Songwriting lernen heißt, Geschichten in Musik zu verwandeln. Doch wie findet man Inspiration, wie geht man mit Schreibblockaden um – und was bedeutet „Üben“ eigentlich im kreativen Prozess? Im Interview mit Singer-Songwriterin VINTER sprechen wir über ihre Methoden, mit denen sie Texte entwickelt, Melodien formt und aus Literatur Songs entstehen lässt.
Dabei geht es um zentrale Fragen, die sich viele Musiker*innen stellen:
- Woher kommt die Inspiration für Songtexte?
- Wie helfen Langeweile und Tagträumen, um kreativ zu werden?
- Welche Tools und Übungen fördern den Schreibfluss beim Songwriting?
- Wie kann man exploratives Lernen im Songwriting bewusst einsetzen?
VINTERs Erfahrungen zeigen: Songwriting ist gleichermaßen Handwerk und Magie. Zwischen Struktur und Spontaneität, zwischen Arbeit und Flow. Dieses Gespräch liefert nicht nur Einblicke in den Alltag einer Musikerin, sondern auch praktische Tipps für alle, die ihre eigenen Songs schreiben wollen – egal ob Anfänger*in oder fortgeschritten.


Das Interview mit VINTER
Die erste Frage, mit der es immer losgeht, lautet: Vervollständige folgenden Satz: Üben heißt für dich?
Arbeit.
Nur Arbeit?
Ich verbinde mit dem Wort Üben schon eher Arbeit, ja. Es geht da für mich über den Begriff hinaus. Also, Üben ist nicht immer Arbeit, aber wenn ich sage „ich übe jetzt“, dann ist es für mich schon Arbeit.
Und ist das positiv oder negativ besetzt?
Teils, teils. Es kann schöne Arbeit sein, wenn man weiß, woraufhin man arbeitet oder ein Ziel vor Augen hat und Fortschritte merkt. Dann kann das Spaß machen. Aber es ist schon auch mit Anstrengung verbunden. Ich muss mich oft aufraffen, zu sagen: Okay, ich übe jetzt.
Der berühmte innere Schweinehund.
Genau, ja. Auf jeden Fall.
Musikalische Einflüsse und Lieblingsalben
Gibt es eine aktuelle Musik, Künstler*in oder ein Album, das bei dir in Dauerschleife läuft?
Ja, tatsächlich viel. Billy Martin hat ein neues Album rausgebracht, das finde ich super schön. Und ich habe dieses Jahr überraschend viel das neue Album von Miley Cyrus gehört. Ich war nie ein großer Fan, aber das neue Album finde ich richtig cool.
Und wenn du auf deine eigene musikalische Karriere schaust – gibt es ein Album oder eine Künstlerin, die dich stark geprägt hat?
Auf jeden Fall Tina Dico. Eine dänische Singer-Songwriterin, die habe ich als Teenager entdeckt. Sie spielt Gitarre, singt, legt den Fokus stark auf Texte und Songwriting. Das hat mich total überzeugt. Da ich mir Gitarre selbst beigebracht habe, habe ich durch ihre Songs unglaublich viel gelernt. Ohne sie hätte ich das Gitarrenpicking wahrscheinlich nie so intensiv entdeckt.
Das finde ich spannend. Vielleicht können wir später noch darauf eingehen, wie man beim Nachspielen von Vorbildern vorgeht.


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Entweder-Oder-Fragen
Für alle, die dich noch nicht so gut kennen, habe ich ein paar Entweder-oder-Fragen. Du hast einen Joker, ansonsten bin ich gespannt, wie du antwortest.
Sommer oder Winter?
Sommer. Der Name VINTER hat nichts mit der Jahreszeit zu tun. Sommer und Winter sind eigentlich meine unbeliebtesten Jahreszeiten, aber wenn ich mich entscheiden muss, dann Sommer.
Nachteule oder Frühaufsteher?
Nachteule. Leider.
Kommen da die besten Songtextideen?
Tatsächlich nicht. Nachts ist eher meine Zeit für mich. Ich bin produktiver am Nachmittag bis frühen Abend, wenn es ruhiger wird.
Soloauftritt oder mit Band Konzerte spielen?
Mit Band.
Moll oder Dur?
Moll.
Alt oder neu?
Alt.
