Wie wird man sein eigener Lehrer? Ich hatte das Vergnügen mit der Querflötistin Anne-Cathérine Heinzmann im Podcast „Wie übt eigentlich..?“ zu sprechen. Sie wuchs in Hamburg auf und studierte bei Jean-Claude Gérard, Jeanne Baxtresser und Michael-Martin Kofler. Als Preisträgerin zahlreicher Wettbewerbe wurde sie von renommierten Stiftungen gefördert. Anne-Cathérine tritt regelmäßig bei Festivals wie dem Schleswig-Holstein Musik Festival und den BBC Proms auf. In der Kammermusik arbeitet sie u.a. mit dem Trio Charolca und namhaften Musikern wie dem Mandelring Quartett. Von 1999 bis 2018 war sie stellvertretende Soloflötistin in Frankfurt. Seit 2018 ist sie Professorin für Flöte an der Folkwang Universität der Künste.


Lieber Hören statt Lesen?
Das Interview mit Anne-Cathérine Heinzmann
Inhalt
- Entweder-Oder-Fragen
- Wie sieht dein typischer Übe-Alltag aus?
- „Wie bringe ich mir selbst das Üben bei?“
- Anne-Cathérins Lieblingsübung
- Zum Schluss: Zwei persönliche Fragen
Die erste Frage, mit der es immer losgeht, lautet: Vervollständige folgenden Satz. Üben heißt für dich?
Zeit mit mir selbst zu verbringen.
Gibt es einen Künstler, der gerade in Dauerschleife läuft bei dir?
Nein, in Dauerschleife nicht. Aber ich habe gerade, die neue CD von Christina Pluhar (Ensemble La Pejata). Die neue CD heißt Terra Mater. Das Ensemble spielt auf Originalinstrumenten aus der Barockzeit. Und die habe ich in letzter Zeit öfter gehört.
Wenn du an dein eigenes Spiel und deine musikalische Karriere zurückdenkst – gab es einen Künstler oder eine Künstlerin, die dich stark geprägt haben? Muss kein Flötist oder keine Flötistin sein, kann auch ein anderer Instrumentalist gewesen sein.
Es gibt natürlich viele Flötisten verschiedener Generationen, die mich beeinflusst haben. Besonders wollte ich damals nach New York, um bei Jeannie Baxtresser zu studieren. Sie war Soloflötistin beim New York Philharmonic und unterrichtete an der Juilliard School sowie an der Manhattan School of Music. Ihre Aufnahme von La Prémie d’Île kannte ich bereits. Ich habe sie dann persönlich kennengelernt – das hat meinen Wunsch, ins Ausland zu gehen, verstärkt. Sie hat mich stark geprägt, als Mensch, als Lehrerin und durch ihre Persönlichkeit.
Ich komme aus einer Musikerfamilie – ich bin bereits die dritte Generation an Flötisten. Mein Vater und mein Großvater waren oder sind ebenfalls Flötisten. Mein Vater zum Beispiel ist heute 77, spielt aber nach wie vor. Natürlich hat mich das ebenfalls stark geprägt.
In meiner Jugend prägte mich auch die Generation James Galway. Er war der Flötensolist jener Zeit und kam regelmäßig nach Hamburg. Wir haben seine Konzerte oft besucht – und er auch uns. Ich durfte sogar einmal auf seiner Flöte spielen, das weiß ich noch genau. Solche Erlebnisse hinterlassen natürlich Eindruck. Stilistisch hat sich mein Spiel heute sicherlich weiterentwickelt. Aber die flötistische Qualität, die Galway hatte, und seine Bühnenpräsenz – das habe ich sehr bewusst wahrgenommen.
Ansonsten habe ich in meiner Jugend viele Konzerte besucht, besonders während meiner Zeit in Hamburg, wo ich bis etwa zum 18. Lebensjahr aufgewachsen bin.
Nach der Schule – ich hatte ohnehin viele Proben in der Stadt – ging ich oft direkt in die Musikhalle, die heute Laeiszhalle heißt. Ich kannte mich dort gut aus, kam durch den Hintereingang rein, machte meine Hausaufgaben in der Kantine und schlich mich anschließend ohne Ticket auf den zweiten Rang. Ich habe dort unzählige Konzerte gehört – unter anderem Alfred Brendel mit Beethoven-Sonaten. Auch Martha Argerich war dabei. Ich habe bewusst versucht, möglichst viele andere Instrumente zu hören, nicht nur Flöte.
Du hast jetzt viel über die frühe Zeit gesprochen. Gibt es heute noch jemanden, bei dem du sagst: „Wow, wenn ich den höre, bin ich immer noch total beeindruckt?“
Einer, der mich auf der Flöte sehr inspiriert, ist Jacques Sohn. Er unterrichtet in Genf und war früher Soloflötist in Boston. Ich habe ihn kennengelernt, als ich damals in New York studiert habe. Damals spielte er die Kindertotenlieder mit dem Boston Philharmonic Orchestra – unter der Leitung von Uwe Sava, mit Jessye Norman als Sängerin – in der Carnegie Hall. Er ist unglaublich kreativ und innovativ. Ich liebe seine Ideen und finde ihn als Künstler äußerst spannend.Und natürlich Emmanuel Pahud – an ihm kommt man nicht vorbei. Ich kenne ihn persönlich, schätze ihn sehr und bewundere, was er kann und leistet.
Ich lasse mich auch stark von Sängerinnen und Sängern inspirieren. Die Flöte hat für mich sehr viel mit Gesang zu tun – ich hatte selbst Gesangsunterricht. Wenn man mich fragen würde, welches Instrument ich im nächsten Leben wählen würde, würde ich wohl wieder zur Flöte greifen. Aber wenn nicht, dann würde ich singen. Besonders spannend finde ich den Barockgesang – die Art zu singen fasziniert mich. Ein gutes Beispiel ist Joyce DiDonato, eine Barocksängerin. Ihre CD “War and Peace” – “Krieg und Frieden” – finde ich unglaublich inspirierend.
Warum genau Gesang im nächsten Leben?
Vielleicht, weil Gesang dem Ursprung noch näher ist. Die Flöte ist für mich eng mit dem Gesang verwandt – sie ist gewissermaßen eine Verlängerung des Atems. Beim Gesang kommt natürlich noch die Stimme dazu.Eigentlich machen wir fast das Gleiche wie Sängerinnen – nur eben mit einem Instrument. Der Umgang mit der Luft ist aber identisch.
Mit der eigenen Stimme wäre es vielleicht noch unmittelbarer – aber ich liebe die Flöte. Sie ist für mich ein unglaublich schönes Instrument.
Entweder-Oder-Fragen
Für alle, die dich noch nicht so gut kennen, habe ich ein paar Entweder-oder-Fragen vorbereitet. Du hast einen Joker – bei einer Frage darfst du aussetzen. Bei den anderen bin ich gespannt, wie du dich entscheidest. Es sind insgesamt acht Fragen. Nordsee oder Ruhrpott?
Nordsee.
Wenig und oft oder selten und viel?
Selten und viel.
Normale oder Piccolo-Flöte?
Normale.
Mozart oder Bach?
Da muss ich passen.
Das ist der Joker?
Ja.
Kammermusik oder Solistin vor einem großen Orchester?
Kammermusik.
Abwechslung oder Routine?
Abwechslung.
Goldschmieden oder Malerei?
Das ist jetzt fies. Ich darf nur einmal passen, oder? Also Goldschmieden dann.
Ich habe das in der Vorbereitung gelesen – ist das für dich eher ein Ausgleich, zum Abschalten und Runterkommen? Oder geht es dir bei dieser anderen Kunstform eher darum, deine Kreativität zu beflügeln? Suchst du das bewusst?
Ich male auch, aber Goldschmieden finde ich besonders spannend, weil es so dreidimensional ist. Irgendwann, wenn ich mehr Zeit habe, würde ich gern Skulpturen machen. Ich finde Schmuck an sich auch etwas sehr Schönes. Zum Beispiel dieser Ring – den habe ich zwar nicht selbst gemacht, aber er fasst zwei Ostseekiesel ein. Etwas sehr Erdiges. Damit verbinde ich etwas, schließlich bin ich im Norden aufgewachsen.
Ein Schmuckstück anzufertigen, dauert. Man arbeitet Stunden, Tage, manchmal Wochen oder sogar Monate daran. Es ist fast wie Meditation: Man feilt, dann noch ein bisschen mehr – bis es die perfekte Form hat. Es ist ein echter Prozess. Und am Ende hält man etwas in der Hand – und kann es sogar tragen.
