Zum Inhalt springen

Audiation: Wie hängen Musik- und Sprachlernen zusammen?

Inhalt.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus meiner Bachelor-Arbeit zum Thema Üben & Jazz.

  1. Ein Musikinstrument wie eine Sprache lernen
  2. Die Theorie der Audiation – „Vorhören“
  3. Audiation und Jazz
  4. Zwei Arten des Lernens
  5. Die Idee der Audiation und andere Methoden

Kannst Du Dich noch daran erinnern, wie Du Deine Muttersprache gelernt hast?

Wahrscheinlich eher nicht. Das Erlernen unserer Muttersprache erfolgt im Kindesalter auf informelle und unstrukturierte Art und Weise. In der alltäglichen Kommunikation mit unseren Eltern und der Umwelt eignen wir uns zunächst das Zuhören und das Sprechen an. Erst später widmen wir uns dem Lesen und Schreiben. Niemand würde ernsthaft diese Reihenfolge ändern wollen und seinem Kind schon das Lesen beibringen, bevor es nicht gelernt hat zuzuhören.

Tatsächlich dreht der instrumentale Musikunterricht diese Reihenfolge jedoch in den allermeisten Fällen um. Wir lernen in den ersten Stunden Notensystem und Notenwerte kennen und spielen erste Übungen aus dem eigens für den Unterricht angeschafften Lehrbuch nach. Das stellt sich logischerweise die Frage: Ließe sich ein Instrument wie eine Sprache erlernen?

Ein Musikinstrument wie eine Sprache lernen

Wie übe ich Audiation?

„Audiation is to music, what thought is to speech.”[1]

Edwin Gordon

Edwin Gordons Music Learning Theory (MLT) ist der Versuch einer Modellentwicklung zur Frage „Wie erlernen Individuen Musik?“. Sie ist Teil des von ihm geprägten Begriffs der Audiation. Der ausgebildete klassische Kontrabassist und Musikpädagoge definiert in diesem Terminus das „Hören und Verstehen von Musik, die nicht oder möglicherweise nicht physikalisch erklingt“[2]. Der Schwerpunkt der Definition liegt dabei vor allem in der Fähigkeit Musik zu verstehen – also das Gehörte in einen größeren, musikalischen Gesamtzusammenhang einzuordnen.

Gordon geht, wie das Eingangszitat bereits andeutet, davon aus, dass ein Musikinstrument lediglich eine Erweiterung der Gedanken und des menschlichen Körpers ist („(…)an extension of the human mind and body.“[3]). Die Frage wäre also: Sollte es möglich sein, ein Instrument ebenso wie unsere Muttersprache zu erlernen?

Die Theorie der Audiation – „Vorhören“

Die Theorie der Audiation richtet ihr Konzept wieder mehr nach der ursprünglichen Art des Spracherwerbs aus. Zunächst hören die Lerner*innen bekannte Melodien und Volkslieder bevor sie, je nach Alter, aufgefordert werden diese nachzusingen, sich rhythmisch zu ihnen zu bewegen oder sie gar auf dem Instrument nachspielen sollen. Das Augenmerk liegt in dieser Phase mehr auf dem musikalischen Kontext (Tonalität und Metrum) denn dem musikalischen Inhalt (der Name der einzelnen Note, die dazugehörige Skala etc.). [4]

Erst im darauffolgenden Schritt werden die Noten herangezogen und nachgespielt. Allerdings mit dem Hauptfokus auf dem „Vorhören“ – also dem Hören der Melodie im Kopf, bevor sie tatsächlich erklingt. Gordon lehnt sich hier an das Dogma von Lowell Manson „sound before sign“[5] an. Oder um mit den Worten von Miles Davis zu sprechen: „I’ll play it first and tell you what it is later.“[6]


Newsletter High Five

Einmal im Monat versende ich einen Übe-Newsletter

Werde Teil der kleinen Newsletter-Community und erfahre einmal im Monat neue Übe-Tipps & wer der nächste, spannende Podcast-Gast sein wird.


Audiation und Jazz

Erst mit den Arbeiten des Musikers und Wissenschaftlers Christoph Azzara wird die Music Learning Theory um konkrete Handlungsanweisungen für den Jazz ergänzt.

Im Wesentlichen verfolgt Azzaras Ansatz drei Schritte:

  • Melodie nach Gehör lernen
  • Bass-Linie und Harmonie-Folge nach Gehör lernen
  • das Stück in anderen Tonarten und Metren üben.

Ziel ist es, sich das Material im wahrsten Sinne des Wortes zu eigen zu machen, um anschließend damit frei umzugehen (zu improvisieren). Ganz so wie wir es tagtäglich in der Kommunikation mit anderen Menschen tun.[7]

Zwei Arten des Lernens

Audiation differenziert dabei zwischen zwei Arten des Lernens: unterscheidendes Lernen („discrimination learning“) und schlussfolgerndes Lernen („inference learning“). Ersteres zielt dabei vor allen Dingen auf das Lernen durch Beobachten, besonders durch Imitation ab. Der Lerner*in soll hier ein Vokabular von Patterns und Rhythmen entwickeln.[8] Entscheidend für die Qualität der Beispiele ist es, dass sie dem Lerner*in bekannt sein müssen. Es eignen sich daher besonders einfache Melodien und Patterns, die dann in andere Metren und Tonalitäten audiiert[9] werden.