Paris oder Berlin?
Paris – klingt für mich nach Urlaub.
Die Frage ist nicht ohne Grund: Die Videos zu „Prolog“ und „Epilog“ sind in Paris gedreht, oder? Und in „In The Midday Sun“ sprichst du am Ende auf Französisch. Hat das eine Bedeutung?
Ja, der Satz ist ein Zitat aus „Der kleine Prinz“. Wir wollten am Ende etwas Gesprochenes, und Französisch klang schöner als Deutsch oder Englisch. Da das Album auch Literaturbezug hat, hat es perfekt gepasst.
Kannst du den Satz nochmal sagen?
„Quand on est tellement triste, on aime les couches du solei.“
Sehr schön, das passt wunderbar.Langeweile oder Trubel?
Langeweile.
Unterrichten oder Konzerte spielen?
Konzerte spielen.
Text oder Melodie?
Text. Früher war mir das egal, heute hat es einen viel größeren Stellenwert für mich.
Erste Songwriting-Erfahrungen
Kannst du dich noch an den allerersten Song erinnern, den du geschrieben hast?
Ja, er hieß „In This World“. Ich war zwölf oder dreizehn. Es ging darum, wie ungerecht die Welt ist – ein typischer Weltschmerz-Song.
Und würdest du sagen, dass deine Herangehensweise ans Songwriting heute noch vergleichbar ist?
Ich glaube schon, dass ich das Intuitive noch habe. Theorie war nie mein Ding, ich wollte immer nach Gehör arbeiten. Beim Songwriting versuche ich, mich nicht zu verkopfen, sondern zu schauen, was sich richtig anfühlt.
Inspiration durch Literatur
Du hast vorhin schon angesprochen, dass dein aktuelles Album einen Literaturbezug hat. Wo findest du Inspiration für deine Songs?
Dieses Mal tatsächlich in Büchern. Mein erstes Album war sehr persönlich. Jetzt fand ich es spannend, aus der Sicht von Charakteren zu schreiben, die mich inspiriert haben. Das hat viel Kreativität ausgelöst.
Und wie gehst du dabei vor? Notierst du Zitate oder führst du ein Inspirationsbuch?
Ja, so ähnlich. Ich schreibe mir Ideen auf – Melodie- oder Akkord-Schnipsel, Zitate, Charaktere. Dann greife ich sie später wieder auf. So entsteht ein Song oft aus kleinen Fragmenten, die ich weiterentwickle.
Notizen als Inspirationsquelle
Also, wie sammelst du deine Ideen für Texte?
Ich hab auf jeden Fall auf dem Handy in der Notizen-App Seiten, wo ich Worte aufschreibe, die ich schön finde. Wenn mir Verse oder Sätze einfallen, die ich cool finde, schreibe ich die auf. So habe ich einen Pool an Sachen, aus dem ich etwas rauspicken kann. Die Bücher habe ich einfach gelesen und die Inspiration kam automatisch. Viele behandeln ähnliche Themen, vieles wiederholt sich. Es gibt nicht bei allen Songs eine direkte Verbindung zu einem Buch oder Charakter. Aber beim Lesen habe ich Themen gefunden, die mich interessiert haben, und dann darüber Songs geschrieben. Da geht’s viel um die Texte, musikalisch ist es nochmal eine andere Sache.
1985 – inspiriert von George Orwell
Kannst du ein Beispiel geben von einem Song, auf welchem Buch der beruht?
Ja, „1985“ beruht tatsächlich auf 1984 von George Orwell, ein Klassiker, den viele in der Schule lesen mussten. Ich tatsächlich nicht. Später habe ich gesagt: Das muss ich jetzt lesen. Ich mag dystopische Geschichten sehr gerne. Ich hatte gedacht, es wird langweilig, so eine typische Schullektüre. Aber ich war richtig begeistert, fand die Welt total spannend: dauerhaft kontrolliert, unfrei leben, keine freien Entscheidungen. Ich habe dann einen Song geschrieben über eine Liebesgeschichte in dieser Welt – aber ein Jahr später, deswegen „1985“. Ich glaube, das ist der Song, bei dem man die Inspiration aus etwas Dystopischem am stärksten hört.