Ich habe längere Zeit nichts gemacht – aber jetzt fange ich wieder an. Ich liebe Farben – besonders, wenn ein schöner Stein ins Spiel kommt.Es gibt lupenreine, sehr teure Steine – die interessieren mich weniger. Ich finde Steine spannend, die Einschlüsse haben – die eine Geschichte erzählen. Die Farbe ist oft schon im Stein – man kann damit sofort etwas gestalten. Das macht mir große Freude.
Wenn du sagst, es ist ein Prozess, erinnert das ja ans Üben – auch da braucht es Zeit. Und meditativ klingt nach Abschalten, oder?
Ja, man kann völlig darin versinken. Man kann sich dabei unterhalten – oder ganz still für sich arbeiten.
Hast du denn überhaupt freie Tage – wenn das für dich so ein Rückzugsort ist?
Früher ja, aktuell muss ich mir diese Zeit erkämpfen. Es muss aber auch von innen kommen, der Impuls.
Es gab auch Phasen, da hatte ich nicht das Bedürfnis – zu viel anderes war wichtiger. Jetzt kehrt das Bedürfnis langsam zurück – es ruft.
Unterrichten oder Konzertieren?
Oh, das ist schwer. Ich würde Konzertieren sagen – aber ich liebe auch das Unterrichten.
„Eigentlich sind es die Begegnungen mit Menschen – das, was über das reine Flötenspiel hinausgeht. Wenn man eine Woche intensiv zusammenarbeitet, entdeckt man viel.“
Anne-Cathérine Heinzmann
Du warst gerade auf einem Meisterkurs im Forum Artium. Was nimmst du aus diesen Tagen für dich persönlich mit?
Eigentlich sind es die Begegnungen mit Menschen – das, was über das reine Flötenspiel hinausgeht. Wenn man eine Woche intensiv zusammenarbeitet, entdeckt man viel. Besonders am Forum Artium ist, dass alle in einem Haus wohnen – man lebt und arbeitet gemeinsam.
Es gibt drum herum nicht viel, also bleibt man an Ort und Stelle – das schafft Nähe und gemeinsame Zeit. Man lernt die Menschen dahinter kennen, ihre Leidenschaften und Bedürfnisse.
Ich lerne immer dazu – meine Studierenden sind oft meine besten Lehrmeister. Am schönsten ist es, wenn wir gemeinsam lachen konnten – und am Ende, beim Abschlusskonzert, die Teilnehmerinnen etwas umsetzen, woran wir gearbeitet haben. Diesmal waren es 13 Frauen, kein einziger Mann – das ist nicht immer so. Wenn ich am Ende sagen kann: „Das habt ihr geschafft“, dann macht mich das glücklich.
Du sagst, du lernst auch selbst immer etwas – was hast du diesmal für dich mitgenommen?
Ich habe gelernt, besonders letzte Woche, mit sehr unterschiedlichen Ausgangsniveaus umzugehen.
Allen das Gefühl zu geben, respektiert zu werden und etwas schaffen zu können – das ist mir, glaube ich, gut gelungen. Und das war für alle bereichernd. Ich erinnere mich: Früher fuhr man zu Kursen, um sich zu präsentieren. Man stand ständig unter Druck – ich habe zu früh mit Kursen begonnen. Es fühlte sich oft wie eine Aufnahmeprüfung an.
Und andersherum – als Lehrerin: Natürlich kommen zu Kursen auch Menschen, die sich für ein Studium bei mir interessieren. Aber es soll immer eine Weiterbildung für alle sein.
Ich wünsche mir, dass es nicht darum geht, mir das perfekte Stück vorzuspielen, das man seit Jahren kennt, sondern dass man sagt: Ich möchte daran arbeiten.
Und das war diesmal tatsächlich so. Ich hoffe, es spricht sich herum, dass das möglich ist.
Das ist eine wunderbare Art zu arbeiten. Es waren auch zwei, drei Stücke dabei, die ich selbst nicht kannte oder noch nie gespielt hatte. Kein gängiges Repertoire – ich brauchte selbst eine Partitur. In solchen Fällen arbeite ich aktiv mit. Jetzt habe ich drei Werke im Gepäck, die ich selbst üben werde.
„Man stand ständig unter Druck – ich habe zu früh mit Kursen begonnen. Es fühlte sich oft wie eine Aufnahmeprüfung an.“
Anne-Cathérine Heinzmann
Wie sieht dein typischer Übe-Alltag aus?
Dann sind wir direkt beim richtigen Thema: dem Üben. Nimm uns doch mal mit in deinen Übealltag.
Ich habe ein Repertoire an Übungen, das ich thematisch gezielt abrufen kann. Über die Woche versuche ich, Abwechslung hineinzubringen. Ich übe täglich.
