Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn ist Bewegungs- und Trainingswissenschaftler an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Er gilt als Begründer des Differenziellen Lernens. Eine Methode, die auch inzwischen Einzug in die Musik gehalten hat. Was so abstrakt klingt ist in Wahrheit recht einleuchtend und simpel. Wir lernen aus Unterschieden.
Damit ist nicht gemeint, dass wir anfangen sollten, ein zweites Instrument zu lernen. Differenzielles Lernen zielt eher auf die kleinen Unterschiede ab, die beim Ausführen einer Bewegung am Instrument entstehen. Sie beschränken sich jedoch nicht nur auf Bewegungen, sondern variiert werden kann jeder musikalische Parameter von Ausdruck bis Genre. Die Frage, die sich natürlich nun stellt: Wie können wir uns das in der Musik zu nutze machen. Darüber soll es in dieser Podcast Folge gehen.
In der Folge habe ich mit Wolfgang Schöllhorn den Blick aber abseits von Sport und Musik gerichtet und mein Gast gibt Einblicke zu aktuellen Forschungsfragen rund um das optimale Lernen gibt.
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Die Folge mit Wolfgang Schöllhorn lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.
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Das Interview
Inhalt
- Entweder-Oder-Fragen
- Was ist Differenzielles Lernen?
- (Warum) Ist Differenzielles Lernen universell übertragbar?
- Anwendungsbeispiele in der Musik
- Differenzielles Lernen im Vergleich zur O.P.T.I.M.A.L Theorie
- Wie viel Variation ist zu viel?
- Die Rolle des Lehrers im Differenziellen Lernen
In Anlehnung an die Musikerinnen und Musikerinterviews, die ich immer führe, würde ich Ihnen gern zum Einstieg zwei Fragen stellen: Vervollständigen Sie folgenden Satz, trainieren heißt für Sie?
Meist eine veraltete Methode, die dringend einer Überarbeitung bedarf.
Das heißt Sie trainieren nicht?
Nein. Das Wort trainieren (train – to train) kommt ursprünglich aus dem französischen und bedeutete „das Pferd aus dem Stall ziehen“.
Und ich will niemanden hinter mir herziehen, sondern für mich ist es eigentlich eine Stimulation und eine Interaktion, wo mehr Kreativität von Seiten des Lernenden mit hineinkommen kann.
Das heißt Sie sagen nicht „ich trainiere“, sondern was ist Ihr Wort für das, was man so landläufig als trainieren bezeichnet?
Also wir sind auf der Suche nach einem adäquaten Wort, aber: ich bewege mich, ich lerne.
Das finde ich schön. Bewegung oder Lernen sollte ja nicht nur monotones Wiederholen sein, sondern im besten Fall abwechslungsreich und kreativ.
Was ist denn die neueste oder letzte Idee, die Sie selber in Ihrem eigenen Bewegen, Lernen ausprobiert haben beziehungsweise an Studierende weitergegeben haben?
Das Neueste, was ich jetzt an unsere Studierenden gegeben habe, ist das Resultat unserer neuen Forschung, dass auch Differenziales Lernen mit der Zeit abstumpft.
Und das war das, was ich eigentlich auch von Anfang an vor 20 Jahren schon gesagt hatte: es geht um Variation der Variation. Variation muss individuell und situativ angepasst werden.
Es gibt Leute, die werden bei zu viel Variation verrückt. Dann gibt es andere, die werden bei zu viel Wiederholung verrückt – und dann kann das aber auch von Zeit zu Zeit wechseln. Es hat schon eine starke psychologische Komponente, wann Wiederholung Vorteile bringt. Da können wir aber später nochmal drüber reden.
Entweder-Oder-Fragen
Sehr gerne, dazu habe ich auf jeden Fall auch ein paar Fragen vorbereitet. Für alle Zuhörerinnen und Zuhörer, die sie vielleicht noch nicht so gut kennen, habe ich mir ein paar Entweder-Oder-Fragen überlegt, um Sie vorzustellen.
Handball, Leichtathletik, Turnen oder Bobfahren?
Das ist jetzt quasi mein Lebenslauf in der Praxis.
Für mich gibt es da kein Entweder-Oder, sondern es war einfach nur die Neugierde.
Der Wechsel von Handball auf Leichtathletik war mehr oder weniger aus Gesundheitsgründen, weil ich im Handball (damals war es üblich auf Betonboden mit Linoleum zu spielen) die Knie nach zehn Jahren kaputt hatte. Während der Regeneration hatte ich die Leichtathleten kennengelernt.
Und die haben mich dann gefragt, ob ich als Handballer nicht auch mal Speer werfen könne. Wenn du Speer wirfst, dann kannst du auch Diskus und Kugelstoßen und damit war der Zehenkampf schon fast komplett zusammen.
Ich habe das dann eine Weile lang gemacht und habe dort aus Neugierde jemanden kennengelernt, der Bobfahren konnte. Ich bin dann dort relativ schnell erfolgreich gewesen und habe aber ganz am Ende, als ich schon Athleten trainiert hatte nebenher, mit meiner neuen Theorie ein Selbstexperiment gewagt.