Persönliches vs. Abstraktes Songwriting
Wenn du sagst, dass deine früheren Songs eher persönliche Geschichten waren und es jetzt abstrakter ist: Wie viel Nicola steckt aktuell in VINTER drin?
Oh, große Frage. Natürlich total viel. Auch in erfundenen Geschichten gebe ich mit jeder Zeile Preis, wie ich denke und wie ich die Welt sehe. Alles, was ich schreibe, verrät viel über meine Ansichten und mein Verständnis. Da steckt ganz viel von mir drin. Aber es sind nicht mehr nur Songs, die zu 100 % auf eigenen Erfahrungen basieren. Irgendwann ist das eigene Leben auch ein Stück weit ausgeschöpft, wenn man nicht gerade ein wildes Leben führt. Viele schreiben über Dinge aus ihrem Umfeld, Geschichten von Freunden oder Beobachtungen. Oder eben über Erfahrungen aus Büchern. Für mich ging es bei diesem Album darum: Was löst etwas in mir aus?
Unterschiede im Schreibprozess
Gibt es Unterschiede, ob du persönliche Songs schreibst oder von Geschichten inspiriert wirst? Fällt dir eines leichter?
Es ist anders, aber nicht unbedingt leichter oder schwieriger. Persönliche Songs müssen oft einfach raus. Man erlebt etwas und nutzt Songwriting wie ein Ventil. Danach geht es einem oft besser. Songs, die auf Geschichten basieren, entstehen anders. Da nehme ich mir die Zeit, eine Welt auszudenken. Das ist fast wie Tagträumen, was ich sehr gerne mache: sich vorstellen, wie das Leben verlaufen wäre, wenn man anders entschieden hätte. Oder wie es wäre, in einer anderen Situation zu sein. Das macht Spaß. Persönliche Songs sind dagegen nicht immer spaßig, weil sie oft mit belastenden Erfahrungen verbunden sind. Aber auch das wirkt heilsam – fast wie Selbsttherapie. Tagträumen wiederum kann auch gesund sein, weil es Empathie fördert.
Literarischer Charakter des Albums
Ich fand interessant, dass das Album fast wie ein Buch aufgebaut ist. Es gibt einen Prolog, einen Epilog und in der Mitte Songs, die eine andere Rolle haben. Es wirkt sehr literarisch. War es von Anfang an so geplant? Wolltest du bewusst ein Album über Bücher machen, die dich inspirieren?
Ja, das war der Gedanke. Ich wollte ein Album schreiben, das Bücher als Inspirationsquelle nutzt. Mich hat dieses Thema schon länger beschäftigt, und ich fand es spannend, daraus Songs zu entwickeln.
Der Aufbau mit Prolog und Epilog gibt dem Ganzen eine literarische Rahmung. Das hat mir gefallen, weil es die Verbindung zu Büchern noch deutlicher macht.
Es kam dann mit den ersten Songs. Also, es war nicht so, dass ich von Anfang an geplant habe: Ich mache jetzt ein Album und schreibe den ersten Song dafür. Ich habe einfach Songs geschrieben und gemerkt, da steckt viel Inspiration aus Büchern drin. Das kam automatisch, weil ich viel gelesen habe.
Als Kind habe ich super viel gelesen, das habe ich Anfang 20 ein wenig verloren. Irgendwie gab es immer anderes zu tun, ich habe plötzlich kaum noch gelesen. Vor ein paar Jahren habe ich mir dann als Vorsatz genommen, wieder mehr zu lesen – ungefähr ein Buch pro Monat. In dem Jahr habe ich so viel gelesen, dass ich dieses Hobby richtig wiederentdeckt habe.
Dadurch kamen die Songs, inspiriert von Geschichten, die ich gelesen habe. Dann entstand die Idee, daraus ein Konzept zu machen. Ich liebe Konzepte und kreative Leitfäden. Es gibt einem ein Ziel vor Augen und man kann überlegen: Hält das alles zusammen? Deswegen finde ich Alben so toll – sie sind ein eigener Kosmos. Mit Singles wäre das gar nicht möglich, alles so zu verbinden. Deshalb habe ich das Album aufgebaut wie ein Buch, mit Prolog und Epilog. Jemand sagte mal in einem Interview: Es sind wie kleine Kurzgeschichten. Das hat mir gefallen, weil die Songs zwar für sich stehen können, aber man auch denken kann, dass alle Erfahrungen von einer Person stammen, die dieses Album erlebt hat.