Diese erste Stufe des Lernens dient der MLT als Grundstein für das schlussfolgernde Lernen. Der stufenweise Aufbau ist sehr charakteristisch für Gordons Konzept. Während im unterscheidenden Lernen sowohl Weg als auch Inhalte des Lernens vermittelt werden, wird in der zweiten Stufe lediglich noch der Weg vermittelt. Der Lerner*in soll nun selbst die Inhalte aus den zuvor gewonnenen Erkenntnissen bilden. Ziel soll es sein, ihn zu „eigenständigen Denk- und Entscheidungsprozessen“[10] zu führen.[11]

Es wird deutlich, dass Gordon sich der lernpsychologischen Definition des Beobachtungslernen bewusst gewesen sein muss. Sein Konzept des Nachahmens zielt dabei explizit auf „echte“ Imitation ab. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und schließt unbedingt auch das Verstehen ein. Christoph Azzara folgert gar hieraus:

„It is important to distinguish between audiation and imitation. To audiate is to think for oneself; imitation is quickly forgotten. […] To audiate is to understand, and the greater one’s understanding, the greater is the potential to appreciate music. We learn to audiate so that we can audiate to learn.”[12]

Die Idee der Audiation & anderen Methoden

Audiation ist eben nicht nur das bloße Nachspielen von Licks und Transkriptionen. Es ist der bewusste Vorgang des Verstehens dessen, was man gerade spielt. Wenn man so möchte ein aktives Mitverfolgen und Reflektieren während des Spielens. Ähnlich wie wir früher aus unseren ersten Wörtern erste Sätze gebildet haben, folgen aus den einzelnen Patterns der Music Learning Theory irgendwann ganze Soli.

Der starke Fokus auf Gehörbildung ist sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal der Audiation. Aber besonders im Bereich der Jazz-Improvisation scheint sie jedoch äußerst sinnvoll zu sein. Nicht nur namhafte Musiker wie der Trompeter Dave Douglas betonen ihre Wichtigkeit.[13]

Auch die Harmonielehre von Frank Sikora widmet dem Thema über einhundert Seiten – immerhin knapp ein Fünftel des gesamten Buchinhaltes. Was bei Sikora als Jazz-typischer Common Sense tradiert wird, versucht die Audiation durch wissenschaftliche Forschung zu bestätigen. Wenngleich also die MLT sich nicht originär an Jazz-Studenten richtet, so decken sich ihre Techniken doch erstaunlich genau mit den Konzepten der Hochschule. Die Übereinstimmung des folgenden Zitats aus Sikoras Harmonielehre über eine fast gehörlose Perkussionistin, mit der Idee der Audiation verblüfft daher wenig: „Als Musikerin kann ich den Ton, den ich kreiere, wirklich hören, weil ich ihn zuerst imaginiere.“[14]


[1] Gordon, Edwin (u.a.): Jump right in – the instrumental series. Teacher’s Guide Revised strings book 1 and 2, Chicago, o.J.,S. 12.

[2] Süberkrüb, Almuth: „Üben“ in der musikalischen Lerntheorie von Edwin E. Gordon, in: Mahlert, Handbuch Üben, S. 242 – 264, hier: S. 242.

[3] Gordon, Jump right in, S. 12.

[4] vgl.: Gordon, Jump right in, S.12f..

[5] vgl.: Süberkrüb, Almuth: Denken in Musik. Audiation – Edwin E. Gordons Music Learning Theory, in: MIP Journal 8 (2003), S. 6-13, hier: S. S. 7.

[6] LaMotte, Sandee: Jazz Improv and your Brain. The Key to Creativity <https://edition.cnn.com/2018/04/29/health/brain-on-jazz-improvisation-improv/index.html> (25.04.2020).

[7] vgl.: Azzara, Christoph: An aural Approach to Improvisation, in: Music Educators Journal 86 (1999), S. 21-25, hier: S. 22.

[8] vgl.: Azzara, Christoph: Audiation, Improvisation, and Music Learning Theory, in: The Quarterly 2 (1991), S. 106-109, hier: S. 107.

[9] Das Verb „audiieren“ wurde nach Rücksprache mit der Duden-Redaktion eingeführt um den Vorgang der Audiation zu beschreiben. In früheren wurde „to audiate“ oftmals mit „auditieren“ übersetzt, welches oftmals mit Scientology („Auditing“) assoziiert wird. (vgl.: Süberkrüb, Üben, S. 243.)

[10] Süberkrüb, Üben, S. 246.

[11] vgl.: Ebd., S. 245f..

[12] Azzara, Audiation, S. 106.

[13] vgl.: Schroeder, David: Four Approaches to Jazz Improvisation Instruction, in: Philosophy of Music Education Review 10 (2002), S. 36-40, hier: S. 38.

[14] vgl.: Sikora, Frank: Neue Jazz-Harmonielehre, 6. Auflage, Mainz 2003, S. 379.

Wer schreibt hier eigentlich..?

Patrick Hinsberger auf Treppe mit Trompete
Musiker | Podcast-Host | Blogger | + posts

Patrick Hinsberger studierte Jazz Trompete bei Matthieu Michel und Bert Joris und schloss sein Studium im Sommer 2020 an der Hochschule der Künste in Bern (Schweiz) ab.
Seit seiner Bachelor-Arbeit beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema musikalisches Üben und hostet seit 2021 den Interview-Podcast "Wie übt eigentlich..?"

2 Comment on this post

    1. Lieber Wolf,
      das freut mich sehr! Vielen Dank 🙂
      Im Podcast „Wie übt eigentlich..“ reden wir in der Folge mit Prof. Altenmüller ebenfalls über dieses Thema.
      Herzliche Grüße
      patrick hinsberger

Was denkst du davon?

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert