits stattgefunden, jedoch ist er noch nicht überall angekommen. Es wird zunehmend mehr geforscht und es entstehen weiter Professuren für Instrumental- und Gesangspädagogik. In kleinen Schritten geht es vorwärts…
Wenn es einen Wunsch gibt, dann, dass die Polarisierung zwischen Theorie und Praxis weiter miniert wird und sie als etwas Zusammengehöriges begriffen werden.
Outro
Was lernen (üben) Sie gerade, was Sie noch nicht können? Gerne auch nicht musikalisch.
Kochen.
Welchen Tipp würden Sie Ihrem jüngerem, Erstsemester-Musikstudenten-Ich gerne mitgeben, um den Sie damals froh gewesen wären?
Es geht nicht um das wie viel des Übens, sondern um ein umfassendes und tiefgehendes Forschen.
Wer schreibt hier eigentlich..?
Patrick Hinsberger studierte Jazz Trompete bei Matthieu Michel und Bert Joris und schloss sein Studium im Sommer 2020 an der Hochschule der Künste in Bern (Schweiz) ab.
Seit seiner Bachelor-Arbeit beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema musikalisches Üben und hostet seit 2021 den Interview-Podcast "Wie übt eigentlich..?"