Wann ist ein Song fertig?
Woran merkst du, dass ein Song fertig ist? Wenn du im Prozess bist und merkst, da gibt es Inspiration aus Büchern – wann ist der Punkt erreicht, dass ein Song zu Ende erzählt ist?
Das ist tatsächlich schwierig. Ich schreibe Songs meistens zuerst alleine, manchmal auch mit meinem Produzenten. Zuerst entsteht ein Song auf Akustikgitarre oder Klavier mit Gesang. Dann schreibe ich den Text, und ab da fühlt es sich abgeschlossen an – man könnte den Song so vorspielen.
Aber richtig fertig ist ein Song erst nach der Studioarbeit. Wenn die Produktion in eine Richtung geht, die sich richtig anfühlt, und es so klingt, wie man es sich vorgestellt hat. Spätestens wenn ich das Bedürfnis habe, jemand anderem die fertige Produktion zu zeigen, weiß ich: Jetzt ist der Song fertig.
Live-Versionen: nah am Album oder ganz neu?
Und wie ist das dann live? Ist das nochmal ein neuer Prozess?
Ja, schon. Mit voller Band ist es leichter, weil man näher an die produzierte Album-Version rankommt. Aber manchmal wollen wir Songs live anders arrangieren. Schwieriger ist es bei Solo-Auftritten: Songs, die ursprünglich auf Gitarre entstanden sind, funktionieren super akustisch. Aber wenn die Produktion später ganz anders geworden ist und ich diese Version viel stärker finde, fällt es mir schwer, sie wieder auf die ursprüngliche Form runterzubrechen. Dann spiele ich solo eher Songs, die akustisch besser funktionieren, und mit Band orientiere ich mich stärker am Album.
Songwriting als Handwerk
Ich finde spannend, dass Songwriting am Ende auch wie ein Handwerk wirkt. Wenn Songs sehr persönlich sind, hat man vielleicht ein Gefühl, aber die Worte fehlen. Oder man steckt in einer Geschichte, weiß aber nicht, wie man sie sprachlich fassen kann. Wie gehst du mit solchen Situationen um, wenn du merkst: Da ist etwas, aber die Worte fehlen?
Ich bin recht geduldig. Für mich ist Songwriting wie ein Muskel. Nach dem Release des Albums war ich lange nicht kreativ, weil andere Themen wichtig waren – Live-Shows, Interviews. Wenn ich dann wieder Songs schreiben möchte, brauche ich ein paar Tage, um in den Modus zu kommen. Kreativ sein funktioniert bei mir nicht mit vollem Terminkalender. Es braucht Ruhe und manchmal auch Langeweile.
Kannst du Langeweile gut aushalten?
Schwierig, weil immer viel los ist. Aber es hilft enorm. Im Urlaub merke ich das oft: Erst wird mir langweilig, dann habe ich Lust, kreativ zu werden. So habe ich auch mit 12 oder 13 angefangen – mir war langweilig, also habe ich einen Song geschrieben.
Viele machen Songwriting-Trips. Am ersten Tag ist der Druck groß, man schreibt viel und findet es am nächsten Tag schrecklich. Aber wenn man den Stress loslässt, kommt man in den kreativen Modus. Dann bewerte ich weniger, schreibe einfach und nehme alles auf – am Klavier, beim Singen. Am nächsten Tag höre ich es mir an. Wenn es mich dann noch catcht, arbeite ich weiter. Wenn nicht, lege ich es weg.
So sammle ich viele Aufnahmen mit fertigen Melodien und Harmonien auf dem Handy. Dann entscheide ich: Welche Idee greife ich für einen Text auf? Manchmal entstehen schon beim Aufnehmen Kauderwelsch-Texte mit Brocken, die thematisch spannend sind. Das Unterbewusstsein macht da seinen Job.
Texte zwischen Leichtigkeit und Blockade
Und wenn das nicht passiert? Wenn dir die Worte fehlen – wie kommst du weiter?
Dann überlege ich: Welches Gefühl löst die Melodie aus? Woran erinnert sie mich? Manchmal greife ich ein Thema auf, das mich beschäftigt. Manche Texte fließen leicht, andere sind super schwierig. Ich habe auch schon Songs im Produktionsprozess verworfen, weil die Texte nicht gut genug waren und ich es nicht geschafft habe, sie zu überarbeiten. Manchmal muss man einen Song einfach zur Seite legen und sagen: Das ist nicht der Richtige.