Ich hatte dann mit Freunden von mir, Georgios und seinem Bruder Eftimios Karamitsos, der ist Nationaltrainer im Karate, einen Deal gemacht: Ich habe gesagt, ich bringe dir Sprinten bei und du bringst mir Karate bei. Aber ich will dich nur einmal die Woche sehen, weil ich den Rest dann selber mache. Und das haben wir dann gemacht. In sehr kurzer Zeit hatte ich den braunen Gurt und ich wusste, das Differenzielle Lernen funktioniert und habe es dann erst bei meinen Athleten angewandt.
Also alles, worüber ich rede, das stammt aus praktischer Erfahrung. Nicht nur als Athlet, sondern weil ich mein Studium selbst finanzieren musste, auch als Trainer.
Haben Sie eine Lieblingssportart, obwohl Sie so breit aufgestellt sind?
Nein, also womit ich mich schon ein bisschen schwertue, ist Wasser. Ich schwimme auch ab und zu, aber dann möchte ich wirklich schnell wieder raus. Alles, was so in den Ausdauer Bereich geht, ist jetzt nicht so mein Favorit.
Man hört Sie sind Schwabe, also: Mainz oder Ulm?
Also zum Studieren und Arbeiten gerne hier in Mainz.
Ich bin gern in Ulm, aber für die damalige Zeit war es wichtig, davon wegzukommen, weil Ulm für die Zeit nach der Schule doch eher etwas konservativ war. Da war die Gegend hier im Rhein-Main Gebiet ideal.
Erklären oder vormachen?
Weder noch. Fragen stellen.
Heute oder morgen?
Jetzt.
Wir hatten es davon eben schon im Vorgespräch. Ich kam auf die Frage, als ich ein Video von Ihnen gesehen habe, in dem Sie vor den deutschen Fußballlehrern sprechen. Da zitierten Sie am Anfang ein chinesisches Sprichwort, was wohl besagt: „Wenn du unglücklich sein möchtest, dann vergleiche dich mit anderen.“
Das ist vollkommen richtig. Das „andere“ kann man sogar weglassen. Wenn du unglücklich sein willst, dann vergleiche. Das reicht schon.
Das ist für mich im Sport, aber auch in der Musik ganz wichtig: Wenn ich ein Musikstück höre und will es genauso reproduzieren, dann fange ich schon an zu vergleichen. Oder wenn mir mal ein Stück gut gelingt, dann fange ich an zu vergleichen. Und der Vergleich, das wissen wir inzwischen, aktiviert den Frontallappen und damit wird die meist die Leistung reduziert. Das hindert uns auch daran im Moment maximal Leistung zu bringen.
Waren Sie immer schon frei davon oder war es bei Ihnen auch ein Prozess?
Nein, das war klar ein Prozess. Ich bin die klassische Schule durchgegangen.
Ich habe auch für 10 Jahre Oboe gelernt. Bei den Wiederholungen der Tonleiter in der anfangs viertel Stunde wusste ich damals schon nicht wozu.
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Was ist Differenzielles Lernen?
Können Sie beschreiben, was das Differenzielle Lernen auszeichnet, beziehungsweise wie es sich vor allen Dingen vom klassischen Lernen unterscheidet?
Wie das Wort es eigentlich schon sagt, liegt darin die Erkenntnis, dass wir prinzipiell nur, aus Differenzen lernen können.
Die zugrundeliegende Definition von Lernen: Lernen ist eine zeitlich überdauernde Verhaltensänderung oder Wissensänderung. Das heißt also das, was im Abitur stattfindet, ist kein Lernen. Das ist Kurzzeit-Reproduktion. Lernen ist eigentlich das, was wir auch ein Jahr danach noch wissen.
Zeitlich überdauernde Verhaltensänderung geht nur über Differenzen. Das hat auch einen informationstheoretischen Hintergrund: Wenn wir zweimal die gleiche Information erhalten, was sollen wir daraus lernen? Unser Körper ist auch darauf abgestimmt. Unsere Neuronen können sich sehr schnell an Wiederholungen anpassen.
Das merken wir immer, wenn wir morgens die Kleidung anziehen. Das ist für die Haut noch neu, aber sobald sich der Reiz beim Tragen wiederholt, sind wir uns der Kleider nicht mehr bewusst. Wiederholung stumpft ab.
Das Wort „differenziell“ rührt auch noch aus meiner Physikausbildung her und leitet sich von der Differential- und Integralrechnung ab. Es deutet darauf hin, dass es im Ursprung des Differenziellen Lernen eigentlich um die kleinen Differenzen ging.
Das bedeutet, wenn ich schon in einer Bewegung bin (wir haben damals mit Kugelstoßen gearbeitet), dann geht es nicht darum, dass ein Kugelstoßer noch zusätzlich Rad fahren und schwimmen soll, sondern dass er innerhalb des Kugelstoßens noch sehr viele Variationen drin hat.
Also, dass er nach rechts oben oder nach links unten stoßen kann. Er kann es in den Vorwärtsbewegen machen, er kann es in den Rückwärtsbewegen machen, mit dem Kopf nach links, Kopf nach rechts, Ellenbogen unten, Ellenbogen oben, etc.
Das heißt, wir haben damals gesagt, dass keine zwei aufeinanderfolgenden Wiederholungs- oder Bewegungsausführungen identisch sein sollten. Wir erzeugen zwischen zwei aufeinanderfolgenden Bewegungen Differenzen, wodurch unser System eine Chance hat, einen Vergleich anzustellen um zusätzliche Informationen zu erhalten.