Ich finde es interessant, dass du deine Übungen über sieben Tage verteilst. Gibt es also Bestandteile, die wirklich täglich wiederkehren?
Ja, die gibt es. Ich übe jeden Tag Tonleitern, Staccato und Zwerchfellkontrolle. Diese Übungen habe ich in verschiedenen Variationen. Es ist nie exakt dieselbe Übung. Je nachdem, ob ich 10, 20 oder 60 Minuten Zeit habe, passe ich sie an. Wenn ich etwa an der Luftführung arbeiten will, tue ich das gezielt. Oder wenn ich bei einem Stück nicht weiterkomme, greife ich auf passende Übungen zurück. Ich richte das individuell nach Bedarf aus. Aber ein halbstündiges Basis-Workout mache ich täglich.
Wenn du später am Tag an Stücken arbeitest – integrierst du dabei manchmal auch technische Grundlagen direkt in den musikalischen Kontext?
Ja. Ich möchte, dass meine Studierenden am Ende ihr eigener Lehrer sein können.
Sie kommen oft zu mir, als wäre ich ein Arzt, der ein Rezept ausstellt – aber eigentlich sollen sie selbst Lösungen finden. Und das gelingt auch. Weil ich selbst viel unterrichte, kommen mir beim eigenen Üben oft neue Ideen. Ich denke dann: Das wäre eine gute Übung – die bringe ich morgen in den Unterricht. Ob im Unterricht oder im eigenen Üben – im Kern geht es um dasselbe. Manchmal arbeite ich aus dem Stück heraus, manchmal sind grundlegende Übungen nötig, wenn etwas nicht klappt. Es ist eine Gratwanderung – im Unterricht wie beim eigenen Spielen. Habe ich wenig Zeit, löse ich vieles über die Arbeit am Stück. Wenn ich ganz in einem Stück bin, will ich keine Tonleitern – dann experimentiere ich lieber darin.
Was ich sehr wichtig finde – und auch immer betone: Im Übe-Raum ist alles erlaubt. Handy aus, Tür zu – niemand hört zu. Man darf singen, klatschen, tanzen, schreien – alles, was hilft, sich selbst zu spüren, ist erlaubt. Viele haben Hemmungen beim Singen oder bei speziellen Übungen. Dann sage ich: Ist doch egal – wir machen das gemeinsam. Das wirkt befreiend. Wenn ich es vormache, lachen zwar alle – aber es passiert etwas.
„Manchmal arbeite ich aus dem Stück heraus, manchmal sind grundlegende Übungen nötig, wenn etwas nicht klappt. Es ist eine Gratwanderung – im Unterricht wie beim eigenen Spielen.“
Anne-Cathérine Heinzmann
Wenn es leicht klingt, war es gut – über das Üben mit Mozart
Das finde ich schön – der Austausch übers Üben ist bereichernd. Und gemeinsam zu üben bringt eine neue Tiefe. Eine Anschlussfrage: Hast du ein Beispiel für ein Musikstück, bei dem du technische Übungen direkt integriert hast?
Beim Mozart-Konzert etwa haben wir viele Sechzehntel, die lebendig klingen müssen. Mozart ist bei jeder Aufnahmeprüfung und jedem Probespiel Pflicht – aus gutem Grund. Wenn es am Ende leicht klingt, war es gut – genau das macht es so schwer. Der Weg zur Leichtigkeit ist steinig, weil man enorm viel kontrollieren muss. Es gibt viele Artikulationen – etwa zwei gebundene, zwei gestoßene Noten. Ziel ist es, vier gleichmäßige, schön klingende Sechzehntelnoten zu spielen – unabhängig von der Artikulation. Und trotzdem sollen sie lebendig bleiben. Genau solche Dinge übe ich an Tonleitern.
Die französische Flötenschule – Fundament und Werkzeugkasten
Ähnlich wie in der russischen Geigenschule gibt es in der französischen Flötenschule bis heute fantastisches Übungsmaterial. Tafanel und Gobert ebenso wie Marcel Moyse haben bedeutende Übungsbücher verfasst. Als Cécile Chaminade ihr Konzert komponierte, schickte sie es ihm. Er antwortete ihr mit detaillierten Übungsanleitungen. Wir verfügen also über reichlich Material, auf das wir zurückgreifen können. Eine besonders bekannte Übung ist die „Nummer 4“ von Tafanel/Gobert. Wer sie durch alle Dur- und Moll-Tonarten und Artikulationen übt beschäftigt sich damit locker eine halbe Stunde. Ideal ist sie auch, um Kondition aufzubauen. Ich setze sie voraus – sie gehört zu unseren wichtigsten Übungen. Ich übe sie täglich. Diese Artikulationsübungen mache ich mit allen – besonders im Mozart-Kontext. Wer sie abrufen kann, kann sie im Mozart-Konzert einsetzen. Ich arbeite gezielt mit Tonleitern und kehre dann zum Stück zurück.