„Das ist für mich die schönste Art zu lernen. Darum bedeutet der Begriff „üben“ für mich eher Arbeit. Wenn mich etwas catcht, will ich es können – und probiere es aus. Natürlich ist das auch Üben.“
VINTER
Kreativität anwerfen – was hilft dir?
Ich habe mehrere Nachfragen jetzt. [Lachen] Ich will einen Schritt nochmal zurückspringen: Du hast vorher gesagt, dass du ein paar Tage brauchst, um wieder kreativ zu werden. Abseits von Langeweile – gibt es etwas, was dir auf jeden Fall hilft? Wenn ich mir sage, ich muss jetzt kreativ werden, baut sich Druck auf. Was hilft dir, wenn du weißt: In den nächsten 14 Tagen steht wenig an, ich könnte Langeweile bekommen. Was hilft dir, um kreativ zu sein? Hast du da etwas?
Für mich sind es Freunde treffen, Dinge unternehmen, Erlebnisse sammeln. Gespräche inspirieren mich zu Texten und Ideen. Außerdem höre ich viel Musik, schaue Live-Sessions auf YouTube, Interviews mit Künstler*innen, sehe Filme, lese Bücher – alles, was den kreativen Muskel aktiviert. Schon am Anfang hat mich ein gespielter oder gesungener Song so inspiriert, dass ich dachte: So möchte ich auch singen oder schreiben können. Dann probiere ich das. Manchmal sehe ich etwas und denke: So habe ich noch nie gesungen – das teste ich. Oder: Diese Stimmung in einem Song finde ich cool – in die Richtung schreibe ich jetzt. Am besten funktioniert es für mich, viel Kunst zu konsumieren. In Kombination mit Freundschaften, Community, einem schönen Alltag – dann gehe ich nach Hause, habe Zeit für mich und Lust, kreativ zu werden.
Exploratives Lernen statt „Üben“
Das erinnert an die Tina-Dico-Gitarrenspielart, die dich früher inspiriert hat: dieses Explorative, Spielerische – ohne Druck, dass etwas entstehen muss. Hast du dir das bewusst als kreatives Werkzeug erhalten?
Ja, auf jeden Fall. Das ist für mich die schönste Art zu lernen. Darum bedeutet der Begriff „üben“ für mich eher Arbeit. Wenn mich etwas catcht, will ich es können – und probiere es aus. Natürlich ist das auch Üben. Ich sage im Unterricht: Alles, was ihr singt, ist Üben – auch wenn ihr nur mitsingt. Das trainiert Muskel, Gehirn und Gehör. Es gibt Übungen, die man macht, weil man z. B. auf der Gitarre die Finger trainieren muss – das ist für mich Arbeit. Aber etwas, das mich inspiriert und das ich lernen möchte, hat sich nie nach Üben angefühlt. Das hat etwas Kindliches – und das finde ich gut, es mir als Künstlerin zu bewahren.
Ja, auf jeden Fall.
Ich habe es heute deutlich weniger als früher, weil die Zeit fehlt, einfach YouTube zu durchstöbern. Als Teenie habe ich unendlich viele Sessions geschaut – Studiosessions, Outdoor-Walking-Sessions meiner Lieblingsartists – und ständig neue Songs entdeckt. Heute muss ich mir diese Zeit bewusst nehmen.
Ist Songwriting ein Handwerk?
Würdest du die These unterschreiben, dass Songwriting ein Handwerk ist?
Auf jeden Fall.
Und: Musst du das jeden Tag üben?
Nicht jeden Tag. Wenn ich wieder neue Songs schreiben möchte, brauche ich Zeit, um reinzukommen. Pausen tun mir gut. Wenn ich täglich schreibe, drehe ich mich irgendwann im Kreis. Ich brauche Ruhephasen, in denen ich neue Musik konsumiere.