Interessanterweise nutzt unser Gehirn genau diesen Mechanismus ständig: Nämlich beim Sehen. Wenn wir also unser linkes und rechtes Auge abwechselnd auf und zu machen und eine Linie angucken, dann sehen wir, dass die Linie hin und her springt. Das heißt, unser Gehirn nutzt die Differenz der beiden Abbilder, um die Entfernung zu bestimmen. Das Gleiche macht es auch beim Gehör. Wenn ein Schall zuerst auf das linke Ohr und dann aufs rechte Ohr kommt, gibt uns die zeitliche Differenz die Orientierung, woher der Schall kommt.
Landläufig gibt es diese Vorstellung, dass wenn man etwas lernt und wiederholt, dass sich Myelin um die Synapsen bildet und eine Art Datenautobahn entsteht. Ist dann diese Vorstellung falsch?
Jein.
Also ich glaube, da liegt ein großes Missverständnis vor. Dieses auch als Binding- Problem bekannte Phänomen hatte ich damals schon bei Prof. Wolf Singer in Frankfurt am Max-Planck-Institut für Gehirnforschung gesehen: Wenn im Gehirn von vorne links die Frequenz kommt und dann hinten rechts ist – dann, so die Theorie fängt es an sich zu verbinden. Das stimmt für kurze Entfernungen, nur interessanterweise war das aber auch das einzige Lern-Design, was sie untersuchen konnten. Man hat kein anderes Lernen untersucht. Man hat quasi das Experiment so gestaltet, dass das rauskommt, was eigentlich rauskommen muss.
Und jetzt gibt es ja verschiednste Formen des Lernens, auch das sog. AHA-Lernen was wir zum Beispiel Fahrradfahren erleben. Das können wir damit nicht erklären. Balancieren können Sie damit nicht erklären. Es ist nur eine, und zwar eine der wenigsten Formen des Lernens, die man untersucht hat.
Hinzukommt, dass wir wissen dass sich unser System von selbst ändert. Also schon wenn ich nachts schlafe, schon wenn ich irgendeinen Gedanken habe, habe ich im Gehirn schon nicht mehr die gleichen Synapsen. In der Pubertät kommt zusätzlich Wachstum und die Veränderung des Hormonhaushalts dazu. Das heißt eigentlich, dass ich niemals wieder dieselbe Situation habe. Wozu soll ich dann wiederholen? Also, wiederholen macht Sinn – allerdings aus anderen Gründen, die meist mit einem Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle in Verbindung stehen.
Was wir inzwischen leider wissen ist, wenn zu viele Wiederholungen stattfinden und das ist ganz bekannt in der Musik, besteht die Gefahr der Fokalen Dystonie. Diese Krankheit tritt häufig bei enormem Ehrgeiz gepaart mit vielen Wiederholungen auf. Wir sehen dies nie bei viel Variation. Im Sport ist es übrigens ähnlich, zum Beispiel beim Golf das Yips. Es ist immer die Paarung viel Ehrgeiz mit viel Wiederholung.
Das heißt nicht prinzipiell, dass man keine Wiederholung zu lange machen sollte. Es muss allerdings differenziert werden. Im absoluten Top-Bereich ist Wiederholung und Ehrgeiz zudem etwas ganz anderes als beim Anfänger. Wenn ein Anfänger wiederholt, dann habe ich da immer noch genügend Variation drin. Deswegen lernen sie auch noch bei Wiederholung.
Allerdings je länger sie in unserem klassischen Schulsystem, im Ausbildungssystem etc. drin sind, desto weniger Varianz sieht man bei den Wiederholungen. Dies ist unter anderem auch der Grund warum es älteren Menschen schwerer fällt, Neues zu lernen. Sie glauben immer noch, die gleichen Methoden wie in der Schule anwenden zu müssen, weil es dort ja auch funktioniert hat. Der Unterschied war nur, dass in dieser Zeit viel Variation im Leben war und stets Neues erfahren wurde. Im Alter sind die Bedingungen anders und deshalb funktionieren auch Methoden aus früheren Jahren nicht mehr. Es geht einfach darum, genügend Variation weiter im Gesamtsystem zu halten.
(Warum) ist Differenzielles Lernen universell übertragbar?
Wir haben vorhin schon in Ihrer Biografie die Sportarten aufgezählt, die Sie selbst aktiv gemacht haben, aber auch die Sportarten, die inzwischen differenzielles Lernen anwenden. Jetzt kann man ja weder von der Musik noch im Sport von dem Sport reden. Wieso lässt sich das differenzielle Lernen trotzdem auf so viele Disziplinen anwenden?
Wir haben 2014 mit Stefan Albrecht (Querflöte) eine Studie gemacht. Wir luden die besten Flötisten aus dem Rhein-Main-Gebiet hier ein und ließen sie im Labor Mozarts zweites Konzert für Querflöte spielen. Alle Finger- und Körperbewegungen wurden mit Kameras und einer Kraftmessplatte aufgenommen.
Und obwohl die alle genau das gleiche Stück spielten (sie mussten es fünfmal an einem Tag spielen und kamen an drei Tagen hintereinander) konnten wir anhand jeder Fingerbewegung erkennen wer spielt. Wir konnten anhand der Körperbewegung erkennen wer spielt und das, ohne dass wir irgendeinen Ton aufgenommen hätten. Ich hätte es auch vom Ton her sagen können wer spielt. Allerdings konnten wir nicht die Tage voneinander unterscheiden. Das heißt, da war dann eine Überlappung.
Inzwischen haben wir Verfahren über unsere Deep Learning Netzen, mit denen wir auch die Tage unterscheiden können. Das heißt, wir sehen eigentlich, dass unser System selbst sich ständig verändert. Und das ist genau das, warum Wiederholungen nur wenig bringen. Sie helfen uns allerdings in Bezug auf psychische Sicherheit. Sie geben mir das Gefühl von Kontrolle. Und deswegen gibt es Personen, die das brauchen. Und diese Phänomene treten nicht nur im Sport oder der Musik auf, sondern scheinen grundlegend.
Warum das Differenzielle Lernen auf alle Bereiche zu übertragen ist, liegt wohl daran, dass hier physikalische Theorien gepaart mit neurophysiologischen Grundlagen zugrunde liegen, und keine weitere Meisterlehre. Also sprich, jedes System, was noch am Leben ist, zeigt diese Phänomene, wie z.B. Schwankungen, Stabilitäten, Instabilitäten, Phasenübergänge etc. Und solange das System Schwankungen hat, am Leben ist, sind diese Theorien anwendbar.
Anwendungsbeispiele des Differenziellen Lernens in der Musik
Wenn ich jetzt ein Trompeter bin, dann weiß ich, dass die Finger niemals identisch auf die Ventile kommen. Die Lippenbewegung, Atmung, Stütze ist nicht immer gleich. Und vor allen Dingen sind sie in Kombination nicht immer identisch: Welchen Gedanken habe ich da gerade mit drin? Wie ist meine Stimmung? Wie ist mein Ernährungszustand?
Das heißt, die ständigen Variationen, die dort hinzukommen, die ignorieren wir bislang einfach. Wir denken, wir spielen Trompete, weil da vorne Noten sind. Nein, der Teufel steckt im Detail. Allerdings kann ich das im Prinzip nutzen, um die Variation aufrechtzuerhalten.
Das heißt, ich kann mal mit gebeugten Fingern, ich kann mit gestreckten Fingern spielen, ich kann mit hohem Ellbogen spielen, ich kann mit Ellbogen unter der Trompete spielen, ich kann mit Rücklage spielen, ich kann mit Vorlage spielen, ich kann das Spiel in Seitlage machen, ich kann den Nacken stärker beugen, ich kann in Überstreckung gehen Es gibt verdammt viele Möglichkeiten, wo man variieren kann.
Das heißt aber, Sie beschränken ganz bewusst die Differenzen, also die Variationen, auf dem Bewegungsapparat?
Nein, nicht nur auf die Bewegung. Das hat Professor Martin Widmaier mal wunderschön am Flügel des Peter-Cornelius-Konservatoriums in Mainz vorgeführt.
Er hatte zwei Flügel nebeneinander aufgestellt und Musikschulkinder Stücke im Vorbeigehen, nicht am Sitzen, spielen lassen. Die Spielaufforderungen variierten: Spiel doch mal wie Hagelkörner. Jetzt spiel doch mal wie Schneeflocken. Oder wie in einem Liebeslied. Und jetzt mal arrogant-aggressiv. Also Emotionen ausdrücken in der Musik ist ein ganz großer Bereich von Variation. Für die Bläser kommt noch hinzu, dass ich in kürzeren Rhythmen atmen kann, abwechselnd zwischen Bauch und Brustatmung, durch die Nase oder den Mund einatmen, und beliebige Kombinationen davon, oder ich könnte laut und langsam oder schnell und leise spielen, die hohen Töne leise, die tiefen Töne Laut und umgekehrt. Wenn man das noch mit den Bewegungen kombiniert, dann sieht man schnell die große Anzahl an Möglichkeiten. Wenn man dann noch an die Stücke rangeht und nur jeden zweiten Takt spielt, das Stück rückwärts spielt, in verschiedenen Rhythmen, dann öffnet sich noch ein ganz anderes Feld. Was häufig erst spät gemacht wird, könnte man schon am Anfang machen, die Stücke z.B. in verschiedenen Stilen spielen, Bach’s Tocatta im Blues-stil, oder Satchmo’s What a wonderful day klassisch interpretieren. Vieles davon wird vereinzelt schon angewandt, aber leider noch nicht systematisch und nicht bei allen in die Grundschule eingebaut. Herr Albrecht zum Beispiel lässt seine Flötenschüler von Beginn an auch Flageolett (Spielen mit Obertönen) mit Erfolg spielen, das klassisch erst spät wenn überhaupt eingeführt wird.
Ist ein variantenreiches Üben und Differenzielles Lernen im weitesten Sinne das Gleiche?
Ja. Wir hatten das Wort differenziell eigentlich nur aus dem Grund gewählt, weil es im Sport eine sogenannte Variability of Practice Theorie gab. Diese ging davon aus, dass wir sogenannte invariante Elemente haben. Die Invarianten, die kann man kombinieren mit variablen Parametern, damit die Invariante stabiler wird. Das wäre dann zum Beispiel Gehen mit langem Schritt, mit kurzem Schritt, schnell oder langsam – aber ich darf nicht meinen Stil verändern. Ich darf nicht federn oder schleichen gehen. Der Rhythmus muss jedoch drin bleiben. Wie sich mittlerweile allerdings rausstellte, ist die Theorie nur für kleinmotorische Bewegungen gedacht.
Und weil dort das Variable schon quasi benutzt war, haben wir nach einem Alternativbegriff geguckt. Und eigentlich ist es auch der Kern von allen anderen Lernansätzen: auch dort gilt: Wir lernen nur aus den Differenzen.
Umgangssprachlich würde ich variabel sagen. Allerdings nicht variabel im Sinne von „geblockt“ (10x Variante A, dann 10x Variante B) – sondern es geht auch darum, dass wir jede Bewegung oder jeden Ton anders machen. Ich kann dann im Übrigen auch, was viele Musikerinnen und Musiker machen, ein Musikstück erstmal nur mit punktierten Achtel durchspielen oder das Stück mal schnell, mal in Lento oder mal in Adagio.
Ich würde sagen, wenn am Anfang die Technik das Problem ist, dann fange ich an dort zu variieren. Wenn es dann um Ausdruck des Musikstücks geht, dann geht es mehr um Emotionen zu variieren.
Differenzielles Lernen im Vergleich zur O.P.T.I.M.A.L Theorie
Ich habe die ganze Zeit die Differenzielle Theorie oder das Differenzielle Lernen sogar ein bisschen weiter aufgefasst. Sie hatten es vorher schon angesprochen, dass Sie das Lernen ja auch in dieser zeitlichen Komponente sehen. Also nicht nur in der zeitlichen Komponente im Laufe des Lebens, sondern auch in der zeitlichen Komponente innerhalb des Tages (wir sind morgens anders aufnahmefähig als abends). Vielleicht kennen Sie aus der Musik Susan Williams?
Nein.
Susan Williams ist eine Barocktrompeterin, aus Holland, die in Bremen lehrt. Sie hat die O.P.T.I.M.A.L Theorie von Gabriele Wulf versucht auf die Musik zu adaptieren. Sie geht auch über das variantenreiche Üben hinaus und sagt, dass Lernen dann gut funktioniert, wenn man intrinsisch motiviert ist. Die beiden Theorien sind aber nicht so verknüpft, wie man auf den ersten Blick wahrscheinlich denken würde?
Wir sind gerade daran eine indirekte Verknüpfung herzustellen. Diese ist, dass man in beiden Fällen versucht, einen optimalen, jetzt ohne Akronym, einen optimalen Gehirnzustand zu erzeugen, der Lernen optimiert.
Ich bin allerdings ein bisschen skeptisch, weil gerade vor einem Jahr kam eine Meta-Analyse zum External Focus raus, die Bestandteil von der OPTIMAL-Theorie ist und die zeigt eigentlich, dass es keine systematischen Effekte gibt.
Und das ist auch das, was wir in Verbindung mit einem anderen System, Action-Type-System von Bertrand Theraulaz und Ralph Hipolite, feststellen.
Für manche Menschen, und deswegen bin ich immer mehr auf individuelle Geschichten aus, ist es förderlich, wenn sie extern fokussieren. Für andere ist es besser, wenn sie intern fokussieren.
Was heißt extern und intern in diesem Zusammenhang?
External Focus bedeutet sich auf einen Punkt, der außerhalb meines Körpers liegt, zu fokussieren. Intern entsprechend ein Punkt in meinem Körper. Da wird häufig, in meinen Augen, in der Wissenschaft viel kaputt gemacht, indem man Mittelwerte nimmt und dann ist es gerade Zufall, welche Art von Stichproben man hat.
Und was das O.P.T.I.M.A.L. Theorie betrifft, da sind noch zwei andere Sachen integriert worden, bei denen es um Motivation geht. Aber das sind sehr stark psychologische Elemente. Ich würde es gerne mal zusammen untersuchen.
Zum optimalen Lernen sehen wir, dass ein bestimmter Gehirnzustand notwendig ist. Und um diesen herstellen zu können, muss ich sehr individuell rangehen. Deswegen habe ich Schwierigkeiten mit an Mittelwerten orientierte Theorien generell (auch der O.P.T.I.M.A.L Theorie), die sagen, dass sie für alle gleich sind.
Für mich ist das ein ganz wichtiger Bestandteil der Differenziellen Theorie. Sie sagt nicht, dass das für alle gleich ist, sondern differenziell. Da ist noch ein ganz wichtiger Aspekt im differenziellen Lernen mit drin, nämlich die stochastische Resonanz. Wo ich die Differenzen anlege, muss ich meinem Lernenden gegenüber anpassen. Also wenn ich weiß, dass jemand abends müde ist, dann muss ich das anders machen, als wenn jemand gerade wach mit drei Tassen Kaffee ist.
Allerdings das ist ein großes Forschungsgebiet. Gemeinsam mit meinem Mitarbeiter Dr. Horst entwickeln wir daher gerade ein quantitatives Analyseverfahren zur Mustererkennung.
Mit Differenziellem Lernen setze ich die Grenzen weiter, damit ich eine höhere Chance habe zu interpolieren. Weil, wenn ich zu eng übe und dann kommt etwas außerhalb, dann muss ich extrapolieren und darin ist unser System nicht gut.
Jetzt könnte man ganz polemisch fragen, wenn das Differenzielle Lernen so überlegen ist, warum machen das nicht eigentlich alle so?
Die Frage höre ich öfters, vor allem am Anfang. Das ist immer so, wenn neue Sachen kommen. Zuerst wird es am Anfang bekämpft, dann wird es belächelt und am Schluss wussten es alle schon. Es ist und war schon immer schwierig, bestehende Lebensphilosophien und Überzeugungen zu ändern.
Und ja, unter dem Deckmantel des Lernens ist es leider so, dass in erster Linie Gehorsam beigebracht wurde.
Im Sport kommt hinzu, dass es schon viele anwenden, es aber aufgrund des Wettkampfcharakters und der Konkurrenzsituation nicht kundtun. Selbst ich erfahre es dann oft erst 10-15 Jahre danach, dass der Erfolg auf Differenzielles Lernen zurück ging.
An diesem Punkt waren wir schon ein paar Mal im Podcast: am Ende läuft es eigentlich immer darauf hinaus, dass man bestmöglich lernt oder weiterkommt, wenn man sich selbst sehr gut kennt und ein sehr genaues Bild von sich selber hat.
Allerdings wird wahrscheinlich gerade diese Fähigkeit zu wenig in Schul- und Musikausbildung kultiviert. Von daher wäre es ja eigentlich wünschenswert, wenn das eine Qualität wäre, die man den Leuten vermittelt oder?
Also jetzt wird es richtig philosophisch. Das ist eigentlich genau das, auch was schon über dem Orakel von Delphi stand und von vielen Philosophen wiederholt wurde: erkenne dich selbst.
Jetzt bin ich schon ein bisschen älter und ein bisschen mehr in der Welt rumgekommen, aber meine Beobachtung ist wirklich, alles, was wir machen, dient eigentlich nur dazu, uns selbst kennenzulernen und dann eventuell mal über den Sinn unseres Daseins nachzudenken.
Und jetzt komme ich ja von der Oboe und aus verschiedenen Sportarten mit Physik und Philosophiehintergrund und man wird eigentlich in allen Gebieten immer nur mit Problemen konfrontiert. Entweder stellt man sich ihnen und löst sie oder man läuft immer weiter in die kleinen Probleme rein und endet dann in Krankheiten. Das war auch einer meiner beeindruckendsten Sätze, die ich in einer Vorlesung in Physik von Carl Friedrich von Weizsäcker gehört hatte: „Warum muss der Mensch immer erst physisch erkranken, damit er psychisch gesunden kann.“
Ein anderer Spruch war für mich immer: das Schicksal hat so gewisse Winks und wenn man den Wink nicht versteht, dann kommt er das nächste Mal halt als Zaunpfahl daher. Ein anderer Spruch in eine ähnliche Richtung, der aus dem Indischen kommt: wenn du Gott zum Lachen bringen willst, dann mache einen Plan.
Das haben wir in Indien in unserer Ausbildung ständig gehört. Und es ist inzwischen auch klar, dass Pläne im überwiegend Frontallappen produziert werden. Deswegen steht es auch schon in der Bibel drin, dass wir zu Kindern werden müssen, um in das Reich Gottes zu gelangen. Und damit ist nicht gemeint kindisch zu sein. Sondern es geht darum, nicht zu planen, im Moment zu sein und nicht zu urteilen. Aus diesem Grund lernen auch Kinder so schnell.
Kinder bis zum fünften Lebensjahr zeigen im Gehirn nur die niedrigen Frequenzen, die theta und alpha). Die hohen Frequenzen, Beta und gamma kennt das kindliche Gehirn nicht. Die niedrigen Frequenzen sind aber genau diejenigen, die wir brauchen, um zu lernen. Und dies versuchen wir seit längerem für andere Bereiche zu nutzen, indem wir die niedrigen Frequenzen provozieren: Erwachsene wieder in den Gehirnzustand zu bringen, damit optimales Lernen stattfindet. Wenn wir das Gehirn in diesen Alpha-Theta-Zustand kriegen, dann lernen wir optimal. Genau dafür ist Bewegung ideal und es muss nicht unbedingt Ausdauersport sein, sondern jede Form von Bewegung, allerdings Ganzkörperbewegungen. Fingerbewegungen alleine scheinen nicht zu genügen. .
Wie viel Variation ist zu viel?
Ich würde gerne zum Abschluss noch einmal rauszoomen, um den Leuten ein paar Handwerkszeuge mitgeben, wie sie beim Selbstbeobachten schauen können, in welche Richtung das Differenzielle Lernen bei Ihnen geht. Sie hatten das Wie in der Musik bereits etwas skizziert. Ich versuche mal zwei weitere Ebenen anzuschließen:
Die erste, die zeitliche, die hatten wir vorher schon ganz kurz umrissen. Ich habe hier nochmal einen anderen Blickwinkel drauf, den ich Ihnen gerne vorstellen würde, nämlich das Credo des „Viel hilft viel“.
Wahrscheinlich ist es nicht schlau, den ganzen Tag differenziell zu üben, denn so ein gewisses Maß an Wiederholung ist ja auch schon sinnvoll. Sie hatten das eben mit diesem psychologischen Aspekt umrissen. Ich weiß, Herr Widmaier hat das in so einem schönen Rechteck beschrieben, wo es um Konstanz und Varianz geht.
Können Sie beschreiben, inwiefern das differenzielle Lernen in so einem Alltag ausmachen kann, um nicht in einen Überforderungszustand zu geraten?
Das waren gleich mehrere Fragen. Der erste ist, Sie wollen jetzt, dass ich mich selbst ins Knie schieße. (lacht)
Hoffentlich nicht.
Das klingt so ein bisschen nach der Frage nach einem Rezept. Und das widerspricht ja eigentlich der Theorie des Differenziellen Lernens. Es war auch ein Ansatz gleich von Anfang an, dass ich gar nicht so viel publizieren wollte, weil ich erstmal die Leserschaft dazu anregen wollte, wieder mehr zu experimentieren. Und nicht nur irgendwas blind zu übernehmen, was in irgendwelchen Büchern steht.
Und da war auch ein schöner Spruch von mir, den ich übernommen habe von Schopenhauer: „Wer viel liest, lernt nur mit anderen Köpfen zu denken.“ Also denk bitte erst selbst nach, bevor du liest. Und nur, wenn es gar nicht mehr geht, dann schaue nach etwas anderem. Einige haben dies dann missbraucht und das Differenzielle Lernen irgendwie völlig schief interpretiert. Das war der Grund, warum wir dann anfingen, wieder etwas zu veröffentlichen.
Also prinzipiell: ich weiß es nicht, wie viel Variation notwendig ist. Allerdings besagt ein Teil der Theorie, dass man die beobachtenden Schwankungen langsam anfangen soll.
Weniger ist mehr
Und eigentlich war schon ein Ansatz des differenziellen Lernens, dass man nicht die gleiche Menge variabel trainiert, sondern dass man den Umfang des Übens massiv reduzieren kann. Und das sehen wir inzwischen auch bei Studien im Sport: Probanden wurden über zwei Monaten zu zwei Stunden mehr Schlaf gezwungen. Die Vergleichsgruppe trainierte in diesen zwei Stunden. Sie können sich vorstellen, was rauskam? Diejenigen mit mehr Schlaf haben die Leistungsfortschritte gemacht und nicht die, die trainiert haben in der Zeit.
Und das wissen wir auch aus anderen Studien. Kinder, die in der Grundschule täglich eine Stunde Sport hatten, zulasten von Deutsch, Mathe etc., sind in Mathe und Deutsch besser geworden als die anderen, die keinen täglichen Sport hatten.
Jetzt kam ich halt auch aus dem Mehrkampf, wo es ganz wichtig war zu ökonomisieren. Ich kann nicht jeden Tag einen Zehnkampf machen. Wenn ich eine Variation zum richtigen Zeitpunkt bringe, dann muss ich gar nicht mehr so viel üben.
Und das ist genau, was kleine Kinder schon spüren. Wenn es zu viel wird, schlafen sie wieder. Deswegen schlafen Kinder so viel – bis zu 16 Stunden. Das ist die Basis des Lernens. Es ist nicht das Aktive. Nein, sehr häufig ist das blinder Aktionismus.
Auswirkung von Mittagsschlaf auf den Lerneffekt
Und das zeigen auch andere Studien. Mittagsschlaf, wenig populär in Deutschland, hat große, positive Auswirkungen für anschließende Dinge.
Und was man sogar inzwischen beobachtet hat: Wir untersuchen das gerade parallel in einer großen mediterranen Ernährungsstudie von meinem Kollegen Dr. Ammar. Eine der Ursprünge der mediterranen Ernährung kam aus Kreta. Viel Olivenöl etc. Jetzt hat man das Ganze wiederholt und hat aber drauf geachtet, wer denn einen Mittagsschlaf macht. Und wenn man den rausnimmt, dann gibt es keine Vorteile mehr. Das heißt, die ganzen Effekte gingen auf den Mittagsschlaf zurück.
Also, noch mal ganz zurück zum Differenziellen Lernen. Ich würde sagen, wer es ausprobiert, soll wirklich mal eine gewisse Zeit lang probieren, soll experimentieren. Mal gucken, wie der Körper darauf reagiert.
Es ist ein großes Problem, dass wir so lange Zeit eingetrichtert bekommen haben, dass man unter 10.000 Wiederholung nicht auf die Landesmeisterschaften kommt; unter 2 Millionen Wiederholungen nicht zu Olympia. Das kenne ich aus der Musik auch: du musst 10 Stunden üben am Tag. Ich bezweifle das. Also ich glaube, wenn man es entsprechend variabel gestaltet, dass mindestens kleine Effekte rauskommen.
Oder, was wir eingangs schon besprochen haben, einfach mal andere Möbel drumherum probieren oder nur auf unebenem Grund mal zu trainieren. Da sehen wir schon Rieseneffekte in Bezug auf unsere Konzentration. Also für mich gilt es eigentlich, die Kleinigkeiten zu finden, die dann Riesenauswirkungen haben.
Diese Schlafstudie gibt es auch in der Musik von Eckart Altenmüller, wenn mich nicht alles täuscht.
Ja, würde ich ihm zutrauen. Er war auch bei unserem ersten Treffen vor zirka 15 Jahren dem Differentiellen Lernen gegenüber sehr aufgeschlossen.
Die Rolle des Lehrers im Differenziellen Lernen
Wie verändert sich denn die Rolle des Lehrers im Differenziellen Lernen? Denn der Fehler im klassischen Sinn, die gibt es ja nicht mehr. Das sind alles Schwankungen, bzw. Sie sagen Rauschen dazu. Aber wie geht man damit um als Pädagoge?
Das ist schwer, wenn man aus der alten Schule kommt.