Du hast gesagt, dein Üben richtet sich stark nach deinen Bedürfnissen. Wie hat sich dein Üben über die Jahre verändert?
Es hat sich sehr viel verändert. Bis zur Aufnahmeprüfung in meiner Jugend war mein Ziel Perfektion. Ich wollte technisch perfekt, schnell und präzise spielen. Ich übte sogar vor dem Spiegel, besonders Staccato. Ich hatte das Glück, damals eine ausgezeichnete Lehrerin zu haben. Jean-Claude Gérard in Stuttgart – klassisch französische Schule. Der Fokus lag auf perfektem Flötenspiel.
Heute bin ich sehr dankbar für diese Grundlage. Wenn es technisch perfekt war, galt es als „gut genug“. Das hat mich gestört – ich wollte mehr. Das eigene Zulassen von Emotionen hat sich mit der Zeit verändert. Es hat gedauert, bis ich das wieder zulassen konnte – Vertrauen durch Kontrolle. Am Ende ist es auch ein bewusster Kontrollverlust, den man zulassen lernen muss.
Ich habe 17 Jahre im Orchester gespielt – viele Proben, viel Kammermusik, viele Richtungen. Auch mein Üben hat sich in dieser Zeit erneut verändert. Zu fast jeder Oper besitze ich Partitur und Libretto. Heute übe ich deutlich freier und intuitiver als früher. Ich habe mir über die Jahre ein großes Überepertoire aufgebaut, auf das ich schnell zurückgreifen kann.


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Üben heißt auch: Vertrauen, loslassen, sich erinnern
Die Kraft der Selbstreflexion
Kann man sagen, dass dein heutiger Zugang zum Üben durch ständige Reflexion gewachsen ist? Beim Üben geht es auch um Loslassen und Vertrauen – zu wissen, was funktioniert.
Ja, Selbstreflexion ist tatsächlich ein wichtiger Punkt. Aber auch das Leben selbst prägt uns – das darf man nicht vergessen. Wir sind die Summe unserer Erfahrungen – und auch der Reflexion, die von außen an uns herangetragen wird. Wenn ich selbst sage: „Das war richtig gut“, spiegelt sich das meist auch im Außen wider.
Ich sage meinen Studierenden oft: Wenn ihr nach einem Probespiel sagt „Ich habe genauso gespielt, wie ich es wollte“, aber die Stelle nicht bekommen – dann gratuliere ich: Du hast alles richtig gemacht. Mehr kannst du nicht tun – den Rest kannst du ohnehin nicht beeinflussen. In einer Stresssituation das abzurufen, was man sich vorgenommen hat – das ist die eigentliche Leistung. Und genau das sollte man abspeichern. Diese Erfahrung ist enorm wichtig.
„Was ich sehr wichtig finde – und auch immer betone: Im Übe-Raum ist alles erlaubt. „
Anne-Cathérine Heinzmann
Mentales Üben: Im Kopf beginnt die Musik
Ich arbeite auch schon lange mit mentalem Training – das ist ein fester Bestandteil meines Übens. Ich habe viel Zeit in Zügen verbracht und mir eine Strategie überlegt, wie ich auch ohne Flöte sinnvoll üben kann. Ich habe gemerkt: Das ist eine der besten Vorbereitungen überhaupt. Diese Methode versuche ich auch meinen Studierenden weiterzugeben. Sie hat sich bei mir im Laufe der Jahre weiterentwickelt. Diese Strategien beruhen auf vielen Erfahrungen – das Leben bringt einem so etwas auch bei, wenn man die Fähigkeit hat, auf sich selbst zu hören und genau hinzusehen.