Mein Songwriting hat Phasen: Manchmal habe ich ein Fable für eine bestimmte Akkordfolge; auf dem jetzigen Album habe ich viel leise zu Hause geschrieben, bin oft hoch gegangen – falsettige Klangfarben haben mich inspiriert. Pausen ermöglichen neue Phasen und neue Einflüsse, sodass die Songs anders klingen. Das ist spannender, als täglich um mich selbst zu kreisen. Ich muss den Blick weg von mir richten, um wieder zu mir zu kommen und Neues zu schaffen – nicht immer denselben Song zu schreiben.
„Ich muss den Blick weg von mir richten, um wieder zu mir zu kommen und Neues zu schaffen.“
VINTER
Schöner Gedanke: von sich weg- und über den Blick von außen wieder zu sich finden. Wenn du von Pausen sprichst – meint das, dass andere Projekte in der Zeit Vorrang haben? Du unterrichtest, warst Vocal Coach für das Musical „Qudam 59“. Pause heißt also nur: kein aktives Songwriting. Es ist keine Langeweile, konkret.
Nee, genau – es ist keine Pause im Sinne von Nichtstun. Genauso habe ich Pausen, in denen ich nicht täglich Gesang übe. Ehrlich gesagt bin ich beim Gesang etwas faul. In Phasen ohne Gigs übe ich nicht jeden Tag, weil kein Ziel ansteht. Ich singe im Alltag viel – auch beim Unterrichten, man muss viel vormachen – und summe vor mich hin. Aber ich übe nicht immer aktiv. Das fühlt sich wie eine Pause an.
Das heißt, einen typischen Übealltag hast du nicht als feste Routine?
Nein, tatsächlich nicht. Ich habe oft überlegt, es einzuführen und mich gefragt, wohin meine Stimme käme, würde ich täglich üben. Aber ich rafffe mich nicht auf. Fürs Release-Konzert habe ich drei Monate vorher regelmäßig geübt und einen Monat vorher jeden Tag intensiv an den Songs gearbeitet. Danach merke ich, wie anstrengend das war, und brauche eine Pause. Es hat sich nie als feste Routine etabliert.
Üben früher und heute
Gab es Phasen, in denen du bewusst mehr geübt hast – abseits von Studium und -vorbereitung? Ist dein Üben seit Studienende eher weniger geworden?
Nein. Im Studium habe ich vermutlich weniger geübt. Klar habe ich Songs geübt, weil im Unterricht neues Repertoire kam. Meine Gesangslehrerin legte den Fokus stark auf Repertoire und Songwriting – sie wollte mich als Künstlerin formen, nicht jede Technik, damit ich alles singen kann. Beim Gesang stellt sich die Frage: Will man alles können – oder lieber ein eigenes Profil haben und die eigene Richtung sehr gut können? Es gibt Dinge, die ich nie brauchte. Setze ich mich hin, kann ich sie lernen, aber wenn man Dinge nie anwendet, verlernt man sie schnell. Mein Gesangskönnen basiert auf Musik, die ich viel gehört habe, mitgesungen oder gecovert habe – und auf Jobs. In Coverbands war das Programm teils außerhalb meiner Range; dann musste ich üben. Mit einem Monat intensiven Übens komme ich hin, erweitere die Range. Singe ich danach nur meine eigenen Songs mit anderem Ansatz, verlerne ich das wieder.
Wenn Üben und Songwriting keinen Spaß machen
Ich habe eine Frage eines anderen Gasts (Antonia Schreiber) mitgebracht – ohne zu wissen, wer sie bekommt. Es geht ums Üben, ergänzt aufs Songwriting: Gab es Zeiten, in denen dir Üben und Songwriting weniger Spaß gemacht haben? Falls ja: Wie hast du den Spaß wiedergefunden? Wenn ich dir so zuhöre, wirkst du sehr gesund im Umgang – nicht übertrieben.
Es gab Phasen, in denen es mir keinen Spaß gemacht hat. Vor allem als Teenie, in der Schulzeit, habe ich mir viel Druck gemacht. Musik war mein großes Hobby – aber eben noch Hobby. Das hat Druck ausgelöst: Es muss mir doch immer Spaß machen, ich muss mehr schreiben. Ich habe sehr wenige Songs geschrieben – ein neuer Song war etwas Besonderes, und vielleicht blieb es dann ein halbes Jahr oder ein Jahr bei diesem einen. Ich hatte ein kleines Programm an eigenen Songs und dachte: Als Songwriterin muss man schneller schreiben. Dieser Druck hat Spaß genommen. Das zog sich etwas ins Studium.
Irgendwann habe ich das Handwerk besser verstanden und mehr Tools bekommen: Wenn ich beschließe, heute einen Song zu schreiben, kriege ich das hin. Es ist nicht immer der beste oder mein Lieblingssong, gerade wenn ich mich zwinge – aber es geht. Früher brauchte ich Inspiration: Etwas belastet mich, etwas fühlt sich stark an – das muss in einen Song. Hatte ich dieses Bedürfnis nicht, entstand Druck. Heute bin ich entspannter. In jüngster Zeit hatte ich das nicht mehr so intensiv. Ich freue mich auf Phasen, in denen ich fürs Release-Konzert übe. Darauf freue ich mich total. Es macht Spaß, zu sehen, wie gut ich bis zum Gig werden kann. Üben schafft Struktur: Ich plane zwei, drei Stunden, mache erst das, dann Pause, Stimme entspannen – bei Stimme muss man aufpassen. Das macht mir heute Spaß.
Druck rausnehmen: Schlechte Tage sind erlaubt
Hast du dann mit diesen Tools auch überwunden, an einem Tag einen Song fertigzustellen?
Ja, ich glaube, ich nehme mich da vielleicht weniger wichtig, in Anführungsstrichen. Es ist dann im schlimmsten Fall einfach ein schlechter Song. Dann hatte man einen schlechten Tag oder hat sich verlaufen. Aber beim Songwriting greift es nicht mehr mein Selbstwertgefühl an. Es nervt vielleicht: Warum ist der Song schon wieder einer, der mir nicht gefällt? Doof. Aber ich denke nicht: Du bist eine schlechte Songwriterin.
Es gibt eher Fälle, in denen ich auf einen Song zurückblicke und denke: Wow, wie habe ich das gemacht? Songwriting ist auch Magie. Man weiß nicht immer, wie etwas entstanden ist: Wo kam diese Melodie her, diese Akkordfolge, untypisch für mich? Bei solchen Songs bin ich danach manchmal stutzig: Wie habe ich das hinbekommen – schaffe ich das nochmal? Dass ich Songs schreiben kann, auf jeden Fall. Aber es gibt vereinzelte, die für mich herausstechen, die ich besonders mag, die besonders gut gelungen sind. Manchmal ist da die Angst: Kriege ich das nochmal hin?
Macht dir das Angst?
Das habe ich nicht jeden Tag, aber die Gedanken tauchen auf. Meistens klappt es im Prozess, dass ich wieder einen Song schreibe, von dem ich genauso überzeugt bin. Dann bin ich wieder beruhigt – für eine Zeit.
Schreib-Workout: Mindmap mit Ort und Thema
Vinters Songwriting Übung
Ich wäre neugierig auf eine Songwriting-Übung. Hast du eine, die du verraten kannst?
Auf jeden Fall. Ich glaube, die kommt aus einem Buch; ich habe sie von jemandem bekommen. Fürs Texten ist sie sehr cool: Ich überlege mir zwei Begriffe (ich schreibe auf Englisch) – meistens einen Ort und ein Thema – und mache richtig schulmäßig eine Mindmap. Ich umkreise die Begriffe und schreibe fünf bis zehn Minuten (Timer stellen) alle Begriffe auf, die mir dazu einfallen. Danach streiche ich, was mir nicht gefällt – zu kitschig oder nicht schön – und schreibe mir Begriffe raus, die ich gut finde.
So habe ich einige Texte geschrieben: ein Pool von Worten, die einem Thema und einem Ort zugeordnet sind. Man hat automatisch eine Welt, einen Rahmen: Wo findet es statt? Worum geht es? Daraus kann man super eine Geschichte entwickeln.
Okay, wir nehmen Paris. Es ist Hochsommer, 32 Grad. Wir nehmen Eis.
Eis wäre für mich ein Unterpunkt von Paris – also etwas Örtliches. Thema wäre Liebeskummer.
Okay.
Eher ein Gefühlsthema oder etwas, das in der Szenerie passiert – nicht nur ein Wort, sondern eine Handlung, die man damit verbinden kann. Politische Themen gehen auch: Umweltverschmutzung, wenn man aktivistischer schreibt. Wichtig ist, zwei Begriffe zu haben, die wenig miteinander zu tun haben, die zusammen ein neues Bild erzeugen.
Ich kann mir gut vorstellen, dass man den Muskel trainiert, kreativ mit Sprache umzugehen – eine Challenge: Paris und Umweltschutz. Man füllt die Mindmap und baut daraus Sätze, die Sinn machen und im besten Fall eine Story transportieren.
Genau. Es ist zunächst dazu da, kreativ zu werden. Am Ende kann man sagen: Der Text ist nicht großartig, aber zwei, drei Zeilen sind richtig schön. Dann nimmt man die und vergisst den Rest – und baut darauf etwas Neues. Das hilft mir sehr, wenn ich noch keinen Ansatz für ein Thema habe oder der Funke fehlt, der automatisch zu vielen Zeilen führt.
Das finde ich spannend. Vielen Dank fürs Teilen.
Gerne.
Lernen, Loslassen, Vertrauen
Wir könnten stundenlang über Songwriting reden. Mit Blick auf die Uhr habe ich zwei Abschlussfragen, die ich allen Gästen stelle. Was lernst oder übst du gerade, was du noch nicht so gut kannst? Das muss nicht musikalisch sein.
Gute Frage. Beim Gesang bin ich noch nicht im Lernprozess, eher im „Ich will anfangen“. Ich habe lange im Kopf, mir dafür Zeit zu nehmen: Vocal Runs – à la Mariah Carey, dieses schnelle Verzierungen. Das ist das Gegenteil meiner Stimmengebung. Ich habe diese Richtung nie gehört, bei mir war es Indie, eher straight, Fokus auf Stimmsound und eigen klingende Stimmen, weniger darauf, die Stimme wie ein Instrument in allen Lagen zu führen und eine riesige Range zu haben. Das würde ich gerne intensiver angehen. Das lernt man nicht über Nacht, es ist ein großes Thema.
Was ich gerade lerne: Kontrolle abzugeben und geschehen zu lassen. Ich habe gerne Kontrolle, Struktur, Ordnung. Ich übe, darauf zu vertrauen, dass Dinge klappen, sich fügen, sich Türen öffnen, wenn man geduldig ist und nicht alles sofort kontrolliert.
Wenn du auf dein jüngeres Ich schaust – Erstsemester Musikstudium oder die Zeit, in der du dir zu viel Druck gemacht hast: Welcher Tipp hätte dir damals geholfen?
Mehr auf mich selbst hören, auf mein Bauchgefühl. Im Studium gibt es viele Meinungen. Ich hatte großes Glück mit meiner Gesangslehrerin: Sie ließ mich ich sein, half, ohne mich zu verändern. In anderen Fächern fühlte ich mich in Schubladen gesteckt. Dozierende wollten mehr Modulationen in meinen Songs, Modal Interchange. Ich habe krampfhaft versucht, Songs mit Modal Interchange zu schreiben – es war nicht ich. Ich weiß noch den Moment, als ich sagte: Es ist mir egal, ich kann das nicht mehr. Ich habe einfach gespielt – nach langer Zeit entstand ein Song, den ich richtig schön fand. Super simpel, wahrscheinlich vier Akkorde, kein Modal Interchange – und er gefiel mir.
Da habe ich gemerkt: Es ist Geschmacksfrage. Nicht jeder will Songs mit Modal Interchange hören. Wenn es aus mir heraus passiert, ist es okay. Aber ich muss es nicht krampfhaft einbauen, weil es jemand sagt. Das würde ich meinem jüngeren Ich raten: mehr auf mich hören und darauf vertrauen, dass das, was ich mache, okay ist.
Das finde ich super schön. Nicola, herzlichen Dank, es hat großen Spaß gemacht.
Vielen Dank dir, es hat wirklich sehr viel Spaß gemacht. Interessante Fragen, interessantes Thema. Danke schön.**
Wer schreibt hier eigentlich..?
Patrick Hinsberger studierte Jazz Trompete bei Matthieu Michel und Bert Joris und schloss sein Studium im Sommer 2020 an der Hochschule der Künste in Bern (Schweiz) ab.
Seit seiner Bachelor-Arbeit beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema musikalisches Üben und hostet seit 2021 den Interview-Podcast "Wie übt eigentlich..?"