Als Trainer bin ich nicht nur für die Ausführung des Sports zuständig, sondern für die Persönlichkeitsentwicklung. Bei mir in der Gruppe mit 20 Athleten war immer auch Austausch darüber, wie es in der Schule und privat läuft. Und die Persönlichkeitsentwicklung schließt für mich ein, auch im Sport zu lernen Verantwortung zu übernehmen.
Am Anfang gab ich viele Instruktionen, um ihnen auch klarzumachen, dass etwas anderes möglich ist. Sie kamen ja alle aus der klassischen Schule. Ich habe ihnen dann oft eine Variante gezeigt und sie aufgefordert selbst drei weitere Varianten zu entwickeln. So wurde es interaktiv. Das ist ein bekannter Lehrstil in der Pädagogik.
Ich endete oft in meinen Vorträgen mit der Frage, was die Take-Home-Message sei. Die Antwort darauf: Nichts, weil ihr wusstet alles schon.
Das Ziel ist nur, die Hindernisse und die Blockaden, die euch antrainiert wurden wegzukriegen. Das Verhalten, was ihr zeigt, war gut gewesen um als Kinder zu „überleben“. Aber jetzt erkennt es und fangt an daran zu arbeiten, um davon wegzukommen.
Outro
Ich hätte, ähnlich wie am Anfang, zwei Fragen für den Abschluss: Was lernen oder üben Sie gerade, was Sie noch nicht so gut können?
Ich bin am Lernen von Spanisch. Ich bin am überlegen, ob ich Kajakfahren noch lerne.
Ich probiere ständig neue Koordinationsübungen aus und bin jetzt aber gerade dran, den Einfluss von Erd-Magnetfeldern auf unser Gehirn mir anzugucken. Es zeigt sich, dass das einen wesentlich größeren Einfluss hat, als wir glauben, weil wir keine Sensoren dafür haben, die Efffekte sind aber vorhanden. Zudem stellt es unmittelbar die Verbindung zur Astrologie her. Da steckt verdammt viel Wissen drin, was einfach aus Ignoranz und Arroganz quasi unter den Tisch fällt. Also man kann da viel davon lernen.
Ja, das ist ein sehr spannender Punkt, den ich auch schon in der Vorbereitung gehört habe. Also wenn es da was Neues gibt, dann bin ich sehr neugierig.
Und wenn Sie jetzt in Ihre eigene Studierendenzeit zurückblicken, hätten Sie einen Tipp für jüngeres Ich aus heutiger Perspektive, um den Sie damals froh gewesen wären?
Nein, das ist vorbei. Es widerspricht auch dem „Im Moment sein“. Ich habe immer mein Bestes probiert, mehr ging nicht. Also was soll ich da ändern? Studien zeigen auch, dass man fast nur Dinge bereut, die man nicht gemacht hat. Ich habe viel ausprobiert.
Und dann jemandem Empfehlung zu geben? Nein, das mache ich nicht. Ich kann erzählen, was ich mache und gemacht habe, und dann kann jeder für sich entscheiden, ob er es nimmt oder nicht.
Wer schreibt hier eigentlich..?
Patrick Hinsberger studierte Jazz Trompete bei Matthieu Michel und Bert Joris und schloss sein Studium im Sommer 2020 an der Hochschule der Künste in Bern (Schweiz) ab.
Seit seiner Bachelor-Arbeit beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema musikalisches Üben und hostet seit 2021 den Interview-Podcast "Wie übt eigentlich..?"
Hallo,
die Folge über differentielles Lernen habe ich mit großem Interesse gelesen. (Hören hat bei dieser Folge komischerweise nicht funktioniert). Ich mache seit vielen Jahren Feldenkrais, was mir auch beim Üben und Musizieren enorm hilft. Im Grunde hat Moshe Feldenkrais schon in den 1930er Jahren zu einer Zeit ohne MRTs und CTs diese Erkenntnisse über das Lernen gehabt und in seinen über 1000 Übungen für jeden praktisch nachvollziehbar gemacht. Es würde mich interessieren, ob Herr Schellhorn davon gehört hat und was er darüber denkt. Es gibt auch Musikpädagogen, die auch Feldenkraislehrer sind und beides in ihrem Unterricht zusammen bringen. Vielleicht auch interessant für eine Podcastfolge?? Weiterhin alles Gute Renate
Liebe Renate,
vielen Dank für die schöne Rückmeldung. Tut mir leid, dass das Hören nicht funktioniert hat. Die Folge ist aber weiterhin z.B. hier auf Spotify erreichbar.
Ich hatte mit Wolfang Schöllhorn im Vorgespräch über Feldenkrais und Alexander-Technik gesprochen. Ich bin mir sicher, dass ihm diese beiden Disziplinen vertraut sind. Den Hinweis mit einer eigenen Podcast-Folge zum Thema Feldenkrais nehme ich gerne auf. Vielen Dank hierfür.
liebe Grüße
patrick
Ich wollte es mir gar nicht anhören, sondern bin mit dem Lesen des Artikels glücklich: dann kann ich Pausen machen, wenn ich sie brauche; und ehrlich, ich brauche jede Menge Pausen, weil ich in kleinen Häppchen verdaue. Schon in der Uni habe ich Vorlesungen gehasst und wenn möglich, ignoriert. Das ist einfach nicht mein Ding. Offensichtlich habe ich schon immer ‚differenzielles Lernen‘ praktiziert mit ganz erheblichen Unannehmlichkeiten. Der Artikel hat mir in der Seele wohlgetan, danke.