Ich arbeite mit zwei bis drei unterschiedlichen Ansätzen. Wenn ich Noten lernen will, funktioniert das für mich wie ein innerer Fahrplan. Vergleichbar mit einem Slalomfahrer: An bestimmten Stellen langsamer, dann wieder beschleunigen. Wenn ich technisch arbeiten will, gehe ich die Passage mit den Fingern langsam durch – ganz bewusst. Manchmal halte ich die Flöte dabei in der Hand – allein das hilft. Ich lese die Noten und gehe die Musik gedanklich durch – wie eine mentale Route.
Wenn ich mental zur Stressbewältigung übe, visualisiere ich die konkrete Auftrittssituation. Ich stelle mir vor, wie ich ankomme – spüre den Herzschlag, die Anspannung. Ich versuche, diese Situation innerlich bereits erlebt zu haben. Ich bin meist vor dem Auftritt nervöser als auf der Bühne selbst. Ich arbeite viel daran, die Nervosität bewusst zuzulassen. Dass man die Situation im Vorfeld einmal innerlich „durchgefühlt“ hat, hilft enorm. Ich stelle mir sogar vor: Wie sieht der Einspielraum aus? Wie viele Leute sind da? Wann gehe ich auf die Bühne? Das alles ist Teil meines mentalen Übens.
„Wie bringe ich mir selbst das Üben bei?“
Du hast gesagt: Studierende sollen gehen können, wenn sie selbstständig üben können. Wie hast du dir selbst das Üben beigebracht?
Ich hatte natürlich Unterstützung. Ich komme aus einer Flötistenfamilie. Meine Eltern haben sich zum Glück zurückgehalten. Wenn mein Vater merkte, dass ich an einer Stelle nicht weiterkam, hat er mir methodische Tipps gegeben. So bekam ich oft Impulse, wie ich an bestimmte Passagen herangehen kann.
Auch mein Lehrer Jean-Claude Gérard in Stuttgart hat mich sehr geprägt. Er hat regelrecht mit mir gemeinsam geübt – das war extrem hilfreich. Dieses Vorgehen übernehme ich heute selbst mit meinen Studierenden. Es hilft enorm, wenn einem einfach mal jemand zeigt, wie man übt.
Eine weitere wichtige Lehrerin war Jeannie Baxtresser. Sie kam aus der amerikanischen Orchestertradition, wo mentale Vorbereitung und Probespieltraining schon früh eine große Rolle spielten. Von ihr habe ich gelernt, mit einem Aufnahmegerät zu arbeiten. Jede Unterrichtsstunde wurde aufgenommen, verschriftlicht – und sie hat alles kontrolliert.
„Es hilft enorm, wenn einem einfach mal jemand zeigt, wie man übt.“
Anne-Cathérine Heinzmann
Aufnehmen, Hinhören, Lernen
Das habe ich viele Jahre so weitergeführt. Meine Lehrerin sagte immer: Aufnahmegerät benutzen und wirklich zuhören – klingt es tatsächlich so, wie du meinst, dass du spielst?
Diese bewusste Hör-Arbeit habe ich auch von meinen Sängerfreunden gelernt. Sie nehmen sich oft mit nur einem Ton oder zwei Takten auf und analysieren genau, ob etwa das Wort „Blau“ wirklich so klingt, wie sie es beabsichtigen, oder ob sie es anders färben müssen. Diese detaillierte Herangehensweise habe ich dort gelernt: sich mehr und mehr selbst zuzuhören. Das ist eigentlich eine Erziehung.
Jean-Claude Gérard hat immer gesagt: „Du musst deine Ohren erziehen. Deine Ohren sind dein bester Lehrer.“ Das sagt sich leicht, aber ich habe tatsächlich mit dem Aufnahmegerät gehört, was wirklich passiert. Ich stellte fest: Moment, das klingt gar nicht so, wie ich dachte. Also nahm ich immer wieder auf, übte weiter, bis es wirklich so klang, wie ich es wollte. Das hat mich mindestens zehn Schritte weitergebracht.
Anne-Cathérins Lieblingsübung
Atmung & Haltung
Ich habe dich in der Vorbereitung gebeten, eine Übung mitzubringen, die dir sehr geholfen hat oder die du für besonders effektiv hältst.
Ja, ich glaube, da muss ich mal die Flöte auspacken. Ich liebe Übungen, das sage ich auch meinen Studierenden. Mit Übungen wird man besser. Es gibt für alles eine Übung, aber es gibt eine bestimmte Komponente, die übe ich wirklich jeden Tag zum Einspielen: eine Zwerchfellübung.
Ich möchte auf eine Etüde hinaus, die all meine Studenten spielen müssen. Sie ist berühmt: eine der Kreutzer-Etüden – ursprünglich von Beethoven, aber von Paul Meisen, einem bedeutenden Flötenlehrer und Professor in München, in eine Haltungsübung für die Flöte übertragen. Meisen, der mit einer Japanerin verheiratet war und lange in Tokio unterrichtete, hat sich intensiv mit östlicher Haltung und Philosophie beschäftigt. Er sagte einmal, dass in östlichen Kulturen der Schwerpunkt des Körpers im Bauch liegt, während im Westen das Motto oft „Bauch rein, Brust raus“ lautet. Ich sage immer: Schaut in Richtung Osten, denn dort liegt die bessere Haltung. Ein spannendes Buch dazu heißt „Hara„. Hara ist ein japanisches Wort, das schwer zu übersetzen ist, aber in etwa die „Erdmitte“ des Menschen beschreibt. Es ist ein philosophischer Begriff, der in vielen Kontexten auftaucht. Ein Beispiel ist „Harakiri“ – der Selbstmord durch Aufschlitzen des Bauches – auch hier spielt das Zentrum des Körpers eine zentrale Rolle. Das ganze Buch handelt von dieser inneren Mitte und der Haltung, die daraus entsteht.
Die Kunst der Luftführung
Diese Grundübung finde ich zentral, weil es sehr schwer ist, Luftführung zu lehren. Vieles passiert intuitiv, aber Flötistinnen und Flötisten atmen ein und halten den Bauch fest. Das ist dann die sogenannte „Stütze“. Ein Wort, das viele kennen, aber das schwer zu fassen ist. Ich bevorzuge Begriffe wie „Unterstützung“ oder „Halt“.
Was genau bedeutet das, und wie finde ich einen Weg, mit dem ich mich wohlfühle? Es hat auch mit Kraft zu tun. Die Flöte ist ein sportliches Instrument, man muss Kondition trainieren. Aber wir können ja nicht in den Körper hineinschauen. Ich kann nur sagen: So fühlt es sich an. Ich kann es beschreiben, hörbar machen, weitergeben – aber nicht zeigen. Ein gutes Beispiel für exzellente Atem- und Körperhaltung ist Emmanuel Pahud. Er hat eine fantastische Haltung, eine beeindruckende Atemführung und liebt genau das an der Flöte. Musik entsteht durch die bewusste Führung von Ein- und Ausatmung. Wenn diese gezielt eingesetzt wird, können wir musikalisch ausdrücken, was wir wirklich wollen.
Ich finde diesen Zugang so sinnvoll, weil er hilft, das eigene Zentrum zu finden. Unser Instrument, die Flöte, hat extrem viel mit Luft zu tun. Wir reden im Unterricht meist über Einatmung, aber Musik machen wir mit der Ausatmung. Das ist wie Yin und Yang, Leben und Tod, Schwarz und Weiß – zwei Gegensätze, die zusammengehören.
Die Übung, die ich zeigen möchte – eigentlich sind es zwei, eine Vorübung und dann die Kreutzer-Etüde – hat sehr viel mit Luftführung und Haltung zu tun. Und mit Haltung meine ich nicht nur die äußere, sondern auch die innere Haltung beim Spielen. Meisen schreibt: Alles soll entspannt sein – Schultern, Knie, nichts ist verkrampft. Der Klang entsteht aus dem Bauch heraus, durch die Bewegung des Zwerchfells. Mit minimalem Aufwand soll ein maximaler Effekt erzielt werden.
Die Übung in der Praxis
Ich sage das alles, um zu erklären, warum mir diese Übung so wichtig ist. Es ist jetzt tatsächlich eine praktische Übung. Ich lege das Mikrofon kurz zur Seite. In der Vorübung geht es darum, mit minimalstem Aufwand maximalen Klang zu erzeugen. Ich platziere nur meinen Ansatz und bewege dann gezielt das Zwerchfell.
(Musik)
Dabei geht es vor allem um innere Haltung, denn für uns ist die Platzierung und Nutzung von Resonanz entscheidend. Ich sage immer: Alles, was unterhalb des Halses liegt, ist ein Schalltrichter. Der ganze Körper wirkt als Resonanzraum. Das kennen wir auch von den Sängerinnen und Sängern: Sie nutzen ihren Körper als Resonanzkörper, damit der Klang frei schwingen kann.
Beim Klavier wird durch das Hämmerchen die Saite zum Schwingen gebracht. Beim Gesang schwingen die Stimmbänder. Bei der Geige erzeugt der Bogen die Schwingung auf der Saite. Und wir Flötist:innen? Wir haben „nur“ die Luft und unsere Platzierung.
Wenn ich meinen Ansatz nicht gut setze, entweicht zu viel Luft und die Resonanz fehlt. Ein gut schwingender Ton hat ein ausgewogenes Verhältnis von Obertönen und Bässen. Genau das ist Ziel der Zentrumsübung, die ich täglich mache. Schon Moyse sagte: „Ihr müsst der Flöte euren warmen Atem geben.“ Das verändert den Klang komplett.
Kreutzer-Etüden für die Flöte
„Flöten-Yoga“
Die Kreutzer-Etüden – ursprünglich für Geige geschrieben – wurden für die Flöte adaptiert. In der Variante für die Flöte wird das Zwerchfell im Legato trainiert.
(Musikbeispiel)
Diese Etüde ist lang und anspruchsvoll. Viele tun sich schwer damit, das Legato wirklich zuzulassen. Denn das verlangt, die Luft fließen zu lassen, das Zentrum aktiv einzusetzen und gleichzeitig loszulassen. Wer den Bauch verkrampft, kommt nicht weiter. Nur wenn die Luft frei fließen darf, funktioniert es. Diese Etüde ist eine meiner wichtigsten Übungen. Meine Studierenden nennen sie „Flöten-Yoga“.
Ich mache diese Etüde mit allen und finde, sie eignet sich für jede Spielstufe. Sie hilft, Haltung zu finden – äußerlich und innerlich. Denn oft werden wir durch viel Üben und das ständige Notenlesen innerlich starr. Deshalb ist es hilfreich, eine Übungseinheit mit so etwas zu beginnen und auch zu beenden. Das können Übungen sein, die uns helfen, wieder in unsere Mitte zu kommen – klanglich und körperlich. Es geht dabei um das Sich-selbst-Zuhören. Nicht nur das Instrument klingt – auch der Körper.
Körper als Klangraum
Wenn man das runterbricht, ist der erste Teil ja fast eine Reduktion: ein einzelner Ton, konzentrierte Luftführung, guter Ansatz. Und daraus entsteht etwas Meditatives, fast wie Yoga, oder?
Ja, sicher. Aber es ist auch eine sehr diffizile Übung, weil man sehr genau zuhören und sich spüren muss. Wenn das nicht gelingt, funktioniert es nicht. Es ist eigentlich eine sehr weise Übung.
Auch Blechbläser kennen dieses Unwort „Stütze“ – wie ein Damoklesschwert im Übungsraum. Es gibt ähnliche Übungen für Trompete, die auf einem einzigen Ton basieren, mit Fokus auf das bewusste Spüren der Stütze.
Ja, vor allem geht es darum, keine Ersatzspannungen aufzubauen. Das ist wie beim Krafttraining: Wenn bei der 15. Wiederholung nicht mehr die richtige Muskelgruppe arbeitet, sondern alles andere, dann ist der Bewegungsablauf nicht mehr kontrolliert. So ist es auch bei uns. Wenn wir die Kontrolle verlieren, verkrampfen wir an anderer Stelle.
Diese Übung stammt ursprünglich aus dem Gesang. Ich habe sie aus dem Vokalbereich übernommen. Sie ist eine wichtige Basisübung.
Zum Schluss: Zwei persönliche Fragen
Vielen Dank! Wir könnten noch stundenlang weiterreden, aber mit Blick auf die Uhr kommen wir langsam zum Ende. Zwei Fragen stelle ich all meinen Gästen zum Schluss:
Was lernst oder übst du gerade, das du noch nicht so gut kannst – auch gern außerhalb der Musik?
Permanentatmung. Ich kann sie, ich kann sie auch unterrichten, aber ich wende sie kaum an. Bisher war es nicht notwendig, aber ich würde es gern besser beherrschen.
Und wenn du zurückblickst: Welchen Rat hättest du dir als junge Erstsemester-Studentin gewünscht?
Lasst euch Zeit. Das ist, glaube ich, das Wichtigste.
Wer schreibt hier eigentlich..?
Patrick Hinsberger studierte Jazz Trompete bei Matthieu Michel und Bert Joris und schloss sein Studium im Sommer 2020 an der Hochschule der Künste in Bern (Schweiz) ab.
Seit seiner Bachelor-Arbeit beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema musikalisches Üben und hostet seit 2021 den Interview-Podcast "Wie übt eigentlich..?"