Wie übt eigentlich | https://what-is-practice.de/tag/wie-uebt-eigentlich/ BLOG Thu, 24 Oct 2024 11:32:41 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.2 https://what-is-practice.de/wp-content/uploads/2020/06/cropped-logo-wip-bunt-32x32.png Wie übt eigentlich | https://what-is-practice.de/tag/wie-uebt-eigentlich/ 32 32 Die Audiation https://what-is-practice.de/audiation/ https://what-is-practice.de/audiation/#respond Sun, 29 Sep 2024 21:04:06 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6636 Hören, Denken & Verstehen in Musik Almuth Süberkrüb ist Professorin für Musikpädagogik und Leiterin des Studiengangs Elementare Musikpädagogik in Hamburg. Dazu ist sie Gründungsmitglied und Vorsitzende der Edwin Gordon Gesellschaft in Deutschland. Edwin Gordon gilt als Begründer der Audiation – ich bin auf seine Music Learning Theory damals im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit gestoßen. Seine Form des… Weiterlesen »Die Audiation

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Hören, Denken & Verstehen in Musik

Almuth Süberkrüb ist Professorin für Musikpädagogik und Leiterin des Studiengangs Elementare Musikpädagogik in Hamburg. Dazu ist sie Gründungsmitglied und Vorsitzende der Edwin Gordon Gesellschaft in Deutschland.

Almuth Süberkrüb vor der HfMT in Hamburg

Edwin Gordon gilt als Begründer der Audiation – ich bin auf seine Music Learning Theory damals im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit gestoßen. Seine Form des Unterrichtens rückt das Hören und Verstehen von Musik stark ins Zentrum und vergleicht das Musiklernen mit dem Erwerb der Muttersprache. Wie und, ob das funktioniert und was auditationsbasierten Unterricht ausmacht, das habe ich mit Almuth Süberkrüb besprochen. 

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Die Folge mit Almuth Süberkrüb lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview mit Almuth Süberkrüb

Inhaltsverzeichnis

Die erste Frage, mit der es immer losgeht, lautet, vervollständigen Sie folgenden Satz. Üben heißt für Sie?

In Musik zu denken und das, auf das Instrument oder die Stimme, zu übertragen.

Welches Album, Musik oder Künstler, läuft bei Ihnen gerade in Dauerschleife?

Beim Hören ist es für mich wichtig, dass es ganz viele unterschiedliche Dinge sind: verschiedene Stile und auch Epochen. Insofern würde ich mich da jetzt gar nicht festlegen, sondern ich finde es wichtig, dass es eine große Vielfalt gibt.

Sie haben selbst Klavier und Gesang studiert. Gibt es denn für Sie jemanden, der auf ihr eigenes Spiel bezogen, ein Vorbild war?

Das ist total interessant. Für mich hat tatsächlich ein Umbruch stattgefunden, als ich Edwin Gordon kennengelernt habe – obwohl der mit meinen beiden Instrumenten gar nichts zu tun hatte.

Das hing auch damit zusammen, dass ich damals Schulmusik studierte und an einem Punkt war, dass ich dachte: Hat das, was in der Schule Musikunterricht heißt, tatsächlich etwas mit aktivem Musizieren zu tun? Es ging sogar so weit, dass ich überlegt hatte, das Studium zu beenden. Ich wollte nicht nur mit Kindern über Musik sprechen, sondern mit ihnen aktiv Musik machen. Dann habe ich Edwin Gordon kennengelernt. Er hat sehr viel in meinem Denken und Handeln, im musikalischen sowie im pädagogischen, verändert. Es ging plötzlich nicht mehr nur um ein Instrument oder die Stimme, sondern um die Musik überhaupt und darum, dass man durch eine Hörvielfalt ein großes Hörrepertoire entwickeln kann. Also wenn zum Beispiel jemand Tuba bei einem Trompetenlehrer lernt, dann entwickelt er ein bestimmtes Hörrepertoire. Das kann total spannend sein, weil natürlich die Tuba einen anderen Klang hat und auch eine andere Flexibilität benötigt. Und wenn man da eine Vielfalt an verschiedenen Instrumenten hörend wahrnimmt und kennenlernt, kann man auch auf seinem eigenen Instrument mehr von dieser Vielfalt umsetzen.

„Es ist spannend, wie sehr sich das in unsere Denkweise gearbeitet hat. Man hat das Gefühl, dass man immer wieder an den Punkt kommt, Noten zu benötigen. Gerade Menschen, die schon Erfahrung mit Noten haben, empfinden dies auch als einen Sicherheitsaspekt.
Das bedeutet aber gleichzeitig oft, dass das Hören nicht mehr so stark im Vordergrund steht, sondern eher das ‚mechanische Handeln‘.“

Almuth Süberkrüb

Entweder-Oder-Fragen

Um Sie als Person ein bisschen besser kennenzulernen, habe ich mir ein paar Entweder-Oder-Fragen überlegt. Sie haben einen Joker. Wenn Sie bei einer Sache sich nicht für eins entscheiden können, dürfen Sie den Joker ziehen. Schülerin oder Lehrerin?

Schülerin.

Lernen mit oder ohne Noten?

Ohne Noten.

Das ist spannend. Bei Edwin Gordon, ich reiße die Theorie nur ganz kurz an, gibt es die These von“ sound before sight“, die sagt, dass man erst den Klang haben muss, bevor man in das Dekodieren von Noten gehen kann. Das kann aber in der Praxis unter Umständen relativ schwierig sein, wenn man Schülerinnen und Schüler hat, bei denen die Eltern das Notenlernen wünschen. All das hat darüber hinaus auch Einfluss darauf, wie ich Unterricht gestalte: Ich kann nicht mehr eine Instrumentalschule nehmen und Seite 1 aufschlagen. Ich muss mein Unterrichtskonzept komplett neu denken, oder?

Ja, und ich muss auch mein eigenes Lernen mit umdenken. Das kommt ebenfalls noch hinzu. Die meisten haben zuerst mit Noten gelernt. Ein Freund hat diese Vorgehensweise vor längerer Zeit mal in der Schule ausprobiert. Wir haben dann immer telefoniert und er berichtete, wie er gerade seinen Unterricht gestaltete. In jedem Telefonat kam am Ende die Frage auf, ob denn in der nächsten Stunde die Noten eingeführt werden würden. Er wusste nicht mehr, was er noch ohne Noten machen konnte. Wir haben dann immer gemeinsam überlegt, was eigentlich gerade Stand ist und wo die Schüler:innen stehen bzw. was sie brauchen. Und am Ende des Telefonats fanden wir dann immer noch weitere Übungen, die keine Noten benötigten. Es ist spannend, wie sehr sich das in unsere Denkweise gearbeitet hat. Man hat das Gefühl, dass man immer wieder an den Punkt kommt, Noten zu benötigen. Gerade Menschen, die schon Erfahrung mit Noten haben, empfinden dies auch als einen Sicherheitsaspekt. Da weiß man, was man hat. Ich weiß, wenn ich den schwarzen Punkt auf der Linie sehe, dann drücke ich die Taste oder dann muss ich die Seite an der und der Stelle drücken oder Ähnliches.

Das bedeutet aber gleichzeitig oft, dass das Hören nicht mehr so stark im Vordergrund steht, sondern eher das „mechanische Handeln“. Zudem stellt sich die Frage, wann was wichtig ist. Wann ist das Hören hilfreich? Wann ist vielleicht das Nachsingen oder das Nachspielen hilfreich? Und wann ist es auch mal hilfreich und notwendig, ganz bestimmte technische Aspekte entweder in Stücken isoliert zu üben?

Wahrscheinlich auch immer abhängig davon, wo die Schülerin bzw. der Schüler gerade steht und, ob das Bedürfnis da ist mit anderen zusammen zu spielen. Dann wäre es Voraussetzung zumindest Noten verstehen zu können, um mit anderen zusammen musizieren zu können.

Ja, richtig. Das ist die Frage nämlich: wann brauchen wir denn überhaupt Noten? Wie lang kann es gehen ohne? Und es gibt ja große Musiker, die gar keine Noten lesen können. Und trotzdem sind es genau solche Punkte natürlich. Wenn ich in einem Ensemble mitspielen möchte und ich kann mit den Noten, die das Ensemble nutzt, nichts anfangen, dann habe ich ein Problem. Dann kann ich nicht mitspielen. Wobei man auch mit Schülern in einer großen Gruppe ohne Noten üben und spielen kann – selbst in Konzerten. Wenn Schüler:innen über den Körper mal den Unterschied zwischen einem Zweier-Metrum und einem Dreier-Metrum erfahren haben, dann können sie es auch spielen.

Da sind wir schon mitten in der Theorie von Gordon: Das Verstehen der Musik wird mit einbezogen und nicht nur das bloße Nachspielen. Aber gleich dazu mehr. Wir sind ja heute in Hamburg, deshalb kam mir ja im Zug die Frage in den Kopf: Nordsee oder Alpen?

Oh, beides. Das ist mein Joker.

Das ist der Joker? Okay, dann bin ich gespannt auf die letzten beiden Fragen, die noch kommen. Wenig und oft oder selten und viel?

Wenig und oft.

Talent oder Fleiß?

Ich bräuchte noch einen Joker.

Aptitude – Das musikalische Potential

Die Frage ist auch ein bisschen gemein. Sie kam mir, als ich den Begriff der Aptitude gelesen habe. Wenn ich es richtig erkläre, dann sagt Gordon, dass im Alter von neun Jahren Kinder ihr musikalisches Potential erschöpft haben – ganz vereinfacht gesagt. Ist das noch Stand der Forschung? Kann man das überhaupt so sagen, oder ist das zu stark vereinfacht?

Das ist so etwas missverständlich. Wenn wir geboren werden, haben wir ein bestimmtes Aptitude – also wir haben eine bestimmte Voraussetzung. Diese entwickelt sich im Laufe der Jahre weiter oder zurück, je nachdem wie wir es nutzen und, wie der Einfluss. Das heißt: Wenn ein Kind in einem Kontext aufwächst, in dem es nie Musik hört, es aber eigentlich alle Voraussetzungen hätte, um ein hohes Potential zu entwickeln, dann ist es wahrscheinlich, wenn es fünf bis neun Jahre ist, dass es kein besonders hohes Aptitude haben wird. Das heißt, in dieser Phase des frühkindlichen Lernens (bis neun Jahre ungefähr) geht es darum, dass man ein möglichst großes Angebot macht, um die Chance zu geben, dass das, was wir als Potenzial haben, musikalisch genutzt oder ausgebaut wird.

Es geht gar nicht darum zu sagen, dass ein Kind mit z.B. sechs Jahren bestimmt ein hohes Aptitude hat, das es nun nutzen sollte. Sondern es geht eher darum zu sagen, dass eine breite Unterstützung und ein breites Angebot wichtig sind, damit das musikalische Begabungspotenzial (was Aptitude ja heißt) sich überhaupt entwickeln und aufrechterhalten werden kann. Und dann kommt tatsächlich irgendwann ein Punkt, an dem es sich verfestigt.

Nehmen wir mal an, dieser Punkt ist erreicht und es gibt eine Person, die ein tonale Aptitude im 90. Perzentil und rhythmisch im 95 Perzentil (fiktive Werte) hat. Und eine andere Person hat tonal eine Aptitude im 50. Perzentil und rhythmisch im 70. Perzentil. Dann heißt es nicht, dass die erstgenannte Person besser Musik lernt. Es heißt nur, dass diese Person ein höheres Potenzial hat, aus dem sie schöpfen kann.

Ich habe das selbst mal in einem Kurs mit einem Blechbläser erlebt. Man würde hier ein hohes Potential vermuten, da sie den Ton vorher selbst hören müssen, wofür ein hohes Potential sehr wichtig ist. Die Tests haben dann allerdings bei dieser Person ein sehr niedriges Potential ergeben. Und das Interessante war, dass es keiner gehört hat. Die Person hat einfach so intensiv geübt und so kontinuierlich seine Möglichkeiten weiterentwickelt, dass es nicht automatisch heißt, dass sie nicht in der Lage sein wird, bestimmte Dinge am Instrument zu tun. Und das ist, finde ich, etwas sehr Wichtiges: Einerseits bereit sein zu sagen, wir geben ganz viel Energie (an pädagogischen Impulsen) in dieses junge Alter. Und gleichzeitig wissen wir aber, dass es in der Realität bei den Kindern doch nicht so ankommt, wie es so schön auf dem Papier steht.

Das heißt, diese Aptitude ist am Ende eigentlich nur ein Hilfswerkzeug für Lehrer:innen, um erstmal Potential festzustellen?

Ja, das sehe ich auch so. Aber es gibt da viele Unterschiede. Ich habe da mal einen Versuch gemacht, das war ganz spannend. Ich sollte in Österreich mal für eine sehr, sehr große Gruppe an Lehrern unterrichten. Ich kannte die Kinder vorher nicht und umgekehrt. Zudem kannten die Kinder die Vorgehensweise nicht. Also es waren schon ziemlich viele Unbekannte. Ich hatte vorher überlegt, wie ich es hinkriege, dass ich trotzdem in dieser dreiviertel Stunde diesen erwartungsvoll dasitzenden Lehrern ein bisschen, von dem was möglich ist, zeigen kann. Und dann habe ich die Lehrer dieser Schüler:innen gebeten, diesen Aptitude-Test für diese Altersgruppe mit ihnen zu machen, mir zu schicken, und ich habe ihn dann ausgewertet. Aus pragmatischen Gründen habe ich die Schüler:innen so gesetzt, dass auf der einen Seite welche saßen, die rhythmisch sehr stark waren, auf der anderen Seite tonal. Ich wusste, ich kann dann gezielt dort entsprechenden Input reingeben und mit ein bisschen Chance kommt auch etwas zurück. Das hat im Prinzip auch gut funktioniert. Im Nachgespräch kam dann auch eine Frage zu Aptitude. Ich sollte sagen, welches der Kinder ein hohes Potential hätte. Ich habe das abgelehnt, aber vorgeschlagen, dass ein Lehrer doch dies beantworten könne. Die Stimme aus dem Publikum war überzeugt, dass man dies auch ohne Test feststellen könne. Also hat dieser Lehrer einen Schülernamen genannt, und ich habe dann nachgeguckt. Das Interessante war: B ei einem dieser Schüler*innen stimmte es, bei zwei stimmte es nicht. Und bei einem, bei dem ich dann gesagt habe, der hat sicher ein sehr hohes Potenzial, da meinte der Lehrer, dass dies nicht sein könne, weil er nur Quatsch macht.

Das heißt: Wenn ich das weiß, kann ich diesen Test wirklich als Werkzeug nutzen. Ich weiß dann, dass der, der Quatsch macht, mehr gefordert werden möchte. Umso größer die Gruppe, umso schwerer fällt es zu unterscheiden, ob jemand Quatsch macht weil er unter- oder überfordert ist.

Und wenn ich weiß, eine Schüler:in hat ein hohes Potenzial im tonalen Bereich, dann weiß ich, wie weit ich diese Schüler:in fordern und fördern kann. Ich kann dann differenziert unterrichten und alle auf ihrem Level fördern. Und dadurch lernen ja nicht nur die, die zum Beispiel dann improvisieren. Sondern diejenigen, die Harmoniegrundtöne singen, lernen durch die Improvisation der Anderen genauso viel. Sie setzen unbewusst das, was die anderen machen, ständig in einen Bezug zu dem, was sie singen.

Jetzt sind wir ja schon mitten in der Methode und eigentlich auch schon an einem sehr tiefen Punkt, nämlich bei ganz konkreten Übungen. Ich würde gerne nochmal einen Schritt zurück gehen und eine allgemeine Definition von Audiation versuchen aufzustellen. Wie würden Sie Audiation in einem oder zwei Sätzen versuchen zusammenzufassen?

„Das heißt, Audiation bedeutet, ich höre es im Kopf vor, ich weiß im Grunde, was da passieren soll oder wird oder passiert ist. […] Wenn wir hier von Verstehen sprechen, meinen wir, wenn ich zum Beispiel ein Musikstück höre, dass ich weiß, in welchem Metrum, Tonalität, oder welche formalen Besonderheiten (Stilrichtung etc.) erklingen. Also all die Dinge, die wichtig sind, um umfassend musizieren zu können.“

Almuth Süberkrüb

Was ist Audiation?

Audiation ist Hören und Verstehen von Musik, die nicht oder nicht mehr erklingen muss, aber kann.

Also die entweder aktuell in unserem Kopf stattfindet oder draußen wirklich hörbar ist?

Ja, oder hörbar war oder hörbar sein wird, wenn ich sie spiele. Also wenn ich zum Beispiel mein Instrument im Kopf habe, dann spielt oder singt es im Grunde das vor, was nachher durch das mein Instrument verklanglicht wird. Wenn ich das im Kopf nicht habe, dann ist es schwer möglich, Musik zu spielen, die über die Ebene des rein technischen (im Sinne von griffbezogen) hinausgeht.

Das heißt, Audiation bedeutet, ich höre es im Kopf vor, ich weiß im Grunde, was da passieren soll oder wird oder passiert ist, kann Entscheidungen treffen und kann dann entsprechend musikalisch agieren. Wenn wir hier von Verstehen sprechen, meinen wir, wenn ich zum Beispiel ein Musikstück höre, dass ich weiß, in welchem Metrum, Tonalität, oder welche formalen Besonderheiten (Stilrichtung etc.) erklingen. Also all die Dinge, die wichtig sind, um umfassend musizieren zu können. Und all das bedeutet bei der Audiation Verstehen. Das heißt, es geht nicht nur um syntaktische oder theoretische Phänomene, sondern es geht um das allgemeine Verstehen.

Vielleicht ist ein ganz guter Vergleich, wenn wir uns jetzt unterhalten, dann sage ich bestimmte Sachen zur Audiation und Sie überlegen weiter und denken: „Hab ich das schon mal gehört? Wo kann ich denn da anknüpfen? Ach ja, der und der hat das auch gesagt, aber es ist ein bisschen anders.“ Sie wägen ab und schauen, wie es sich von anderen Dingen unterscheidet. Dann werden sie wahrscheinlich ihre Netzwerke nach Sachen durchforsten, wo sie sagen, „Da reibt sich etwas, das sehe ich aber jetzt anders – da muss ich doch nochmal nachfragen.“ Und wahrscheinlich werden Sie auch weiterdenken und überlegen, worauf läuft das denn jetzt alles hinaus? Was ist denn das Ziel des Ganzen? Und wenn Sie all das jetzt tun, dann sprechen wir davon, dass sie denken. Und wenn Sie all diese Komponenten im musikalischen Mitdenken, dann spricht man von Audiation. Also es ist im Grunde ein Denken in Musik.

Da gibt es doch auch von Edwin Gordon den schönen Satz, „Audiation is to music what thought is to speech.“

Genau, der würde da gut passen.

Das ist eigentlich ganz schön, dass Sie gerade versucht haben, mir Audiation mit dieser Konversationsebene zu erklären. Ich bin in der Vorbereitung oft auf diesen Vergleich gestoßen, dass Musiklernen (im Sinne der Audiation) vergleichbar wäre mit dem Erwerb der Muttersprache. Beides ist am Anfang sehr informell und unstrukturiert. Man bekommt das einfach im Umfeld mit. Die Frage, die ich mir dann gestellt habe: Ist überhaupt das so möglich? Am Ende ist das fast schon eine strukturelle Frage. Weil, wenn man es nur in einer Blase machen würde, dann käme diese ja immer dann wieder an Grenzen, wenn ihr Umfeld nicht auf diese Art und Weise lernt. Wir hatten vorhin bereits das Beispiel mit dem Ensemblespiel. Also die erste Frage wäre: Kann man Musik wie eine Sprache erlernen? Und die zweite Frage: Das ist ja alles noch informell. Wie bekommt man dann Struktur in so etwas rein?

Ich fange mal an bei der Frage, ob das möglich ist? Ich würde sagen: Ja, auf jeden Fall. mit Im Prinzip geht es bei dem Gedanken darum, dass zunächst ein Kontext geschaffen wird. Dass in diesen Kontext Details eingebettet werden und, dass über diese Schritte zum nächsten Schritt gegangen wird, den Kontext neu zu lernen.

Um es konkret zu machen: Wenn ein Kind geboren wird, dann befindet es sich immer in einem Raum mit Menschen. Diese Menschen sprechen, streiten, freuen, lachen, diskutieren. Sie sprechen über hochkomplexe Dinge. Eltern fangen nicht an, in dem Moment, wo ein Baby geboren wird, nur noch in Drei-Wortsätzen zu sprechen. Niemand erwartet, dass dieses daliegende Baby alles hört und versteht, sondern es wird eigentlich nur gebadet in diesen verschiedenen Sprachlichkeiten. Und dadurch können Kinder ein großes Hörrepertoire anlegen, ohne dass irgendwas erwartet wird. Kein Vater, keine Mutter würde bei einem zwei Monate alten Kind hingehen und sagen, wir müssen jetzt wirklich mal üben, dass du Kindergarten sagen kannst. Das fänden alle absurd. Aber in der Musik, da ist es nicht so absurd. Wenn man diese Haltung auf das Musiklernen übertragen kann und den Kindern die Chance gibt, dass sie hören dürfen und den Eltern die Chance gibt, zu lernen, wie sie auf ihre Kinder eingehen können und das weiter unterstützen, dann ist das ein riesengroßer Schritt für alle.

Im sprachlichen Bereich wissen wir, wie wir darauf eingehen. Das Kind sagt vielleicht „Au. Ein Auto fährt vorbei und wir sagen einfach mal Auto. Entweder es stimmt oder es stimmt nicht. Das Kind reagiert vielleicht, indem es sich abwendet. Dann hat es doch etwas anderes gemeint. Oder das Kind schaut mich nochmal an und möchte mehr haben. Auf diese spielerische Weise lernen Kinder ihre Sprache. Und das geht in der Musik auch.

„Eltern fangen nicht an, in dem Moment, wo ein Baby geboren wird, nur noch in Drei-Wortsätzen zu sprechen. Niemand erwartet, dass dieses daliegende Baby alles hört und versteht, sondern es wird eigentlich nur gebadet in diesen verschiedenen Sprachlichkeiten. Kein Vater, keine Mutter würde bei einem zwei Monate alten Kind hingehen und sagen, wir müssen jetzt wirklich mal üben, dass du Kindergarten sagen kannst. Das fänden alle absurd. Aber in der Musik, da ist es nicht so absurd.“

Almuth Süberkrüb

Das ist auch eine Frage, die ich mir in der Vorbereitung überlegt habe. Ist die Audiation hauptsächlich eine Herangehensweise für Kinder? Weil dieses Baden in Musik, wie Sie es gerade so schön beschrieben haben, das stelle ich mir bei einem Erwachsenen Schüler relativ schwierig vor. Der hat im Zweifel schon 40 Jahre an Hörgewohnheiten hinter sich, ohne die eingestuft bekommen zu haben. Beziehungsweise erwartet man von ihm auch etwas anderes.

Ich bleibe mal in dem Bild: Erwachsene haben sich schon an ihren eigenen Badeduft und ihre eigene Badetemperatur gewöhnt. Und wir Menschen sind ja Gewohnheitstiere. Das ist übrigens interessant, auch Musiklehrer haben ja so ihre eigene Badetemperatur und ihren eigenen Badeduft. Das heißt aber nicht, dass wir dabei bleiben müssen. Und musikalisch, ich finde das ganz wichtig, dass Sie das ansprechen, sollten wir nicht vom biologischen Alter sprechen, sondern vom musikalischen Alter und das unterscheidet sich.

Es gibt Erwachsene, die kommen mit ihren Kindern in eine Eltern-Kind-Gruppe und sind musikalisch ähnlich wie ihr Kind im Brabbelalter. Und es gibt andere, bei denen ist das anders. Das heißt, je nachdem, wie viel wir im Leben an Musik gemacht haben, wie viel wir erleben durften, gelernt haben, befinden wir uns in einem unterschiedlichen Grad an musikalischem Alter. Und das ist unabhängig von meinem biologischen Alter.

Ich habe dazu auch ein Beispiel: Ich hatte mal eine Improvisationsgruppe, in der es eine Klarinettistin gab. Alle Personen in der Gruppe waren auf sehr unterschiedlichem Niveau. Es gab welche, die sich bereits mit Jazz-Improvisationen beschäftigt haben und es gab andere, die eher aus der Klassik kamen. Also es war eine sehr bunte Gruppe mit sechs Schüler:innen. Und da gab es eine Klarinettistin, die sehr wenig Erfahrung hatte. Ich war am Anfang skeptisch, wie wir die Gruppe zusammen bekommen sollten. Ich fing mit einer einfachen Übung an: Jeder sollte einen Ton spielen und ihn anschließend nachsingen. Die Klarinettistin meinte daraufhin, dass sie das nicht könne. Das sind natürlich wenig Voraussetzungen, um zu improvisieren. Gleichzeitig dachte ich, dass sie ja aus irgendeinem Grund hier ist. Ich habe dann mit ihr gesprochen und ihr vorgeschlagen, dass wir uns einfach mal alleine treffen könnten. Sie stimmte zu.

Als wir uns dann getroffen haben, habe ich gesagt: „Ich weiß, was ich mit dir machen kann. Das fühlt sich aber für dich vielleicht ein bisschen komisch an. Ich würde dir einfach erstmal was vorsingen und du hörst einfach mal zu.“ Und dann haben wir uns jede Woche getroffen und ich habe eine halbe Stunde Lieder in allen Tonalitäten und Metren für sie gesungen. Und dann habe ich irgendwann das Ende herausgezögert und habe den Tonalitätsgrundton erstmal weggelassen und dann gesungen. Und irgendwann hat sie gesagt, dass sie ihn gern singen möchte. In dem Moment wusste ich, dass sie unbewusst alles, was sie vorher gehört hat, auf diesen Ton beziehen kann, denn sonst könnte sie ihn nicht singen. Dieser Ton ist das Fundament dieser Tonalität. Und das ist ein ganz wichtiger Schritt. Von da ausgehend sind wir schrittweise weitergegangen. Und das ging sehr gut, weil sie sich darauf eingelassen hat. Und weil sie über ihren Schatten gesprungen ist und etwas erreichen wollte.

Nach einem Jahr gab es dann ein Schülerkonzert, bei dem wir zwei Impro-Stücke spielten. Beim zweiten Stück fing der Gitarrist an zu spielen und merkte, dass er den Capo vergessen hatte abzumachen. Die Klarinettistin spielte ihren ersten Ton und ich erschrak. Das Interessante war allerdings, dass sich beide angeschaut haben und die Klarinettistin ihre Grundidee weiterspielte, während der Gitarrist den Capo abmachte. Und ich dachte so, wow. Nach dem Konzert sagte sie mir, dass sie von der Situation gar nicht so geschockt war. Sie wusste, dass ihr etwas einfallen würde, was sie spielen kann. Und das fand ich total toll.

„Und musikalisch, ich finde das ganz wichtig, dass Sie das ansprechen, sollten wir nicht vom biologischen Alter sprechen, sondern vom musikalischen Alter und das unterscheidet sich.“

Almuth Süberkrüb

Das knüpft eigentlich ganz schön an meine nächste Frage an. Denn was ich so gut bzw. so logisch an der Gordon-Methode finde, ist dieser stufenweise Aufbau. Man springt, wenn man das Wort benutzen möchte, von Level zu Level, von Stufe zu Stufe. Und ich habe mich gerade auch in der Vorbereitung gefragt, was mache ich, wenn jemand, zum Beispiel etwas nicht nachsingen kann. Das heißt, die Konsequenz ist dann immer eine Stufe zurückzuspringen und zu schauen, ob die Person bspw. den Grundton hören kann. Und erst dann gehen wir wieder zur Nachsingen-Stufe.

Wenn man es ganz allgemein fassen würde: Überlegen Sie sich, welche Voraussetzungen die Schüler:innen brauchen, um das lernen zu können, was sie vermitteln wollen. Das klingt einfach, ist es aber nicht immer.

Ja, das kennt jede*r Musiklehrer*innen aus dem eigenen Unterricht. Man verzweifelt manchmal fast schon, wenn man etwas vorsingt, und die Schüler*in kann es nicht nachsingen. Wenn dann das Wissen fehlt, dass der Schülerin oder dem Schüler gerade die Voraussetzungen dafür fehlen, das überhaupt nachzumachen, sucht man den Fehler ja vergeblich an Stellen, wo er gar nicht sein kann.

Ja, genau. Und es gibt ja genug Möglichkeiten, woran es liegen kann.

Und das ist auch nochmal wichtig zu sagen: Natürlich sind alle Aspekte wichtig, auch die Stilrichtungen. Aber der systematische Aufbau bezieht sich nur auf tonale und metrisch-rhythmische Aspekte. Gordon ging davon aus, dass man in dem Moment, wo man bestimmte tonale und rhythmische Patterns kann, diese auch in verschiedenen Stilrichtungen anwenden kann. Schließlich gibt es auf der Welt nicht unendlich viele Patterns, die genutzt werden. Und gerade im Schülerbereich gibt es ja nochmal weniger als im Profibereich. Und wenn man diese Patterns gut verinnerlicht hat, dann ist der Schritt, sie in unterschiedlichen Stilrichtungen zu verwenden, relativ klein. Wenn man sie aber gar nicht kann, fehlt einem etwas.

Lernmuster und -Systeme haben auch immer etwas Vereinfachendes, was sie problematisch macht. Das heißt, es geht bei dieser Stufung im Grunde darum, dass man Schritt für Schritt geht, aber dass man auch mal Sprünge wagt. So wie im echten Leben. Und wenn man dann auf die Nase fällt beim Sprung, wenn man vielleicht doch einen zu großen Sprung gewagt hat, dann weiß man, es liegt nicht daran, weil ich gar nichts kann. Sondern ich weiß, dass ich doch noch mal auf die Stufe zurück gehen sollte, von der ich abgesprungen bin. Dann ist die Chance durchaus größer, den großen Sprung danach auch zu schaffen. Und diese Sprünge, die sind total wichtig. Und ich finde, dieses System gibt die Chance, Schritt für Schritt zu gehen und damit eine Sicherheit zu haben und gleichzeitig auch mal risikobereit zu sein. Also zu sagen: „Okay, meine Schüler:innen können jetzt zwei Patterns und ich improvisiere mit denen jetzt mal.“

Unterscheidungs- vs. Inferenzlernen

Bei den Sprüngen ist noch eine Sache sehr wichtig. Es gibt beim auditionsbasierten Musiklernen überbrückende Lernbewegungen. Das heißt, wir haben diese Systematik und es ist eingeplant, dass es Sprünge vom Unterscheidungslernen zum Inferenzlernen gibt.

Ganz kurz zur Erklärung: Beim Unterscheidungslernen wird den Kindern immer die Antwort mitgegeben. Das heißt, ich singe als Lehrer ein Pattern vor und wenn das Kind oder der erwachsene Schüler das nachsingt, singe ich mit. Das heißt, ich stelle nicht irgendwelche Fragen und erwarte irgendwelche Antworten, sondern ich frage, um zu vermitteln. Und wenn ich dann spüre, dass es gut klappt, dann fordere ich das nächste Mal zum solistischen Singen auf. Und dann ist das Pattern für diese Person ein vertrautes Pattern. Das ist ganz grob und sehr vereinfacht gesagt, das Unterscheidungslernen.

Inferenzlernen ist ein anderer Block, bei dem es darum geht, aus den Inhalten, die ich im Unterscheidungslernen gelernt habe, schrittweise auch selbstständig neue Inhalte abzuleiten. Es ist das, was man in der Schule früher als den Transfer bezeichnet hat. Dieses Transferdenken kommt oft viel zu spät. Denn wenn ich das übe, dann fange ich an, ganz anders zu denken. Und dann ist auch das Risiko des woanders Hinspringens, nicht mehr so groß. Das Springen ins Transferdenken/Inferenzlernen kann bereits ganz früh anfangen. Leider findet es im Lernen oft viel zu spät statt, was sehr schade ist.

Das klingt auf jeden Fall auch sehr spielerisch (à la exploratives Lernen). In der letzten Podcast-Folge war Wolfgang Schöllhorn zu Gast, Trainingswissenschaftler aus Mainz. Er hat über das Differenzielle Lernen gesprochen. Und das Unterscheidungslernen hat mich sehr daran erinnert, als ich es in der Vorbereitung gelesen habe. Wir hatten das Beispiel mit dem Zweier- und Dreierpuls bereits. Zu wissen, wie sich eins der beiden anfühlt, hilft mir zu differenzieren was, was ist. Von daher finde ich es ganz schön, dass sich hier nochmal ein kleiner Kreis schließt. Das Unterscheidungslernen ist sozusagen das Fundament. Und darüber gibt es mit dem Inferenzlernen nochmal eine nächste Stufe.

Ich überlege gerade. Das ist ganz spannend. Die Frage war aber etwas lang.

Die Frage ist auch eigentlich keine richtige Frage, wenn man so möchte. Ich muss vielleicht ein bisschen ausholen: Ich habe über die Audiation meine Bachelorarbeit damals geschrieben. Ich mir Jazz-Improvisationen in der Audiation und im Flow angeguckt und war sehr begeistert. Ich habe zuerst in Saarbrücken studiert und kam dann ins zweite Jahr an die Hochschule in Bern. Dort war es im ersten Jahr Aufgabe, Kinderlieder in anderen Modi zu singen. Meine ersten vier Wochen im Unterricht bestanden also darin, mir zwölf Kinderlieder zu notieren und diese in allen Modi zu üben. Das hat damals mein Leben ein bisschen verändert, wenn man so das so hoch sprechen möchte. Was ich dann während der Bachelorarbeit so spannend fand, ist, dass ohne, dass wir es im Unterricht Audiation genannt haben, die Prinzipien ganz ähnlich waren.

Das gleiche Erlebnis hatte ich nun mit dem Unterscheidungslernen und dem Differenziellen Lernen von Wolfgang Schöllhorn. Da verband sich für mich schon wieder ein Punkt. Am Ende sind es von der gleichen Sache lediglich verschiedene Betrachtungsweisen, die auf verschiedenen Wegen zum gleichen Ziel zu führen. Ich finde es immer spannend, das im Podcast herauszuarbeiten.

Das sind ja so grundsätzliche Lernprinzipien, die ganz viel verwendet werden. Also was ich so hilfreich finde an dieser Stufung, die Gordon entwickelt hat, ist, dass er Wissen aus verschiedenen Bereichen so gebündelt und strukturiert hat, dass ein musikalischer Lernprozess entstehen darf, der so stattfindet, wie es dem menschlichen Lernen entspricht. Das heißt, da wurde nicht alles neu erfunden. Also zum Beispiel die Verwendung von Solmisationssilben. Oder was Sie gerade erzählt haben, finde ich ganz spannend. Gordon kam ja auch aus dem Jazz und das merkt man auch an bestimmten Sachen immer wieder. Und es gibt ja auch von den Dozent:innen, die zum Beispiel in den USA unterrichten, einige, die im Jazz beheimatet sin. Aber im Grunde kommt diese Herangehensweise eher aus dem Jazz als aus der Klassik. Obwohl sie überall anwendbar ist.

Was sicher auch an unserer Tradition des Musikvermittelns liegt. Wenn man zurückguckt zu Beethoven, war es nicht üblich, dass Kadenzen aufgeschrieben wurden. Sie wurden damals improvisiert. Oder auch im Barock. Das heißt, dieses fixiert sein auf die Noten und davon ausgehen müssen im Lernprozess, das ist etwas, was sich später entwickelt hat. Wenn man keine Noten verwendet ist man mehr ins Hören gezwungen. Weil das Medium, was uns sehr vertraut ist (weil wir es ständig inn unserem Alltag benutzen) uns weggenommen wird: nämlich das Lesen.

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Anwendung der Audiation im Musikunterricht

Vielleicht können wir, um das Ganze ein bisschen abzurunden und den Leuten auch etwas Konkretes mitzugeben, mal gucken, was denn typische Anwendungsbeispiele im Unterricht wären? Wir hatten ja vorhin schon dieses Baden im Hören als erste Stufe. Was, wenn man jetzt nicht Audiationslehrer/ -lehrerin ist, erstmal auch ein Schritt ist, das wirklich organisch in den Unterricht einzubinden. Was wären typische Übungen oder wie sähe eine idealtypische Audiation (Music Learning Theory) Unterrichtsstunde aus?

Ich möchte ganz kurz noch etwas zu den Liedern sagen: Wenn möglich sollten die Lieder und Sprechgesänge ohne Text gesungen werden. Das ist noch etwas, was für viele sehr ungewohnt ist. Natürlich variiert es ein bisschen abhängig von der Altersstufe. Also bei ganz kleinen Kindern ist es völlig problemlos. Wenn die dann ein bisschen älter werden fordern sie auch ein bisschen mehr Text. Das macht es ein bisschen leichter. Das Prinzip ist zu gucken, wie kann ich mit möglichst wenig Text und viel Musik arbeiten.

Tonalitätsgrundton finden und singen

Jetzt aber noch mal zur anderen Frage. Nehmen wir mal an, das hat stattgefunden: Man hat die Möglichkeit ganz viel in verschiedene Metren und Tonalitäten zu hören und möchte jetzt mit Patterns arbeiten. Dann ist eine wichtige Voraussetzung erstmal, dass ich in der Lage bin den Tonalitätsgrundton zu finden. Wenn ich ihn finde, dann habe ich im Prinzip den tonalen Rahmen des Liedes unbewusst verstanden. Das ist ein ganz wichtiges Fundament, um weiterzukommen.

Raumfüllende Bewegungen

Eine zweite Sache ist, wenn ich im rhythmischen Bereich arbeite, dass ich in der Lage bin, fließende, raumfüllende Bewegungen auszuführen. Das heißt, dass ich den Raum, den ich habe, überhaupt erstmal wahrnehme und erfahre. Das unterstützt mich dabei, auch in der Musik diese Räume zuzulassen und wahrzunehmen.

Koordinationsfähigkeit Arme – Beine

Dann ist es sehr wichtig, dass eine Koordinationsfähigkeit von Beinen und Armen vorhanden. Das heißt, dass ich Hauptpuls mit den Beinen empfinden kann und gleichzeitig mit den Armen Unterteilungen ausführen kann. Wenn ich diese Koordination habe, dann habe ich auch ein Fundament für bestimmtes rhythmisches Lernen. Diese Hauptpulse (Makrobeats) bilden das rhythmische Fundament unserer Musik. Und die Mikropulse oder Unterpulse, die geben die zwischenstrukturelle Ebene.

Hinweis: Auch im Anfängerunterricht, gibt es diesen Stufenweisen Aufbau. Offbeatts, so wie sie im Podcast als Beispiel gezeigt sind, folgen erst später.

Also ich lerne Schritt für Schritt und erst lerne ich übers Hören und Wiedergeben. Also ich höre etwas und singe das Gleiche nach, dann verbinde ich das mit Solmisations- oder Rhythmussilben, um dem, was ich vorher allein hörend verstanden habe, eine zweite strukturelle Ebene zu geben. Dann bette ich es in einen größeren Kontext ein, das ist die dritte Stufe. Dann beginne ich, das, was ich vorher gehört habe, was ich mit Rhythmus oder tonalen Silben verbunden habe, in Noten zu lesen. Das heißt, die Patterns werden nicht beliebig aneinandergereiht, sondern es gibt eine bestimmte Abstufung. Ich fange nicht mit Offbeats an, sondern mit Makros und Makro-Mikro-Verbindungen. Diese baue ich dann immer weiter aus. Sobald man sich die Frage stellt, warum man diese strenge Stufung so benötigt, ist das oft ein Punkt, an dem man sie wahrscheinlich bald weglassen kann.

Inwiefern fügen sich hier instrumental spezifische Techniken in die Methode von Gordon ein? Also als Blechbläser zum Beispiel Stoßübungen oder am Klavier Handhaltungssachen?

Ja, ganz kurz dazu vorher noch: Gordon hat immer gesagt, seine Vorgehensweise ist keine Methode. Das wollte ich nur nochmal kurz sagen. Allerdings sagen das ganz viele, deshalb war es mir nochmal wichtig es zu betonen.

In den Stufen, die Gordon entwickelt hat, geht es um tonale, rhythmische und harmonische Entwicklungen. Das heißt rein technische Fragen sind hier nicht ausgearbeitet. Es gibt Hefte für die verschiedenen Instrumente, die aber eher darauf angelegt sind, Audiation in der Gruppe zu üben. Das heißt aber nicht, dass das nicht möglich ist, sondern es geht einfach darum, wenn ich ein Instrument habe und ich spiele und die Schüler lernen über das Hören so zu arbeiten, dann hören sie bestimmte Dinge auch anders und dann kann ich über das Hören die Technik verändern. Zum Beispiel über Anweisungen: „Das klang jetzt weichfließend. Ich hätte es jetzt aber gerne mal in Portato-Noten. Lass uns das doch jetzt gerade mal probieren, wie das da funktioniert.“

Was ich da total hilfreich finde, das ist aber nochmal ein ganz anderes Fass, was aufgeht, ist von Laban (Anm. d. Red: Rudolf von Laban – Bewegungslehre) verschiedene Bewegungsmöglichkeiten. Da öffnen sich, finde ich, wenn man aus der ganzkörperlichen Bewegung bestimmte Sachen aufs Instrument überträgt, nochmal ganz neue Türen. Also das kann ich nur wärmstens empfehlen.

Das ist jetzt nicht die Antwort auf die Detailtechnik, aber es gibt da verschiedene kleine Türen, die man aber als Lehrer auch selbst durchschreiten muss. Der Ansatz von Gordon ist nicht darauf angelegt ist alles zu erfüllen. Das hat er auch immer ganz klar gesagt.

Outro

Also ich glaube, wir könnten wahrscheinlich noch mal zwei Stunden hier so reden. Und wir haben ja gerade eine neue Tür aufgestoßen. Ich habe auch hier noch ein paar Fragen, zu denen wir gar nicht kamen, aber mit Blick auf die Uhr, würde ich das Schiff – wir sind ja heute hier in Hamburg – in den Hafen fahren lassen. Und ich habe immer, ähnlich wie am Anfang, zwei Fragen, die ich all meinen Gästen zum Abschluss gerne stelle. Was lernen oder üben Sie gerade, was Sie noch nicht so gut können?

Verschiedenes. (lacht)

Geduld. Manchmal denke ich auch, ich kann noch besser und offener und freier in die Zukunft schauen und die Dinge auf mich zukommen lassen kann. Es ist eigentlich alles, was wir tun, jeder Tag, den wir leben, jeder Schritt, den wir gehen, ist ein Neuer. Deshalb war es für mich vorhin auch klar, als Sie nach Lehrer oder Schüler gefragt haben, das mit Schüler zu beantworten.

Und es passieren immer neue Dinge. Und klar, manches hat sich etabliert und ist auch ganz gut so, dass wir nicht auf allen Ebenen alles immer neu erfinden müssen. Aber so dieses Offenbleiben und gucken, was es noch gibt, finde ich super wichtig. Dafür ist es, glaube ich, total wichtig, auf verschiedenen Ebenen bereit zu sein, weiter zu lernen.

Und wenn Sie an Ihre eigene Studienzeit zurückdenken und Ihrem jüngeren Erstsemester Musikstudierenden-Ich, einen Tipp aus heutiger Sicht mitgeben würden, was wäre das für ein Tipp?

Glaube daran, dass das, was du als wichtig empfindest, es auch wirklich ist, auch wenn die anderen das vielleicht anders sehen.

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Differenzielles Lernen in der Musik https://what-is-practice.de/differenzielles-lernen-in-der-musik/ https://what-is-practice.de/differenzielles-lernen-in-der-musik/#comments Sun, 25 Aug 2024 14:07:42 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6576 Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn ist Bewegungs- und Trainingswissenschaftler an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Er gilt als Begründer des Differenziellen Lernens. Eine Methode, die auch inzwischen Einzug in die Musik gehalten hat. Was so abstrakt klingt ist in Wahrheit recht einleuchtend und simpel. Wir lernen aus Unterschieden.  Damit ist nicht gemeint, dass wir anfangen sollten,… Weiterlesen »Differenzielles Lernen in der Musik

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Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn ist Bewegungs- und Trainingswissenschaftler an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Er gilt als Begründer des Differenziellen Lernens. Eine Methode, die auch inzwischen Einzug in die Musik gehalten hat. Was so abstrakt klingt ist in Wahrheit recht einleuchtend und simpel. Wir lernen aus Unterschieden. 

Damit ist nicht gemeint, dass wir anfangen sollten, ein zweites Instrument zu lernen. Differenzielles Lernen zielt eher auf die kleinen Unterschiede ab, die beim Ausführen einer Bewegung am Instrument entstehen. Sie beschränken sich jedoch nicht nur auf Bewegungen, sondern variiert werden kann jeder musikalische Parameter von Ausdruck bis Genre. Die Frage, die sich natürlich nun stellt: Wie können wir uns das in der Musik zu nutze machen. Darüber soll es in dieser Podcast Folge gehen. 

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn in der Sporthalle der JGU Mainz
Wolfgang Schöllhorn nach dem Interview an der JGU Mainz

In der Folge habe ich mit Wolfgang Schöllhorn den Blick aber abseits von Sport und Musik gerichtet und mein Gast gibt Einblicke zu aktuellen Forschungsfragen rund um das optimale Lernen gibt. 

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Wolfgang Schöllhorn lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview

Inhalt

In Anlehnung an die Musikerinnen und Musikerinterviews, die ich immer führe, würde ich Ihnen gern zum Einstieg zwei Fragen stellen: Vervollständigen Sie folgenden Satz, trainieren heißt für Sie?

Meist eine veraltete Methode, die dringend einer Überarbeitung bedarf.

Das heißt Sie trainieren nicht?

Nein. Das Wort trainieren (train – to train) kommt ursprünglich aus dem französischen und bedeutete „das Pferd aus dem Stall ziehen“.

Und ich will niemanden hinter mir herziehen, sondern für mich ist es eigentlich eine Stimulation und eine Interaktion, wo mehr Kreativität von Seiten des Lernenden mit hineinkommen kann.

Das heißt Sie sagen nicht „ich trainiere“, sondern was ist Ihr Wort für das, was man so landläufig als trainieren bezeichnet?

Also wir sind auf der Suche nach einem adäquaten Wort, aber: ich bewege mich, ich lerne.

Das finde ich schön. Bewegung oder Lernen sollte ja nicht nur monotones Wiederholen sein, sondern im besten Fall abwechslungsreich und kreativ.

Was ist denn die neueste oder letzte Idee, die Sie selber in Ihrem eigenen Bewegen, Lernen ausprobiert haben beziehungsweise an Studierende weitergegeben haben?

Das Neueste, was ich jetzt an unsere Studierenden gegeben habe, ist das Resultat unserer neuen Forschung, dass auch Differenziales Lernen mit der Zeit abstumpft.

Und das war das, was ich eigentlich auch von Anfang an vor 20 Jahren schon gesagt hatte: es geht um Variation der Variation. Variation muss individuell und situativ angepasst werden.

Es gibt Leute, die werden bei zu viel Variation verrückt. Dann gibt es andere, die werden bei zu viel Wiederholung verrückt – und dann kann das aber auch von Zeit zu Zeit wechseln. Es hat schon eine starke psychologische Komponente, wann Wiederholung Vorteile bringt. Da können wir aber später nochmal drüber reden.

„Variation muss individuell und situativ angepasst werden“

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn

Entweder-Oder-Fragen

Sehr gerne, dazu habe ich auf jeden Fall auch ein paar Fragen vorbereitet. Für alle Zuhörerinnen und Zuhörer, die sie vielleicht noch nicht so gut kennen, habe ich mir ein paar Entweder-Oder-Fragen überlegt, um Sie vorzustellen.

Handball, Leichtathletik, Turnen oder Bobfahren?

Das ist jetzt quasi mein Lebenslauf in der Praxis.

Für mich gibt es da kein Entweder-Oder, sondern es war einfach nur die Neugierde.

Der Wechsel von Handball auf Leichtathletik war mehr oder weniger aus Gesundheitsgründen, weil ich im Handball (damals war es üblich auf Betonboden mit Linoleum zu spielen) die Knie nach zehn Jahren kaputt hatte. Während der Regeneration hatte ich die Leichtathleten kennengelernt.

Und die haben mich dann gefragt, ob ich als Handballer nicht auch mal Speer werfen könne. Wenn du Speer wirfst, dann kannst du auch Diskus und Kugelstoßen und damit war der Zehenkampf schon fast komplett zusammen.

Ich habe das dann eine Weile lang gemacht und habe dort aus Neugierde jemanden kennengelernt, der Bobfahren konnte. Ich bin dann dort relativ schnell erfolgreich gewesen und habe aber ganz am Ende, als ich schon Athleten trainiert hatte nebenher, mit meiner neuen Theorie ein Selbstexperiment gewagt.

Ich hatte dann mit Freunden von mir, Georgios und seinem Bruder Eftimios Karamitsos, der ist Nationaltrainer im Karate, einen Deal gemacht: Ich habe gesagt, ich bringe dir Sprinten bei und du bringst mir Karate bei. Aber ich will dich nur einmal die Woche sehen, weil ich den Rest dann selber mache. Und das haben wir dann gemacht. In sehr kurzer Zeit hatte ich den braunen Gurt und ich wusste, das Differenzielle Lernen funktioniert und habe es dann erst bei meinen Athleten angewandt.

Also alles, worüber ich rede, das stammt aus praktischer Erfahrung. Nicht nur als Athlet, sondern weil ich mein Studium selbst finanzieren musste, auch als Trainer.

Haben Sie eine Lieblingssportart, obwohl Sie so breit aufgestellt sind?

Nein, also womit ich mich schon ein bisschen schwertue, ist Wasser. Ich schwimme auch ab und zu, aber dann möchte ich wirklich schnell wieder raus. Alles, was so in den Ausdauer Bereich geht, ist jetzt nicht so mein Favorit.

Man hört Sie sind Schwabe, also: Mainz oder Ulm?

Also zum Studieren und Arbeiten gerne hier in Mainz.

Ich bin gern in Ulm, aber für die damalige Zeit war es wichtig, davon wegzukommen, weil Ulm für die Zeit nach der Schule doch eher etwas konservativ war. Da war die Gegend hier im Rhein-Main Gebiet ideal.

Erklären oder vormachen?

Weder noch. Fragen stellen.

Heute oder morgen?

Jetzt.

Wir hatten es davon eben schon im Vorgespräch. Ich kam auf die Frage, als ich ein Video von Ihnen gesehen habe, in dem Sie vor den deutschen Fußballlehrern sprechen. Da zitierten Sie am Anfang ein chinesisches Sprichwort, was wohl besagt: „Wenn du unglücklich sein möchtest, dann vergleiche dich mit anderen.“

Das ist vollkommen richtig. Das „andere“ kann man sogar weglassen. Wenn du unglücklich sein willst, dann vergleiche. Das reicht schon.

Das ist für mich im Sport, aber auch in der Musik ganz wichtig: Wenn ich ein Musikstück höre und will es genauso reproduzieren, dann fange ich schon an zu vergleichen. Oder wenn mir mal ein Stück gut gelingt, dann fange ich an zu vergleichen. Und der Vergleich, das wissen wir inzwischen, aktiviert den Frontallappen und damit wird die meist die Leistung reduziert. Das hindert uns auch daran im Moment maximal Leistung zu bringen.

Waren Sie immer schon frei davon oder war es bei Ihnen auch ein Prozess?

Nein, das war klar ein Prozess. Ich bin die klassische Schule durchgegangen.

Ich habe auch für 10 Jahre Oboe gelernt. Bei den Wiederholungen der Tonleiter in der anfangs viertel Stunde wusste ich damals schon nicht wozu.

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Was ist Differenzielles Lernen?

Können Sie beschreiben, was das Differenzielle Lernen auszeichnet, beziehungsweise wie es sich vor allen Dingen vom klassischen Lernen unterscheidet?

Wie das Wort es eigentlich schon sagt, liegt darin die Erkenntnis, dass wir prinzipiell nur, aus Differenzen lernen können.

Die zugrundeliegende Definition von Lernen: Lernen ist eine zeitlich überdauernde Verhaltensänderung oder Wissensänderung. Das heißt also das, was im Abitur stattfindet, ist kein Lernen. Das ist Kurzzeit-Reproduktion. Lernen ist eigentlich das, was wir auch ein Jahr danach noch wissen.

Zeitlich überdauernde Verhaltensänderung geht nur über Differenzen. Das hat auch einen informationstheoretischen Hintergrund: Wenn wir zweimal die gleiche Information erhalten, was sollen wir daraus lernen? Unser Körper ist auch darauf abgestimmt. Unsere Neuronen können sich sehr schnell an Wiederholungen anpassen.

Das merken wir immer, wenn wir morgens die Kleidung anziehen. Das ist für die Haut noch neu, aber sobald sich der Reiz beim Tragen wiederholt, sind wir uns der Kleider nicht mehr bewusst. Wiederholung stumpft ab.

Das Wort „differenziell“ rührt auch noch aus meiner Physikausbildung her und leitet sich von der Differential- und Integralrechnung ab. Es deutet darauf hin, dass es im Ursprung des Differenziellen Lernen eigentlich um die kleinen Differenzen ging.

Das bedeutet, wenn ich schon in einer Bewegung bin (wir haben damals mit Kugelstoßen gearbeitet), dann geht es nicht darum, dass ein Kugelstoßer noch zusätzlich Rad fahren und schwimmen soll, sondern dass er innerhalb des Kugelstoßens noch sehr viele Variationen drin hat.

Also, dass er nach rechts oben oder nach links unten stoßen kann. Er kann es in den Vorwärtsbewegen machen, er kann es in den Rückwärtsbewegen machen, mit dem Kopf nach links, Kopf nach rechts, Ellenbogen unten, Ellenbogen oben, etc.

Das heißt, wir haben damals gesagt, dass keine zwei aufeinanderfolgenden Wiederholungs- oder Bewegungsausführungen identisch sein sollten. Wir erzeugen zwischen zwei aufeinanderfolgenden Bewegungen Differenzen, wodurch unser System eine Chance hat, einen Vergleich anzustellen um zusätzliche Informationen zu erhalten.

Interessanterweise nutzt unser Gehirn genau diesen Mechanismus ständig: Nämlich beim Sehen. Wenn wir also unser linkes und rechtes Auge abwechselnd auf und zu machen und eine Linie angucken, dann sehen wir, dass die Linie hin und her springt. Das heißt, unser Gehirn nutzt die Differenz der beiden Abbilder, um die Entfernung zu bestimmen. Das Gleiche macht es auch beim Gehör. Wenn ein Schall zuerst auf das linke Ohr und dann aufs rechte Ohr kommt, gibt uns die zeitliche Differenz die Orientierung, woher der Schall kommt.

„Das bedeutet, wenn ich schon in einer Bewegung bin (wir haben damals mit Kugelstoßen gearbeitet), dann geht es nicht darum, dass ein Kugelstoßer noch zusätzlich Rad fahren und schwimmen soll, sondern dass er innerhalb des Kugelstoßens noch sehr viele Variationen drin hat.“

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn

Landläufig gibt es diese Vorstellung, dass wenn man etwas lernt und wiederholt, dass sich Myelin um die Synapsen bildet und eine Art Datenautobahn entsteht. Ist dann diese Vorstellung falsch?

Jein.

Also ich glaube, da liegt ein großes Missverständnis vor. Dieses auch als Binding- Problem bekannte Phänomen hatte ich damals schon bei Prof. Wolf Singer in Frankfurt am Max-Planck-Institut für Gehirnforschung gesehen: Wenn im Gehirn von vorne links die Frequenz kommt und dann hinten rechts ist – dann, so die Theorie fängt es an sich zu verbinden. Das stimmt für kurze Entfernungen, nur interessanterweise war das aber auch das einzige Lern-Design, was sie untersuchen konnten. Man hat kein anderes Lernen untersucht. Man hat quasi das Experiment so gestaltet, dass das rauskommt, was eigentlich rauskommen muss.

Und jetzt gibt es ja verschiednste Formen des Lernens, auch das sog. AHA-Lernen was wir zum Beispiel Fahrradfahren erleben. Das können wir damit nicht erklären. Balancieren können Sie damit nicht erklären. Es ist nur eine, und zwar eine der wenigsten Formen des Lernens, die man untersucht hat.

Hinzukommt, dass wir wissen dass sich unser System von selbst ändert. Also schon wenn ich nachts schlafe, schon wenn ich irgendeinen Gedanken habe, habe ich im Gehirn schon nicht mehr die gleichen Synapsen. In der Pubertät kommt zusätzlich Wachstum und die Veränderung des Hormonhaushalts dazu. Das heißt eigentlich, dass ich niemals wieder dieselbe Situation habe. Wozu soll ich dann wiederholen? Also, wiederholen macht Sinn – allerdings aus anderen Gründen, die meist mit einem Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle in Verbindung stehen.

Was wir inzwischen leider wissen ist, wenn zu viele Wiederholungen stattfinden und das ist ganz bekannt in der Musik, besteht die Gefahr der Fokalen Dystonie. Diese Krankheit tritt häufig bei enormem Ehrgeiz gepaart mit vielen Wiederholungen auf. Wir sehen dies nie bei viel Variation. Im Sport ist es übrigens ähnlich, zum Beispiel beim Golf das Yips. Es ist immer die Paarung viel Ehrgeiz mit viel Wiederholung.

Das heißt nicht prinzipiell, dass man keine Wiederholung zu lange machen sollte. Es muss allerdings differenziert werden. Im absoluten Top-Bereich ist Wiederholung und Ehrgeiz zudem etwas ganz anderes als beim Anfänger. Wenn ein Anfänger wiederholt, dann habe ich da immer noch genügend Variation drin. Deswegen lernen sie auch noch bei Wiederholung.

Allerdings je länger sie in unserem klassischen Schulsystem, im Ausbildungssystem etc. drin sind, desto weniger Varianz sieht man bei den Wiederholungen. Dies ist unter anderem auch der Grund warum es älteren Menschen schwerer fällt, Neues zu lernen. Sie glauben immer noch, die gleichen Methoden wie in der Schule anwenden zu müssen, weil es dort ja auch funktioniert hat. Der Unterschied war nur, dass in dieser Zeit viel Variation im Leben war und stets Neues erfahren wurde. Im Alter sind die Bedingungen anders und deshalb funktionieren auch Methoden aus früheren Jahren nicht mehr. Es geht einfach darum, genügend Variation weiter im Gesamtsystem zu halten.

(Warum) ist Differenzielles Lernen universell übertragbar?

Wir haben vorhin schon in Ihrer Biografie die Sportarten aufgezählt, die Sie selbst aktiv gemacht haben, aber auch die Sportarten, die inzwischen differenzielles Lernen anwenden. Jetzt kann man ja weder von der Musik noch im Sport von dem Sport reden. Wieso lässt sich das differenzielle Lernen trotzdem auf so viele Disziplinen anwenden?

Wir haben 2014 mit Stefan Albrecht (Querflöte) eine Studie gemacht. Wir luden die besten Flötisten aus dem Rhein-Main-Gebiet hier ein und ließen sie im Labor Mozarts zweites Konzert für Querflöte spielen. Alle Finger- und Körperbewegungen wurden mit Kameras und einer Kraftmessplatte aufgenommen.

Und obwohl die alle genau das gleiche Stück spielten (sie mussten es fünfmal an einem Tag spielen und kamen an drei Tagen hintereinander) konnten wir anhand jeder Fingerbewegung erkennen wer spielt. Wir konnten anhand der Körperbewegung erkennen wer spielt und das, ohne dass wir irgendeinen Ton aufgenommen hätten. Ich hätte es auch vom Ton her sagen können wer spielt. Allerdings konnten wir nicht die Tage voneinander unterscheiden. Das heißt, da war dann eine Überlappung.

Inzwischen haben wir Verfahren über unsere Deep Learning Netzen, mit denen wir auch die Tage unterscheiden können. Das heißt, wir sehen eigentlich, dass unser System selbst sich ständig verändert. Und das ist genau das, warum Wiederholungen nur wenig bringen. Sie helfen uns allerdings in Bezug auf psychische Sicherheit. Sie geben mir das Gefühl von Kontrolle. Und deswegen gibt es Personen, die das brauchen. Und diese Phänomene treten nicht nur im Sport oder der Musik auf, sondern scheinen grundlegend.

Warum das Differenzielle Lernen auf alle Bereiche zu übertragen ist, liegt wohl daran, dass hier physikalische Theorien gepaart  mit neurophysiologischen Grundlagen zugrunde liegen, und keine weitere Meisterlehre. Also sprich, jedes System, was noch am Leben ist, zeigt diese Phänomene, wie z.B. Schwankungen, Stabilitäten, Instabilitäten, Phasenübergänge etc. Und solange das System Schwankungen hat, am Leben ist, sind diese Theorien anwendbar.

Anwendungsbeispiele des Differenziellen Lernens in der Musik

Wenn ich jetzt ein Trompeter bin, dann weiß ich, dass die Finger niemals identisch auf die Ventile kommen. Die Lippenbewegung, Atmung, Stütze ist nicht immer gleich. Und vor allen Dingen sind sie in Kombination nicht immer identisch: Welchen Gedanken habe ich da gerade mit drin? Wie ist meine Stimmung? Wie ist mein Ernährungszustand?

Das heißt, die ständigen Variationen, die dort hinzukommen, die ignorieren wir bislang einfach. Wir denken, wir spielen Trompete, weil da vorne Noten sind. Nein, der Teufel steckt im Detail. Allerdings kann ich das im Prinzip nutzen, um die Variation aufrechtzuerhalten.

Das heißt, ich kann mal mit gebeugten Fingern, ich kann mit gestreckten Fingern spielen, ich kann mit hohem Ellbogen spielen, ich kann mit Ellbogen unter der Trompete spielen, ich kann mit Rücklage spielen, ich kann mit Vorlage spielen, ich kann das Spiel in Seitlage machen, ich kann den Nacken stärker beugen, ich kann in Überstreckung gehen Es gibt verdammt viele Möglichkeiten, wo man variieren kann.

Das heißt aber, Sie beschränken ganz bewusst die Differenzen, also die Variationen, auf dem Bewegungsapparat?

Nein, nicht nur auf die Bewegung. Das hat Professor Martin Widmaier mal wunderschön am Flügel des Peter-Cornelius-Konservatoriums in Mainz vorgeführt.

Er hatte zwei Flügel nebeneinander aufgestellt und Musikschulkinder Stücke im Vorbeigehen, nicht am Sitzen, spielen lassen. Die Spielaufforderungen variierten: Spiel doch mal wie Hagelkörner. Jetzt spiel doch mal wie Schneeflocken. Oder wie in einem Liebeslied. Und jetzt mal arrogant-aggressiv. Also Emotionen ausdrücken in der Musik ist ein ganz großer Bereich von Variation. Für die Bläser kommt noch hinzu, dass ich in kürzeren Rhythmen atmen kann, abwechselnd zwischen Bauch und Brustatmung, durch die Nase oder den Mund einatmen, und beliebige Kombinationen davon, oder ich könnte laut und langsam oder schnell und leise spielen, die hohen Töne leise, die tiefen Töne Laut und umgekehrt. Wenn man das noch mit den Bewegungen kombiniert, dann sieht man schnell die große Anzahl an Möglichkeiten. Wenn man dann noch an die Stücke rangeht und nur jeden zweiten Takt spielt, das Stück rückwärts spielt, in verschiedenen Rhythmen, dann öffnet sich noch ein ganz anderes Feld. Was häufig erst spät gemacht wird, könnte man schon am Anfang machen, die Stücke z.B. in verschiedenen Stilen spielen, Bach’s Tocatta im Blues-stil, oder Satchmo’s What a wonderful day klassisch interpretieren. Vieles davon wird vereinzelt schon angewandt, aber leider noch nicht systematisch und nicht bei allen in die Grundschule eingebaut. Herr Albrecht zum Beispiel lässt seine Flötenschüler von Beginn an auch Flageolett (Spielen mit Obertönen) mit Erfolg spielen, das klassisch erst spät wenn überhaupt eingeführt wird.

Ist ein variantenreiches Üben und Differenzielles Lernen im weitesten Sinne das Gleiche?

Ja. Wir hatten das Wort differenziell eigentlich nur aus dem Grund gewählt, weil es im Sport eine sogenannte Variability of Practice Theorie gab. Diese ging davon aus, dass wir sogenannte invariante Elemente haben. Die Invarianten, die kann man kombinieren mit variablen Parametern, damit die Invariante stabiler wird. Das wäre dann zum Beispiel Gehen mit langem Schritt, mit kurzem Schritt, schnell oder langsam – aber ich darf nicht meinen Stil verändern. Ich darf nicht federn oder schleichen gehen. Der Rhythmus muss jedoch drin bleiben. Wie sich mittlerweile allerdings rausstellte, ist die Theorie nur für kleinmotorische Bewegungen gedacht.

Und weil dort das Variable schon quasi benutzt war, haben wir nach einem Alternativbegriff geguckt. Und eigentlich ist es auch der Kern von allen anderen Lernansätzen: auch dort gilt: Wir lernen nur aus den Differenzen.

Umgangssprachlich würde ich variabel sagen. Allerdings nicht variabel im Sinne von „geblockt“ (10x Variante A, dann 10x Variante B) – sondern es geht auch darum, dass wir jede Bewegung oder jeden Ton anders machen. Ich kann dann im Übrigen auch, was viele Musikerinnen und Musiker machen, ein Musikstück erstmal nur mit punktierten Achtel durchspielen oder das Stück mal schnell, mal in Lento oder mal in Adagio.

Ich würde sagen, wenn am Anfang die Technik das Problem ist, dann fange ich an dort zu variieren. Wenn es dann um Ausdruck des Musikstücks geht, dann geht es mehr um Emotionen zu variieren.

„Wenn wir das Gehirn in diesen Alpha-Theta-Zustand kriegen, dann lernen wir optimal. Genau dafür ist Bewegung ideal und es muss nicht unbedingt Ausdauersport sein, sondern jede Form von Bewegung, allerdings Ganzkörperbewegungen. Fingerbewegungen alleine scheinen nicht zu genügen“

Prof. Dr. Wolgang Schöllhorn

Differenzielles Lernen im Vergleich zur O.P.T.I.M.A.L Theorie

Ich habe die ganze Zeit die Differenzielle Theorie oder das Differenzielle Lernen sogar ein bisschen weiter aufgefasst. Sie hatten es vorher schon angesprochen, dass Sie das Lernen ja auch in dieser zeitlichen Komponente sehen. Also nicht nur in der zeitlichen Komponente im Laufe des Lebens, sondern auch in der zeitlichen Komponente innerhalb des Tages (wir sind morgens anders aufnahmefähig als abends). Vielleicht kennen Sie aus der Musik Susan Williams?

Nein.

Susan Williams ist eine Barocktrompeterin, aus Holland, die in Bremen lehrt. Sie hat die O.P.T.I.M.A.L Theorie von Gabriele Wulf versucht auf die Musik zu adaptieren. Sie geht auch über das variantenreiche Üben hinaus und sagt, dass Lernen dann gut funktioniert, wenn man intrinsisch motiviert ist. Die beiden Theorien sind aber nicht so verknüpft, wie man auf den ersten Blick wahrscheinlich denken würde?

Wir sind gerade daran eine indirekte Verknüpfung herzustellen. Diese ist, dass man in beiden Fällen versucht, einen optimalen, jetzt ohne Akronym, einen optimalen Gehirnzustand zu erzeugen, der Lernen optimiert.

Ich bin allerdings ein bisschen skeptisch, weil gerade vor einem Jahr kam eine Meta-Analyse zum External Focus raus, die Bestandteil von der OPTIMAL-Theorie ist und die zeigt eigentlich, dass es keine systematischen Effekte gibt.

Und das ist auch das, was wir in Verbindung mit einem anderen System, Action-Type-System von Bertrand Theraulaz und Ralph Hipolite, feststellen.

Für manche Menschen, und deswegen bin ich immer mehr auf individuelle Geschichten aus, ist es förderlich, wenn sie extern fokussieren. Für andere ist es besser, wenn sie intern fokussieren.

Was heißt extern und intern in diesem Zusammenhang?

External Focus bedeutet sich auf einen Punkt, der außerhalb meines Körpers liegt, zu fokussieren. Intern entsprechend ein Punkt in meinem Körper. Da wird häufig, in meinen Augen, in der Wissenschaft viel kaputt gemacht, indem man Mittelwerte nimmt und dann ist es gerade Zufall, welche Art von Stichproben man hat.

Und was das O.P.T.I.M.A.L. Theorie betrifft, da sind noch zwei andere Sachen integriert worden, bei denen es um Motivation geht. Aber das sind sehr stark psychologische Elemente. Ich würde es gerne mal zusammen untersuchen.

Zum optimalen Lernen sehen wir, dass ein bestimmter Gehirnzustand notwendig ist. Und um diesen herstellen zu können, muss ich sehr individuell rangehen. Deswegen habe ich Schwierigkeiten mit an Mittelwerten orientierte Theorien generell (auch der O.P.T.I.M.A.L Theorie), die sagen, dass sie für alle gleich sind.

Für mich ist das ein ganz wichtiger Bestandteil der Differenziellen Theorie. Sie sagt nicht, dass das für alle gleich ist, sondern differenziell. Da ist noch ein ganz wichtiger Aspekt im differenziellen Lernen mit drin, nämlich die stochastische Resonanz. Wo ich die Differenzen anlege, muss ich meinem Lernenden gegenüber anpassen. Also wenn ich weiß, dass jemand abends müde ist, dann muss ich das anders machen, als wenn jemand gerade wach mit drei Tassen Kaffee ist.

Allerdings das ist ein großes Forschungsgebiet. Gemeinsam mit meinem Mitarbeiter Dr. Horst entwickeln wir daher gerade ein quantitatives Analyseverfahren zur Mustererkennung.

Mit Differenziellem Lernen setze ich die Grenzen weiter, damit ich eine höhere Chance habe zu interpolieren. Weil, wenn ich zu eng übe und dann kommt etwas außerhalb, dann muss ich extrapolieren und darin ist unser System nicht gut.

Jetzt könnte man ganz polemisch fragen, wenn das Differenzielle Lernen so überlegen ist, warum machen das nicht eigentlich alle so?

Die Frage höre ich öfters, vor allem am Anfang. Das ist immer so, wenn neue Sachen kommen. Zuerst wird es am Anfang bekämpft, dann wird es belächelt und am Schluss wussten es alle schon. Es ist und war schon immer schwierig, bestehende Lebensphilosophien und Überzeugungen zu ändern.

Und ja, unter dem Deckmantel des Lernens ist es leider so, dass in erster Linie Gehorsam beigebracht wurde.

Im Sport kommt hinzu, dass es schon viele anwenden, es aber aufgrund des Wettkampfcharakters und der Konkurrenzsituation nicht kundtun. Selbst ich erfahre es dann oft erst 10-15 Jahre danach, dass der Erfolg auf Differenzielles Lernen zurück ging.

An diesem Punkt waren wir schon ein paar Mal im Podcast: am Ende läuft es eigentlich immer darauf hinaus, dass man bestmöglich lernt oder weiterkommt, wenn man sich selbst sehr gut kennt und ein sehr genaues Bild von sich selber hat.

Allerdings wird wahrscheinlich gerade diese Fähigkeit zu wenig in Schul- und Musikausbildung kultiviert. Von daher wäre es ja eigentlich wünschenswert, wenn das eine Qualität wäre, die man den Leuten vermittelt oder?

Also jetzt wird es richtig philosophisch. Das ist eigentlich genau das, auch was schon über dem Orakel von Delphi stand und von vielen Philosophen wiederholt wurde: erkenne dich selbst.

Jetzt bin ich schon ein bisschen älter und ein bisschen mehr in der Welt rumgekommen, aber meine Beobachtung ist wirklich, alles, was wir machen, dient eigentlich nur dazu, uns selbst kennenzulernen und dann eventuell mal über den Sinn unseres Daseins nachzudenken.

Und jetzt komme ich ja von der Oboe und aus verschiedenen Sportarten mit Physik und Philosophiehintergrund und man wird eigentlich in allen Gebieten immer nur mit Problemen konfrontiert. Entweder stellt man sich ihnen und löst sie oder man läuft immer weiter in die kleinen Probleme rein und endet dann in Krankheiten. Das war auch einer meiner beeindruckendsten Sätze, die ich in einer Vorlesung in Physik von Carl Friedrich von Weizsäcker gehört hatte: „Warum muss der Mensch immer erst physisch erkranken, damit er psychisch gesunden kann.“

Ein anderer Spruch war für mich immer: das Schicksal hat so gewisse Winks und wenn man den Wink nicht versteht, dann kommt er das nächste Mal halt als Zaunpfahl daher. Ein anderer Spruch in eine ähnliche Richtung, der aus dem Indischen kommt: wenn du Gott zum Lachen bringen willst, dann mache einen Plan.

Das haben wir in Indien in unserer Ausbildung ständig gehört. Und es ist inzwischen auch klar, dass Pläne im überwiegend Frontallappen produziert werden. Deswegen steht es auch schon in der Bibel drin, dass wir zu Kindern werden müssen, um in das Reich Gottes zu gelangen. Und damit ist nicht gemeint kindisch zu sein. Sondern es geht darum, nicht zu planen, im Moment zu sein und nicht zu urteilen. Aus diesem Grund lernen auch Kinder so schnell.

Kinder bis zum fünften Lebensjahr zeigen im Gehirn nur die niedrigen Frequenzen, die theta und alpha). Die hohen Frequenzen, Beta und gamma kennt das kindliche Gehirn nicht. Die niedrigen Frequenzen sind aber genau diejenigen, die wir brauchen, um zu lernen. Und dies versuchen wir seit längerem für andere Bereiche zu nutzen, indem wir die niedrigen Frequenzen provozieren: Erwachsene wieder in den Gehirnzustand zu bringen, damit optimales Lernen stattfindet. Wenn wir das Gehirn in diesen Alpha-Theta-Zustand kriegen, dann lernen wir optimal. Genau dafür ist Bewegung ideal und es muss nicht unbedingt Ausdauersport sein, sondern jede Form von Bewegung, allerdings Ganzkörperbewegungen. Fingerbewegungen alleine scheinen nicht zu genügen. .

„Das Ziel ist nur, die Hindernisse und die Blockaden, die euch antrainiert wurden wegzukriegen.“

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn

Wie viel Variation ist zu viel?

Ich würde gerne zum Abschluss noch einmal rauszoomen, um den Leuten ein paar Handwerkszeuge mitgeben, wie sie beim Selbstbeobachten schauen können, in welche Richtung das Differenzielle Lernen bei Ihnen geht. Sie hatten das Wie in der Musik bereits etwas skizziert. Ich versuche mal zwei weitere Ebenen anzuschließen:

Die erste, die zeitliche, die hatten wir vorher schon ganz kurz umrissen. Ich habe hier nochmal einen anderen Blickwinkel drauf, den ich Ihnen gerne vorstellen würde, nämlich das Credo des „Viel hilft viel“.

Wahrscheinlich ist es nicht schlau, den ganzen Tag differenziell zu üben, denn so ein gewisses Maß an Wiederholung ist ja auch schon sinnvoll. Sie hatten das eben mit diesem psychologischen Aspekt umrissen. Ich weiß, Herr Widmaier hat das in so einem schönen Rechteck beschrieben, wo es um Konstanz und Varianz geht.

Können Sie beschreiben, inwiefern das differenzielle Lernen in so einem Alltag ausmachen kann, um nicht in einen Überforderungszustand zu geraten?

Das waren gleich mehrere Fragen. Der erste ist, Sie wollen jetzt, dass ich mich selbst ins Knie schieße. (lacht)

Hoffentlich nicht.

Das klingt so ein bisschen nach der Frage nach einem Rezept. Und das widerspricht ja eigentlich der Theorie des Differenziellen Lernens. Es war auch ein Ansatz gleich von Anfang an, dass ich gar nicht so viel publizieren wollte, weil ich erstmal die Leserschaft dazu anregen wollte, wieder mehr zu experimentieren. Und nicht nur irgendwas blind zu übernehmen, was in irgendwelchen Büchern steht.

Und da war auch ein schöner Spruch von mir, den ich übernommen habe von Schopenhauer: „Wer viel liest, lernt nur mit anderen Köpfen zu denken.“ Also denk bitte erst selbst nach, bevor du liest. Und nur, wenn es gar nicht mehr geht, dann schaue nach etwas anderem. Einige haben dies dann missbraucht und das Differenzielle Lernen irgendwie völlig schief interpretiert. Das war der Grund, warum wir dann anfingen, wieder etwas zu veröffentlichen.

Also prinzipiell: ich weiß es nicht, wie viel Variation notwendig ist. Allerdings besagt ein Teil der Theorie, dass man die beobachtenden Schwankungen langsam anfangen soll.

Weniger ist mehr

Und eigentlich war schon ein Ansatz des differenziellen Lernens, dass man nicht die gleiche Menge variabel trainiert, sondern dass man den Umfang des Übens massiv reduzieren kann. Und das sehen wir inzwischen auch bei Studien im Sport: Probanden wurden über zwei Monaten zu zwei Stunden mehr Schlaf gezwungen. Die Vergleichsgruppe trainierte in diesen zwei Stunden. Sie können sich vorstellen, was rauskam? Diejenigen mit mehr Schlaf haben die Leistungsfortschritte gemacht und nicht die, die trainiert haben in der Zeit.

Und das wissen wir auch aus anderen Studien. Kinder, die in der Grundschule täglich eine Stunde Sport hatten, zulasten von Deutsch, Mathe etc., sind in Mathe und Deutsch besser geworden als die anderen, die keinen täglichen Sport hatten.

Jetzt kam ich halt auch aus dem Mehrkampf, wo es ganz wichtig war zu ökonomisieren. Ich kann nicht jeden Tag einen Zehnkampf machen. Wenn ich eine Variation zum richtigen Zeitpunkt bringe, dann muss ich gar nicht mehr so viel üben.

Und das ist genau, was kleine Kinder schon spüren. Wenn es zu viel wird, schlafen sie wieder. Deswegen schlafen Kinder so viel – bis zu 16 Stunden. Das ist die Basis des Lernens. Es ist nicht das Aktive. Nein, sehr häufig ist das blinder Aktionismus.

Auswirkung von Mittagsschlaf auf den Lerneffekt

Und das zeigen auch andere Studien. Mittagsschlaf, wenig populär in Deutschland, hat große, positive Auswirkungen für anschließende Dinge.

Und was man sogar inzwischen beobachtet hat: Wir untersuchen das gerade parallel in einer großen mediterranen Ernährungsstudie von meinem Kollegen Dr. Ammar. Eine der Ursprünge der mediterranen Ernährung kam aus Kreta. Viel Olivenöl etc. Jetzt hat man das Ganze wiederholt und hat aber drauf geachtet, wer denn einen Mittagsschlaf macht. Und wenn man den rausnimmt, dann gibt es keine Vorteile mehr. Das heißt, die ganzen Effekte gingen auf den Mittagsschlaf zurück.

Also, noch mal ganz zurück zum Differenziellen Lernen. Ich würde sagen, wer es ausprobiert, soll wirklich mal eine gewisse Zeit lang probieren, soll experimentieren. Mal gucken, wie der Körper darauf reagiert.

Es ist ein großes Problem, dass wir so lange Zeit eingetrichtert bekommen haben, dass man unter 10.000 Wiederholung nicht auf die Landesmeisterschaften kommt; unter 2 Millionen Wiederholungen nicht zu Olympia. Das kenne ich aus der Musik auch: du musst 10 Stunden üben am Tag. Ich bezweifle das. Also ich glaube, wenn man es entsprechend variabel gestaltet, dass mindestens kleine Effekte rauskommen.

Oder, was wir eingangs schon besprochen haben, einfach mal andere Möbel drumherum probieren oder nur auf unebenem Grund mal zu trainieren. Da sehen wir schon Rieseneffekte in Bezug auf unsere Konzentration. Also für mich gilt es eigentlich, die Kleinigkeiten zu finden, die dann Riesenauswirkungen haben.

Diese Schlafstudie gibt es auch in der Musik von Eckart Altenmüller, wenn mich nicht alles täuscht.

Ja, würde ich ihm zutrauen. Er war auch bei unserem ersten Treffen vor zirka 15 Jahren dem Differentiellen Lernen gegenüber sehr aufgeschlossen.

Die Rolle des Lehrers im Differenziellen Lernen

Wie verändert sich denn die Rolle des Lehrers im Differenziellen Lernen? Denn der Fehler im klassischen Sinn, die gibt es ja nicht mehr. Das sind alles Schwankungen, bzw. Sie sagen Rauschen dazu. Aber wie geht man damit um als Pädagoge?

Das ist schwer, wenn man aus der alten Schule kommt.

Als Trainer bin ich nicht nur für die Ausführung des Sports zuständig, sondern für die Persönlichkeitsentwicklung. Bei mir in der Gruppe mit 20 Athleten war immer auch Austausch darüber, wie es in der Schule und privat läuft. Und die Persönlichkeitsentwicklung schließt für mich ein, auch im Sport zu lernen Verantwortung zu übernehmen.

Am Anfang gab ich viele Instruktionen, um ihnen auch klarzumachen, dass etwas anderes möglich ist. Sie kamen ja alle aus der klassischen Schule. Ich habe ihnen dann oft eine Variante gezeigt und sie aufgefordert selbst drei weitere Varianten zu entwickeln. So wurde es interaktiv. Das ist ein bekannter Lehrstil in der Pädagogik.

Ich endete oft in meinen Vorträgen mit der Frage, was die Take-Home-Message sei. Die Antwort darauf: Nichts, weil ihr wusstet alles schon.

Das Ziel ist nur, die Hindernisse und die Blockaden, die euch antrainiert wurden wegzukriegen. Das Verhalten, was ihr zeigt, war gut gewesen um als Kinder zu „überleben“. Aber jetzt erkennt es und fangt an daran zu arbeiten, um davon wegzukommen.

Outro

Ich hätte, ähnlich wie am Anfang, zwei Fragen für den Abschluss: Was lernen oder üben Sie gerade, was Sie noch nicht so gut können?

Ich bin am Lernen von Spanisch. Ich bin am überlegen, ob ich Kajakfahren noch lerne.

Ich probiere ständig neue Koordinationsübungen aus und bin jetzt aber gerade dran, den Einfluss von Erd-Magnetfeldern auf unser Gehirn mir anzugucken. Es zeigt sich, dass das einen wesentlich größeren Einfluss hat, als wir glauben, weil wir keine Sensoren dafür haben, die Efffekte sind aber vorhanden. Zudem stellt es unmittelbar die Verbindung zur Astrologie her. Da steckt verdammt viel Wissen drin, was einfach aus Ignoranz und Arroganz quasi unter den Tisch fällt. Also man kann da viel davon lernen.

Ja, das ist ein sehr spannender Punkt, den ich auch schon in der Vorbereitung gehört habe. Also wenn es da was Neues gibt, dann bin ich sehr neugierig.

Und wenn Sie jetzt in Ihre eigene Studierendenzeit zurückblicken, hätten Sie einen Tipp für jüngeres Ich aus heutiger Perspektive, um den Sie damals froh gewesen wären?

Nein, das ist vorbei. Es widerspricht auch dem „Im Moment sein“. Ich habe immer mein Bestes probiert, mehr ging nicht. Also was soll ich da ändern? Studien zeigen auch, dass man fast nur Dinge bereut, die man nicht gemacht hat. Ich habe viel ausprobiert.

Und dann jemandem Empfehlung zu geben? Nein, das mache ich nicht. Ich kann erzählen, was ich mache und gemacht habe, und dann kann jeder für sich entscheiden, ob er es nimmt oder nicht.

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Mentale Gesundheit in der Musik https://what-is-practice.de/mentale-gesundheit-in-der-musik/ https://what-is-practice.de/mentale-gesundheit-in-der-musik/#respond Mon, 03 Jun 2024 08:53:44 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6524 Dr. Daniel Scholz ist Professor für Musizierendengesundheit an der Hochschule in Lübeck. Als Neurowissenschaftler, Diplom-Psychologe, Verhaltenstherapeut studierte er zudem auch Jazz Komposition und arbeitet weiter als Musiker. Die Besonderheit seiner Stelle: ganz explizit fokussiert er sich auch auf die mentale Gesundheit von Musikerinnen und Musikern. Ich habe mit ihm über konkrete Techniken zur Prävention von… Weiterlesen »Mentale Gesundheit in der Musik

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Dr. Daniel Scholz ist Professor für Musizierendengesundheit an der Hochschule in Lübeck. Als Neurowissenschaftler, Diplom-Psychologe, Verhaltenstherapeut studierte er zudem auch Jazz Komposition und arbeitet weiter als Musiker. Die Besonderheit seiner Stelle: ganz explizit fokussiert er sich auch auf die mentale Gesundheit von Musikerinnen und Musikern.

Ich habe mit ihm über konkrete Techniken zur Prävention von mentalen Problemen in unserem Beruf gesprochen. Natürlich durften Methoden zum Umgang mit Auftrittsangst und Lampenfieber ebenso wenig fehlen wie Tools zur Selbstorganisation.

Dr. Daniel Scholz - Professor für Musizierendengesundheit
Prof. Dr. Daniel Sebastian Scholz (Foto: © Laura Hinz)

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Das Interview

Inhalt

Dass ich mit einem Interviewpartner mich zweimal treffe, ist tatsächlich jetzt in knapp 30 Folgen eine Premiere für mich. Entsprechend bin ich ein bisschen nervös.

Als ich im Vorfeld drüber nachgedacht habe, kam mir der Vergleich in den Sinn, dass unsere Situation jetzt ja so ähnlich ist, wie eine Auftrittssituation beziehungsweise eine „Minitour“ mit zwei Terminen. Wir haben uns für den ersten Termin vorbereitet. Es kam, zumindest für mich, zu einem guten Ergebnis und ich war sehr zufrieden. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an den Termin heute. Was wäre denn ein Tipp, den Sie mir mitgeben könnten, damit ich aus unserem Gespräch auf jeden Fall zufrieden rausgehe und nicht enttäuscht wäre, dass die erste Version aus technischen Gründen doch nicht funktioniert hat?

Da gibt es zwei Aspekte: Zum einen müssen Sie drüber nachdenken: Wie häufig müssen Sie ein Programm spielen, damit das wirklich gut wird? Sind zwei Termine ausreichend?  Die Antwort wäre wahrscheinlich nein. Sie müssten das auf jeden Fall, ich würde sagen, fünf bis zehn Mal spielen, bis so ein Programm wirklich gut wird.

Das ist auch etwas, woran zum Beispiel die Musikhochschulen total kranken. Wir haben ein Programm, erarbeitet und spielen das vielleicht ein- bis zweimal live. Es kann dann noch gar nicht gut sein, weil die Fallen und die Situationen, wenn es tatsächlich live ist, verändern sich. Sie fliegen im Zweifelsfall an anderen Stellen raus, als in der Vorführung davor und in ganz anderen Stellen, als zum Beispiel im Proberaum.

Und dann würde ich einen Baustein aus der Acceptance and Commitment Therapy empfehlen. Also man muss das akzeptieren, was man nicht ändern kann und deshalb einfach hinnehmen und sich dessen bewusstwerden. Jede Aufnahme und jeder Auftritt ist immer nur eine Momentaufnahme. Das ist das, was in diesem Moment möglich war.

Wenn man so möchte, haben wir da jetzt schon so eine kleine Lektion in „Resilienz“ erfahren. Sie hatten beim letzten Mal das schöne Zitat von Eckert Altenmüller erwähnt: „Im intergalaktischen Zusammenhang ist unser Fauxpas eigentlich bedeutungslos“. Von daher würde ich sagen, starten wir direkt rein und fangen noch mal mit unseren „Entweder-oder-Fragen“ an.       

Entweder-Oder-Fragen

Jimmy Hendrix oder Francisco Tarrega?

Schwierig. Francisco Tarrega war die erste Prägung an der klassischen Gitarre. Später hat auf auf jeden Fall Jimmy Hendrix übernommen. Ich habe hier sogar im Büro eine Jimmy Hendrix-esk bemalte Gitarre stehen, auf die besagte Eckart Altenmüller auch immer in Auge geworfen hat.

Ab 15, 16 Jahren hat Jimi Hendrix von Francisco Tarrega übernommen. Aber ich muss natürlich sagen, Tarrega ist im Zweifelsfall der Urvater.

Selten und viel oder immer und wenig?

Immer und wenig.

Wie wichtig würden Sie sagen, sind freie Tage für Musiker:innen in der Woche? Es ja typisch, vor allem in der Freiberuflichkeit irgendwann, dass man sich diesen berühmten freien Samstag/freien Sonntag nur ganz selten gönnt oder auch nur gönnen kann, weil Konzerte anstehen.

Extrem wichtig. Ich versuche das auch, allen Studierenden einzubläuen, dass sie ihr Zeitmanagement so hinkriegen müssen, dass es einen freien Tag gibt. Das muss ja nicht Samstag oder Sonntag sein. Es kann auch unter der Woche sein, so wie der Friseur z.B. den frei macht. Es muss auf jeden Fall ein Ausgleich und ein gewisser Abstand zum Instrument geschaffen werden. Das ist ein extrem wichtiger Baustein für Konsolidierung, also Verfestigung von Gedächtnisspuren.

Social Media oder Social Media Detox?

Lieber Social Media Detox.

Sie sind ja selber auch gar nicht aktiv auf Social Media. Wie beobachten Sie den Einfluss von Social Media insgesamt auf Studierende? Als Musikschaffender ist man in dieser besonderen Situation, dass eigentlich die Mitstudierenden, die Mitmusiker, immer auch Konkurrentinnen und Konkurrenten sind. Insofern kommt man fast gar nicht mehr ohne ein aktives Social-Media-Profil, ein aktives Verkaufen aus. Trotzdem geht damit immer auch ein andauerndes Vergleichen und Bewerten einher. Was raten Sie da Studierenden, wie man damit einen gelassenen Umgang findet – gleichzeitig aber auch in dem Wissen, man muss es ja heute irgendwie auch anbieten?

Ja, ich denke auch, dass man es heute leider anbieten muss. Außer man arbeitet in so einer ganz klaren Nischenbranche, wo es noch auf Zuruf und auf direkten Kontakt mit Leuten geht. Aber auch viele Freunde von mir beziehen hauptsächlich ihre Auftritte über Social-Media-Anfragen. Also ich fürchte, man muss es machen. Und dann ist der wichtige Baustein oder der wichtige Weg, dass man sich darüber klar wird, dass das ist ein Teil des Jobs ist und nicht ein Teil des Selbst. Und das ist leider genauso. Es ist so: Als Musiker müssen Sie einen Bauchladen haben, in dem Sie unterschiedliche Fähigkeiten anbieten und da gehört eben das Selbstmanagement und die Vermarktung auch dazu. Also ich würde allen wünschen, dass sie eher ein Management oder eine Booking-Agentur oder irgendjemand haben, der sie nach außen verkauft, aber das ist den wenigsten vergönnt.

Das stimmt. Tübingen oder Lübeck?

Heutzutage lieber Lübeck.

Wir kommen schon zur letzten „Entweder oder-Frage“: Musiker, Komponist oder Professor für Musizierenden Gesundheit?

Auch heutzutage eher Professor für Musizierenden-Gesundheit, wobei ich auch immer versuche, die Musik-und die Kompositionsaktivitäten aufrechtzuerhalten. Das wechselt immer ein bisschen in der Intensität. Auf der anderen Seite ist es so, dass ich ein gutes Basiseinkommen habe und ich jetzt nur noch Musik mache, auf die ich Lust habe. Das heißt, ich kann eigentlich freier und entspannter Musik machen.

Absolut. Was sich wahrscheinlich auch sehr gut auf die mentale Gesundheit am Ende auszahlt. Sie sind seit dem Wintersemester 2022/2023 Professor für Musizierendengesundheit in Lübeck. Da gibt es erstmals deutschlandweit den Schwerpunkt, dass besonders auf die mentale Gesundheit geschaut wird. Jetzt sind seit 2022/2023 knapp vier Semester vergangen. Würden Sie sagen, dass Sie einen offeneren Umgang mit mentalen Problemen, mentaler Gesundheit allgemein im Kosmos der Hochschule Lübeck feststellen? Oder ist es dafür noch zu früh, für so eine Art Wandel?

Einen absoluten Wandel, denke ich, kann man noch nicht sehen. Dafür ist es noch zu früh. Aber insgesamt würde ich schon sagen, dass es vor allem seit Corona gesamtgesellschaftlich eine größere Offenheit gegenüber Themen der mentalen Gesundheit oder eben auch mentaler Belastung gibt. Und dann muss ich sagen, insgesamt sind die Studierenden an der Musikhochschule in Lübeck sehr offen und sehr interessiert, was mentale Gesundheitsangebote angeht.

Man kennt es aus dem Pop-Bereich eigentlich schon ein bisschen länger, dass sich immer wieder berühmte Musikerinnen und Musikern zu mentalen Problemen öffentlich bekennen dieses Enttabuisieren, was Sie auch gerade angesprochen haben, fördern. Ich habe jüngst in der Vorbereitung, ein Arte -Tracks-Format mit Franziska Lauter vom MIM-Verband entdeckt. Und natürlich ist diese Vorbildfunktion von solchen privilegierten Musikerinnen und Musikern auf gar keinen Fall hoch genug zu bewerten. Allerdings, es klang vorher schon ganz an, dass die Situation natürlich nicht eins zu eins vergleichbar ist mit einem Freelance-Musiker im klassischen oder im Jazz-Bereich. Würden Sie sagen, dass es trotzdem auch in der Klassik oder im Jazz-Bereich vermehrt Trends gibt, sich zu öffnen? Oder ist das immer noch, vor allem in Orchestern, eher weiter ein Tabuthema?

Also es ist schon noch ein Tabuthema, aber nicht mehr so, wie in den 70er Jahren. Ich denke, da hat auch die Gesamtgesellschaft einen Einfluss drauf. Wir dürfen hier auch ein Seminar anbieten zum guten Umgang mit Lampenfieber. Das war auch explizit gewünscht, als ich hier angefangen habe.

Jetzt würde ich aber auch sagen, genauso wie Sie es ja gerade schon umrissen haben, diese Situation, das heißt in der Fachwelt, celebrity musicians, die bekannt sind und eine ganz andere Infrastruktur haben, die ist nicht übertragbar auf den Großteil der Freelance Musicians. Sie führen ein ganz anderes Leben, nämlich das mit dem Bauchladen: Ich unterrichte ein bisschen, dann habe ich noch meine Auftritte, vielleicht komponiere ich noch oder vielleicht mache ich noch Marketing oder Social Media für irgendjemand. Oder ich mache, was ich ganz häufig sehe bei Musikkollegen, noch Fotografie. Oder ich mache einen Podcast.

Das heißt, Sie müssen relativ breit aufgestellt sein. Und da kommen dann natürlich andere Schwierigkeiten. Wenn ich die finanzielle Grundversorgung nicht habe, kann ich mich auch gern zu meinem mentalen Gesundheitsproblem bekennen. Aber wie soll ich das stemmen, wenn ich, sage ich mal ganz harsch, nichts zu essen habe oder die Miete nicht bezahlen kann? Also dann bin ich zurückgeworfen auf die Künstlersozialkasse und muss irgendwie gucken, dass ich da wieder rauskomme. Oder ich muss vielleicht schauen, dass ich einen anderen Job finde, der meine Miete bezahlen kann.

Warnsignale und Prävention zur mentalen Gesundheit von Musiker:innen

Lassen Sie uns gerne mal einen Schritt zurückgehen und vielleicht, bevor wir uns über das Äußern von mentalen Problemen unterhalten, noch auf typische Warnsignale und Präventionsmerkmale eingehen. Können Sie ein paar typische Warnsignale skizzieren, die sich in Bezug auf mentale Gesundheit, immer wiederholen und die man als Musikerin und Musiker im Auge haben sollte?

Das sind die typischen gesellschaftlichen Warnsignale im Psychologie-, Psychotherapie-Bereich:

Wenn Sie jetzt dauerhaft Schlafstörungen haben, wenn Sie merken, dass das Beruhigungsbier am Abend nicht bei einem, sondern eher bei fünf Bieren bleibt. Oder der Joint. Wenn Sie merken, dass Sie Ihren Schlaf-und Wachrhythmus nicht mehr hinkriegen, oder Sie haben massive Antriebsschwierigkeiten. Das heißt, Sie kommen nicht mehr aus dem Bett, Sie liegen auf der Couch, Sie schlafen ganz arg viel oder sie schlafen ganz arg wenig. Das sind so die Warnsignale, die man kennt. Panikattacken – Wenn Leute noch zu sehr starken Reaktionen neigen, mit sehr häufigen Weinen oder Davonlaufen aus Situationen oder einem Erstarren. Das sind so die üblichen Warnsignale.

Und lässt sich da vorbeugend irgendwas machen?

Zum Beispiel einen Tag frei die Woche. Im Ernst, das ist ganz arg wichtig. Und da zu gucken, wie halte ich das mit meiner Schlafhygiene? Wie viel kann ich realistischerweise üben oder an meinen Projekten arbeiten pro Tag? Schaffe ich es, irgendwie noch einen Ausgleich zu finden? Habe ich noch genug Kontakt mit Freunden, Bekannten, Verwandten? Und schaffe ich es auch noch, vielleicht Sport zu machen oder so was? Sie brauchen Ausgleich und Sie brauchen Abstand auch von dem MusikerInnen-Dasein.

Tipps zur Selbstwirksamkeit

Auf diesen Ausgleich würde ich gleich noch mal gerne ein bisschen konkreter eingehen. Ich finde, wir hatten es ja ganz am Anfang schon so leicht spaßeshalber angedeutet, dass wir so eine kleine Lektion in Resilienz hatten. Und wenn man Resilienz sagt, dann weiß eigentlich jeder seit Corona auch, dass Selbstwirksamkeit damit immer einhergeht. Und ich finde, gerade als Musiker:in ist Selbstwirksamkeit ja sehr schwierig. Neue Dinge manifestieren sich in unserem Spiel, in unserer Karriere erst sehr spät. Wenn ich heute ein neues Programm übe, heißt das ja nicht, dass ich es heute Abend auch sofort kann. Das heißt, Selbstwirksamkeit als Musiker, das Erfahren von „Ich mache was und es verbessert sich“ ist eher ein langfristiger Prozess. Wie schafft man denn es als Musiker, Musikerin, diese Selbstwirksamkeit für sich erfahrbar zu machen?

Durch ein Tracking: Was habe ich mir vorgenommen? Was habe ich davon geschafft? Dass Sie wirklich auch relativ kleinteilige Tagespläne schreiben. Und da gehören dann auch schon wirklich ganz alltägliche Sachen dazu, wie:

  • Ich wollte die Saiten auf meiner Gitarre wechseln
  • Ich wollte mich um neue Blätter kümmern oder ein neues Mundstück oder so was.

Und dass Sie zum einen wirklich etwas zum Abhaken haben und dass Sie nicht das große Ganze aus dem Blick verlieren. Musikerinnen und Musiker bringen eine extreme Frustrationstoleranz mit, sonst könnten sie nicht ihr Instrument spielen. Aber natürlich ist es häufig so, dass sie ein bisschen aus dem Blick verlieren, was sie eigentlich an dem Tag geschafft haben und, ob sie etwas geschafft haben.

Und dann, ganz wichtig, ein Ressourcentagebuch, wo sie sich aufschreiben, was Sie gut gemacht haben und was Sie gut geschafft haben. Sodass Sie an Tagen, an denen es Ihnen schlechter geht, oder an denen Sie nicht so zuversichtlich sind, Sie nachschauen können und sagen können: „Hey, ich kann bestimmte Sachen gut, oder bestimmte Leute haben was Positives zu mir gesagt oder haben gesagt, dass sie was beeindruckt.

Das heißt, Sie führen im Grunde eigentlich zwei Tagebücher, wenn man so möchte. Einen To-Do-Block, wo Sie anstehende Aufgaben aufschreiben. Das geht quasi auf das Konto Selbstwirksamkeit. Und dann haben Sie ein zweites Büchlein, das Ressourcentagebuch, wo nur positive Sachen drinstehen.

So würde ich das empfehlen. Im Ressourcentagebuch stehen nur positive Sachen drin, weil wir die sonst aus dem Auge verlieren und vergessen. Defizite bleiben uns automatisch im Gedächtnis. Deshalb brauchen Sie sie eigentlich gar nicht aufzuschreiben.

Ausgleich als Musiker:in finden

Wir den Selbstwert als Musiker angesprochen und, dass man es versuchen sollte andere Hobbys zu haben, Sport machen oder sich mit Freunden zu verabreden. Das finde ich nämlich eine interessante Beobachtung –gar nicht nur an mir, aber auch in meinem Umfeld –, dass Musikerinnen und Musiker natürlich sehr stark geneigt sind, ihren Selbstwert an musikalische Erfolge zu koppeln. Sprich: das Konzert lief gut, es geht einem gut. Es geht sogar so weit, dass wenn man einen guten Übetag hat, dass das Umfeld das feststellt und man gute Laune hat. Entsprechend aber auch andersrum. Was sind gute Techniken, um das zu trennen? Also wie schaffe ich es denn, meinen Selbstwert nicht mit meinem musikalischen Erfolg zu koppeln?

Ja, das ist eine wichtige Aufgabe und ich denke, die ist auch ganz essenziell. Es ist wichtig, dass Sie es schaffen, sich darüber klarzuwerden, dass Sie nicht ihr Instrument sind. Sie sind jetzt nicht nur ein Trompeter oder eine Trompete, sondern Sie sind Podcaster, Sie sind ein liebevoller, fürsorglicher Katzenvater und ein toller Partner und so weiter. Also dass man sich diese ganzen Sachen wirklich bewusst macht. Und da ist auch noch mal ein anderer Aspekt: Ich denke, es ist sehr wichtig für Musikerinnen und Musiker, auch Freunde zu haben, die nicht Musiker sind. Weil sonst laufen die ganze Zeit Vergleichsprozesse unterschwellig ab.

Das heißt, das müssen Sie wirklich versuchen zu trennen und zu sehen, was Sie eben noch alles andere können und, dass Sie in erster Linie mal ein Mensch sind, und nach Carl Rogers ein bedingungslos liebenswerter Mensch. Tollerweise spielen auch noch ein Instrument oder singen. Aber das ist nur eine Kirsche auf dem Sahnehäubchen und nicht das Fundament.

Und weil Sie gerade die Vergleichung mit Kollegen noch mal angesprochen hatten: ich glaube, in unserer ersten Version des Interviews hatten Sie das mit dem Begriff „Prozessorientierung“ zusammengefasst. Wenn man sich vergleicht, dann nur mit früheren Versionen von einem selbst und nicht mit anderen Kollegen und Kolleginnen, die andere Gegebenheiten und auch vielleicht andere Umstände haben, in denen sie arbeiten und wirken.

Genau, da haben Sie recht. Also weg von so einer Produktnorm – das ist das Ergebnis, das sind meine Klicks auf YouTube oder im Podcast-Format. Sondern hin zu, wie Sie sagen, dem Prozess: Wie habe ich das früher gemacht? Wie habe ich mich individuell weiterentwickelt? Und auch gar nicht unbedingt so sehr auf dieses eine Stück, sondern mehr: Was habe ich für Mechanismen gelernt? Wie kann ich mit Sachen besser umgehen? Und das kann dann auch sein, dass ich selbstfürsorglicher mit mir umgehe, dass ich es inzwischen besser schaffe, meinen freien Tag die Woche einzuhalten oder, dass ich es besser schaffe, Feierabend zu machen usw.

Zusammenhang Depression und Auftrittsangst

Ich bin in der Vorbereitung auf eine sehr spannende Studie von Ihnen gestoßen, unter anderem auch gemeinsam mit Eckert Altenmüller, wo es den Zusammenhang zwischen geringem Selbstbewusstsein, Depression und Auftrittsangst geht. Sie haben herausgefunden, dass es einen entscheidenden Zusammenhang zwischen geringem Selbstbewusstsein in Kombination mit Auftrittsangst gibt, die zu einer Depression führen kann. Auf die Gefahr hin wahrscheinlich, dass Sie die gleichen Techniken gleich wieder erzählen, aber ich finde es trotzdem sehr spannend: Wie kann man dem vorbeugen? Beziehungsweise, wenn man merkt, ich steuere vielleicht auf so was zu, oder ich bin vielleicht schon in so einer depressiven Episode, wie komme ich denn da wieder raus? Oder schafft man das überhaupt alleine wieder da rauszukommen?

Also wenn ich in einer wirklichen Depression drin bin (wenn das nicht nur eine leichte depressive Phase ist – aber das kann man natürlich nur schwer einschätzen als Nichtfachperson) dann muss ich mir professionelle Hilfe suchen. Und bis dahin: Ressourcentagebuch.

Was Christine Sickert – das ist meine Doktorandin, die diese Arbeit verfasst hat, gesehen hat – ist, dass eben der zu geringe Selbstwert in Kombination mit der Auftrittsangst zu der depressiven Phase führt. Vielleicht auch noch mal ein anderer Aspekt, dass zum Beispiel diese Auftrittsangst, nicht immer eine Auftrittsangst sein muss, sondern es kann auch „nur“ Lampenfieber sein. Also das heißt, wie man das Ganze framed, wie man das Ganze für sich bewertet ist entscheidend.

Das heißt, dieser ganze Reflexionsprozesse und auch dieses Bewusstsein „Ich bin nicht nur Musiker, sondern auch andere Dinge, das ist wahrscheinlich in unserer heutigen Zeit mitunter die wichtigste Kompetenz, die Musikerinnen und Musiker mit bringen sollte –  abseits natürlich von fachlichem Können, um ein möglichst langes, mental gesundes und auch dann auch körperlich gesundes Berufsleben führen zu können, oder?

Ja, auf jeden Fall. Und da würde ich auch noch mal ein bisschen in ein Horn stoßen, dass diese Geschichte, von wegen „Ihr müsst alles auf eine Karte setzen und „Ihr müsst nur das wollen und so weiter, sonst könnt ihr es nicht schaffen“, dass das auf jeden Fall ein altes Märchen ist, was ich überhaupt nicht befeuern wollen würde. Sondern wir haben sehr viele Facetten und Musiker, Künstlerinnen sind in der Regel sehr offen und ziemlich vielseitig und wir sollten auch in der Ausbildung gucken, dass weitergehende Interessen gefördert. Und das kann auch sein, dass sie dann nebenher noch Psychologie oder Medizin studieren.

Alles auf eine Karte setzen

Dieses Mantra, dass man im besten Fall irgendwann alles auf eine Karte setzen muss, hält sich ja trotzdem hartnäckig. Ich habe jetzt gerade lustigerweise vor ein paar Tagen auf ein Interview aus einem Podcast mit Braxton Cook gestoßen. Das ist ein Saxophonist aus den USA. Und ich verkürze das Zitat ein bisschen, aber er meinte sinngemäß, dass man an irgendeinem Punkt in seiner musikalischen Karriere mal so richtig – er hat das obsessed sogar genannt („you have to be obsessed once“) sein muss. Einfach, um diesen musikalischen Erfolg zu generieren. Das widerspricht ja eigentlich diesem: „Wenn du Bock hast, noch Psychologie zu studieren oder Medizin zu machen, go for it“.

Am Ende, das ist ja auch so ein bisschen dieses Hochstapler-Syndrom, zumindest kenne ich das, dass man als Musiker, der viele Sachen parallel macht, ganz oft auch das Gefühl hat: „Ich mache das, das und das, aber eigentlich so wirklich können, tue ich von dem nichts so wirklich. Das spricht dann wieder eher für das Mantra, dass man sich an irgendeinen Punkten in seiner Karriere für eins entscheiden sollte, oder?

Aber realistisch gesehen ist es doch so, dass 95 bis 97% der Musikstudierenden Musikhochschul-oder Musikschullehrer werden. Das heißt, sie unterrichten, spielen sie noch Gigs und vielleicht machen sie noch etwas anderes. Das heißt, auch da sind sie schon mehrgleisig unterwegs. Instrumentallehrer, wenn sie von der Musikhochschule kommen, sind völlig überqualifiziert. Also ich sage jetzt mal, wenn Sie in Hannover Konzertexamen klassisches Klavier haben und dann an der Musikschule anfangen, dann machen Sie Hänschen klein mit 5-Jährigen und 7-Jährigen. Und Sie könnten aber eigentlich Klavierkonzerte spielen, überall auf der Welt, mit renommierten Orchester. Aber es gibt leider nicht so viele Stellen für die ganzen Pianist:innen. Das heißt, da gehört viel Glück dazu. Da gehört natürlich Fähigkeit dazu, aber auch Glück. Da gehört auch eine gute Management-Fähigkeit dazu – also auch von Außenstehenden, die Sie unterstützen und die Sie in die richtigen Bahnen lenken.

Und dann habe ich noch eine Anmerkung zu „you have to be obsessed once“. Das geht ja. Sie können sagen: „Okay, nach dem Studium werde ich wahrscheinlich nie wieder so viel Zeit haben, zu üben wie jetzt“. Später muss ich dann ganz andere Sachen machen. Und dann können Sie sich im Studium extrem ausgiebig ihrem Instrument und ihren Fähigkeiten widmen. Und da finde ich z. B. Charlie Parker, auch ein sehr berühmter Saxophonist, der gesagt hat: „Ja, Du musst alles üben und können. Und dann vergiss es und spiel einfach.“ Das heißt, es ist ja durchaus der Raum dafür, „to be obsessed“ zu sein. Die Frage ist nur, über welchen Zeitraum sich das streckt. Das kann ja auch immer wieder sein. Danach ist es die Aufgabe wieder zurückzukehren und zu sagen: „Okay, dieses Daily-Business muss halt auch irgendwie weitergehen. Und ich kann nicht komplett sagen: „Es interessiert mich jetzt alles nicht mehr. Steuererklärung brauche ich auch nicht machen. Ich brauche auch nichts zurückzulegen, weil ich bin Künstler und ich kann mich nur voll und ganz meinem Instrument widmen und, um alles andere müssen sich die anderen kümmern.“

Da habe ich auch ein Problem mit dieser Geschichte von 10 Jahre, 10.000 Stunden: „Ja, klar, üb einfach zehn Jahre lang 10.000 Stunden und dann wird es schon irgendwie laufen.“ Sie absolvieren die Musikhochschule, Sie machen ihren Bachelor oder Master oder sogar Konzertexamen – das Problem ist, da wird leider niemand kommen und sagen: „Hey, ich weiß, dass du so fleißig geübt hast. Du kannst das jetzt alles spielen. Ich habe einen Job für dich.“ Sondern das sind zwei unterschiedliche Aspekte.

Also es gibt die inhaltliche und das andere ist eher so eine Management-Geschichte. Also Selbstmanagement, was wir vorhin auch schon angesprochen hatten: Social Media, Selbstvermarktung. Irgendjemand muss wissen, dass ich was sehr gut kann, sonst werde ich keine Aufträge kriegen.

Das nennt sich in der Psychologie „Believe in a Just-World“-Hypothes. Also was die Musikstudierende häufig am Anfang vor allem noch glauben, ist: „Wenn ich nur so und so viel übe, dann gibt es einen gerechten Gott und danach kriege ich irgendeinen Job, weil ich irgendwas kann.“ Und das ist die fiese Desillusionierung.

Es gibt wahnsinnige wahnsinnig viele gute Musiker:innen da draußen und die Musikhochschulen bilden eigentlich zu viele Leute aus.

Wo Sie gerade das „Believe in a Just World“ angesprochen haben, da fiel mir sofort ein Zitat von Andrea Petkovic, der Tennensspielerin, ein. Sie hat auch ein Buch geschrieben und ich glaube, es war im Zusammenhang mit dem Buch, wo sie in einem Podcast mal von einer Meritokratie gesprochen hat, also diesem „You merit something“ („Das hast du dir verdient“ in diesem Sinne). Und diese 10.000 Stunden, 10 Jahre, das ist ja diese berühmte Ericson-Studie, wenn ich das richtig im Kopf habe. Die wurde auch in Teilen inzwischen wiederlegt, habe ich zumindest gelesen, oder?

Ja, auf jeden Fall. Und da muss man natürlich auch noch sehen, wir haben einen ganz klaren Bias, was die Auswahl von den Leuten angeht, die diese Interviews geben. Also in der Regel werden die Leute interviewt, die es geschafft haben und nicht irgendein zufälliger Mensch. Und dann erstens mal reproduzieren die ganz häufig die alten Geschichten, die sie selber so gehört haben von Leuten, die es geschafft haben. Und dann ist es auch noch so, dass das natürlich für die Selbstwirksamkeit derjenigen, die es geschafft haben, was auch immer das bedeuten mag, total gut ist, zu sagen: „Ja, das liegt daran, dass ich einfach so hart gearbeitet habe.“ Das ist völlig in Ordnung.

Ich finde, es ist ganz wichtig, dass Sie ihre Erfolge auf ihr Können und ihre Fähigkeiten attribuieren. Aber natürlich: wenn Sie sagen: „Hey, ich bin jetzt Solist der Berliner Philharmoniker, aber das hätten auch einige andere werden können.“ Das ist nicht so selbstwertdienlich, wie zu sagen: „Nein, das liegt daran, dass ich so hart gearbeitet habe.“

Das ist dann ein ganz schmaler Gerade, wenn wir wieder auf unser Ressourcentagebuch von eben schauen, sich selber ehrlich zu machen und das auch genauso aufzuschreiben

Auf jeden Fall. Es ist nur so, dass ich mir bei den Interviews mit celebrity artists wünschen würde, dass sie sich dessen bewusst sind, dass sie auch einen pädagogischen Impact haben.

Natürlich finde ich es wichtig, dass selbstwertdienliche Ereignisse auf die eigene Arbeit und auf die eigene Selbstwirksamkeit attribuiert werden. Nur die Frage ist, wie man das dann weitergibt. Also, ob man den Leuten auch sagt: „Okay, ich biete dir für dich eine Attribution, die dir hilft. Nämlich zum Beispiel, dass du das Probespiel nicht gewonnen hast, liegt sicher auch daran, dass jemand anders halt mehr Glück gehabt hat oder, dass du vielleicht an dem Tag einen schlechten Tag hattest.“ anstatt zu sagen: „Ja, du hast einfach nicht hart genug gearbeitet.

Lampenfieber

Ich würde gerne noch zum Abschluss einmal auf das Thema Lampenfieber zusprechen kommen. Sie bieten ja in Lübeck an der Hochschule ein eigenes Seminar dazu an. Sind Sie denn selber manchmal noch aufgeregt vor Konzerten, Interviewsituationen, wenn Sie Vorträge halten irgendwo?

Auf jeden Fall. Also es kommt auch immer drauf an, wie ich geübt habe. Ich habe zum Beispiel vor nicht allzu langer Zeit gemerkt, dass ich einen Fachvortrag auf Englisch halten musste über unterschiedliche Themen, in denen ich zum Teil nicht mehr so drin war, weil das Tagesgeschäft gerade was anderes ist. Und früher habe ich das ganz regelmäßig gemacht und da war das überhaupt kein Problem. Und jetzt merke ich zum Beispiel: Okay, ich bin gerade in einer anderen Thematik. Ich spreche in letzter Zeit häufig auf Deutsch und dann muss ich erst mal so ein bisschen suchen und merke, da geht die Nervosität hoch, weil ich mich nicht ganz so souverän fühle.

Und das andere ist auch auf jeden Fall: Ich hatte früher schon sehr oft ausgeprägt Lampenfieber, vor allem jetzt bei Francisco Tarreger. Das war nicht ohne und ich habe da auch einen Weg hingelegt.

Ich würde auch sagen, dass ich jetzt davon nicht frei bin. Das variiert. Häufig merke ich zum Beispiel erst hinterher, dass ich doch ganz schön aufgeregt gewesen bin und dann mache ich was dagegen. Oder ich sage mir hinterher: „Ja, ist doch okay. Also es war noch im Lampenfieber-Bereich – es war noch keine Auftrittsangst.

In Ihrem Seminar wird es so umgesetzt, dass Sie mit klassischen Expositionsübungen arbeiten. Das heißt, Studierende spielen sich einfach im Seminar gegenseitig vor. Kann man daraus schließen, dass viel Vorspielen gleich irgendwann weniger Auftrittsangst, weniger Lampenfieber?

Das ist das eine. Und dann, was noch ein ganz essentieller Baustein ist, dass Sie danach positive Selbstauslagen treffen müssen. Also Sie müssen sich hinsetzen vor die versammelte Gruppe und müssen mindestens zwei positive Sachen über ihr eigenes Spiel sagen. Und das fällt denen total schwer. Das ist einfach nicht in unserer Kultur. Wir haben eine sehr defizitorientierte Kultur und Leute, die was Positives über sich selbst sagen, werden sehr schnell als arrogant und überheblich abgestempelt. Deshalb üben wir so was ganz explizit. Zwei positive Sachen über das eigene Spiel und die eigene Performance sagen.

Tipps gegen Lampenfieber als Musiker

Hätten Sie denn zum Abschluss von diesem Themenkomplex eine sehr gut nachmachbare Übung, Atemübung beispielsweise, um sich ganz konkret in der Konzertsituation vor einem Auftritt ein bisschen zu entspannen und für den Auftritt ein bisschen weniger aufgeregt zu sein?

Also könnten Sie zum Beispiel Lippenbremse machen oder atmen im Dreivvierteltakt. Es geht dann so, dass Sie einen Dreivvierteltakt einatmen und dann zwei Dreivvierteltakte lang durch den Mund aus. Dann machen Sie einen Dreivvierteltakt Pause und fangen dann wieder von vorne an. Machen Sie so viele Zyklen, bis Sie merken, das es einen Effekt auf Sie hat. Ganz wichtig ist, dass Sie das in ihre Übelroutinen einbauen, damit Sie darauf ganz automatisch zugreifen können und nicht in einer Aufregungssituation das alles über den Haufen werfen.

Outro

Was lernen oder üben Sie gerade, was Sie noch nicht so gut können? Darf gerne auch nicht musikalisch sein. Beim letzten Mal war es melodisch Moll über halbverminderte Akkorde. Ist es das weiterhin?

Ja, tatsächlich habe ich gestern Abend erst wieder geübt. Es ist sehr konkret und vielleicht ein bisschen sehr abstrakt für Leute, mit nicht-musiktheoretischem oder Jazz-Hintergrund: E-Moll7b5 als Brechung über einen G-Moll 6, also mit einer großen Sechste funktioniert. E-Moll7b5 ist austauschbar ist mit G-Moll 6.

Und welchen Tipp würden Sie aus Ihrer heutigen Perspektive gerne Ihrem jüngeren Erstsemester-Musik-oder Psychologiestudierenden-Ich mitgeben, um den Sie damals froh gewesen wären?

Ja, eine Zuversicht, so nach dem Motto: „Das wird schon.“

Am Anfang des Psychologiestudiums habe ich fast nur Musik gemacht. Also ganz viel geprobt, in der Studierenden Big Band gespielt, eigene Bands weiterentwickelt. Wir haben dann auch ein Plattenlabel gegründet und so. Und ich habe irgendwie nicht gesehen, wo das mit der Psychologie hingehen soll und ich war auch kein besonders guter Psychologiestudent. Heutzutage bin ich extrem froh, dass ich das fertig gemacht habe. Ich konnte dann auch ganz anders an das Musikstudium rangehen und denken, das ist eigentlich meine größte Leistung, dass ich gegen so viel Widerstand das Psychologiestudium fertig gemacht habe und auch erfolgreich abgeschlossen habe.

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Wie übt man effektiv, Benny Greb? https://what-is-practice.de/effektiv-ueben-benny-greb/ https://what-is-practice.de/effektiv-ueben-benny-greb/#respond Mon, 29 Apr 2024 07:37:58 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6504 Benny Greb gehört sicher zu den renommiertesten Drummern weltweit. Ob als Sideman - von zum Beispiel Mark Forster und Thomas D. Auch als Experte für Schlagzeug-Technik und Effektives Üben hat er sich inzwischen einen Namen gemacht. Genau darüber habe ich mit ihm gesprochen.

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Effektiv Üben – Tipps & Methoden

Benny Greb gehört sicher zu den renommiertesten Drummern weltweit. Ob als Sideman – von zum Beispiel Mark Forster und Thomas D. oder mit seinen eigenen Projekten ist er ein gern gesehener Gast auf Bühnen und Festivals rund um den Globus. Gerade bereitet er sich wieder auf Konzerte mit der Buddy Rich Bigband in London vor. 

Auch als Experte für Schlagzeug-Technik und Effektives Üben hat er sich inzwischen einen Namen gemacht. Genau darüber habe ich mit ihm gesprochen. Wir haben wichtige Voraussetzungen für gutes Üben diskutiert und Benny hat Tools und Methoden verraten, wie er an den Drums arbeitet. Die Inhalte sind aber natürlich auf allen Instrumenten anwendbar – also keine Angst, liebe Nicht-Schlagzeuger!

Mehr Infos über Benny Greb

Benny Greb (Foto © Gerhard Kühne)

Literatur Tipps

Effective Practicing for Musicians

Benny Buch gibt einen umfassenden Blick in das Thema „effektiv Üben“. Dabei lässt er so gut wie keine Frage unbeantwortet. Ob von der Gestaltung eurer Übe-Umgebung bis hin zur Erstellung eines 3-Monats Übe-Plan werdet ihr in diesem Buch viele spannende Aspekte entdecken. Sowohl als Profi als auch als Laie ein wichtiges Buch, um beim Üben wertvolle Zeit zu sparen und effektiv arbeiten zu können. Natürlich richtet sich das Buch an alle Instrumentalist:innen und nicht nur an Schlagzeuger:innen.

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Benny Greb lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview mit Benny Greb

Inhalt

Die erste Frage, mit der es immer losgeht, lautet: Vervollständige folgenden Satz. Üben heißt für dich?

Üben heißt für mich, meinen Output anzugucken, zu bewerten und anschließend Veränderungen vorzunehmen. Hoffentlich basierend auf meiner Realisation, was da so passiert ist und dann diese Kurskorrektur hoffentlich in meinem Spiel und in zukünftigen Sessions zu manifestieren.

Es wird oft gesagt, dass Fortschritt von viel Erfahrung kommt. Das ist meiner Ansicht nach ein Irrglaube. Er kommt von vielen Realisationen und von vielen Kurskorrekturen.

Das waren jetzt sehr viele interessante Aspekte, die wir im Laufe des Gesprächs nochmal tiefer besprechen werden. Gibt es aktuell eine Musik, ein Album oder einen Künstler, der bei dir in Dauerschleife läuft?

Ich wurde wieder eingeladen mit der Buddy Rich Big Band in London zu spielen und deswegen höre ich mir gerade oft diese Songs an. Aber das ist eher Vorbereitung.

Gibt es auf deine musikalische Karriere bezogen ein Spieler oder auch eine Spielerin, die dich sehr geprägt hat?

Ja, da gibt es natürlich viele. Aber ich würde jetzt einfach mal Steve Gadd oder Dave Weckl erwähnen.

Entweder-Oder-Fragen

Zum Warmwerden habe ich mir ein paar Entweder-oder-Fragen überlegt, um dich den Zuhörerinnen und Zuhörern vorzustellen, die dich noch nicht so gut kennen: Ghostbusters, das Original, Ghostbusters Frozen Empire?

Natürlich das Original von 1984.

Bayern oder Hamburg?

Beides. In Bayern leben meine Eltern und es ist meine Heimat sozusagen. Hamburg, weil ich hier schon seit über 25 Jahren lebe und das mein Zuhause ist.

Ist das dein Joker bei den Entweder-oder-Fragen?

Ich bin immer völlig outlaw-mäßig bei diesen Fragen. Ich muss dich vorwarnen.

Wir lassen das mal so stehen. Spielen oder Üben im Sinne von „Playing“ oder „Practicing“, wie du es in deinem Buch beschrieben hast.

Beides. Hauptsache man trennt es und lässt es sich nicht gegenseitig kaputt machen.

Clinics halten oder selbst Konzerte spielen?

Ich bin kein guter Kandidat für diese Entweder-oder-Fragen. Ich liebe beides und könnte mich da nicht entscheiden. Ich habe immer wieder Zeiten, in denen ich das eine mehr mache als das andere. Es ist wie bei einem Pendel, das hin und her geht.

Es sind auch schwierige Fragen. Kommen wir zur Letzten: Struktur oder Chaos?

Auch beides. Das Chaos hat eine enorme schöpferische Qualität. Struktur ist wichtig, um das zu bündeln. Das wäre, wie wenn man sagen würde „Ein Wildbach oder Laserkater“. Es ist eben beides toll und es kommt darauf an, was man damit machen will.

Das Problem ist, wenn Leute eins dem anderen vorziehen wollen und sagen, sie müssten sich entscheiden und dann die Qualitäten von dem einen in dem anderen haben wollen. Das geht nicht. Das eine ist das eine, das andere ist das andere. Und beides ist wunderschön – wenn man es richtig einsetzt.

„Aber was gleich bleibt ist, dass ich mein Üben immer in Spielen und Üben aufteile.“

Benny Greb

Bennys Übe-Alltag

Wir wollen heute vor allen Dingen übers Üben sprechen und uns anschauen, wie sich deine Übe-Karriere über die Jahre entwickelt hat. Kannst du uns mal in einen typischen Übe-Alltag mitnehmen?

Die Zeiten, wie lang ich am Tag oder in der Woche übe, müssen leider variieren, je nachdem, was ich mache und je nachdem, was familiär los ist (oder ob ich auf Tour bin oder ob ich gerade ein Seminar halte). Aber was gleich bleibt ist, dass ich mein Üben immer in Spielen und Üben aufteile. Dass ich, wenn ich übe, immer ein paar Tools dabei habe, die mir ganz wichtig sind und, die mir helfen.

Was sind das für Tools?

Also zum Beispiel ein Timer oder mein Journal. Ich führe wirklich Buch. Das klingt unromantischer als es ist. Und ich brauche auf jeden Fall entweder mein Handy oder einen Zoom Recorder. Irgendwas, um ein Vorher-Nachher Recording aufzunehmen.

Daneben nutze ich auch ein paar interne Tools. Egal ob ich jetzt am Pad spiele oder mir im Bus etwas überlege, mental übe oder, ob ich wirklich an meinem Instrument bin. Das sind Mechanismen, die mir gut dienen. Insofern ist es gar nicht so wichtig, wie lange ich übe. Ich habe gemerkt, dass es für mich wichtiger ist, wie ich übe. Und das macht dann das Üben effektiv, egal wo und wie lange.

Du hast am Anfang, auf die erste Frage, schon viele von diesen Punkten angeschnitten. Ich habe das für mich unter „Reflexion“ und „Veränderung“ zusammengefasst. Ist das eine Art und Weise zu üben, die dir so einfach naheliegt und immer schon so war oder ist das etwas, was du dir über die Jahre hart erarbeiten musstest?

Nein, das war definitiv anders am Anfang. Ich habe als Autodidakt angefangen und es war sehr chaotisch. Ich musste eigentlich die Struktur später mit reinnehmen, weil ich gemerkt habe, dass mir sonst ein paar gute Sachen verloren gehen. Ich habe gemerkt, dass ich ganz oft etwas anderes geübt habe und dadurch diesen Aufbaueffekt nicht hatte. Ich hatte dadurch keinen Überblick.

Ich wollte dann zum Beispiel etwas ausprobieren und wusste gar nicht, ob es in meinem Repertoire überhaupt drin ist. Ich wusste zwar, es kommt mir irgendwie bekannt vor, aber es hatte immer so ein „schauen wir mal“- Gefühl. Und das hat mich ganz schön frustriert, weil es zu etwas noch Schlimmerem führt: nämlich, dass man immer vorsichtiger wird und immer konservativer spielt.

Wenn man nicht aufpasst, kommt man dann nicht mehr raus. Und ich habe gemerkt, desto weniger Zeit ich zum Üben hatte, desto effizienter musste ich üben, wenn ich weiterkommen wollte. Man könnte auch sagen, dass vielleicht auch die Themen komplexer wurden. Aber ich glaube, das ist ein kleinerer Faktor.

Ich hätte mir früher niemals Sachen aufgeschrieben, mich gefilmt oder mich aufgenommen und dann angeguckt und danach kritisiert. Mir kam das zu spießig und zu unromantisch vor. Und ich habe gedacht, ich bin Künstler, ich brauche doch Chaos und den Zufall. Allerdings habe ich irgendwann gemerkt, dass wenn ich keine Struktur habe, ich nicht der Künstler werden kann, der ich gerne sein würde.

Später habe ich dann gemerkt, dass es mir eigentlich Druck nimmt und, dass es mir Überblick schenkt.

„Ich hätte mir früher niemals Sachen aufgeschrieben, mich gefilmt oder mich aufgenommen und dann angeguckt und danach kritisiert. Mir kam das zu spießig und zu unromantisch vor. Allerdings habe ich irgendwann gemerkt, dass wenn ich keine Struktur habe, ich nicht der Künstler werden kann, der ich gerne sein würde.“

Benny Greb

Tipps zum effektiven Üben

Bestandsaufnahme – sich selbst beim Üben aufnehmen

Du hast vor ein paar Jahren ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht: „Effective practicing for musicians“ – auch für alle Nicht-Schlagzeuger:innen sehr empfehlenswert. Ich habe mich in der Vorbereitung gefragt, was zuerst da war. Frustration, Methoden, das Journal? Hast du von außen Methoden an die Hand bekommen, die dir geholfen haben, das für dich so zu ordnen? Das Problem ist ja, dass wahrscheinlich viele insgeheim spüren, dass Fortschritt ausbleibt. Aber es ja eine Sache, dies unterbewusst zu merken oder durch Aufschreiben sich wirklich bewusst vor Augen zu führen und einzugestehen.

Aus schierer Frustration. Aus tiefer, pechschwarzer Frustration. Und ich kann das teilweise so witzig formulieren, aber es war wirklich ernst. Ich war wirklich richtig frustriert und habe mich auch gefragt, warum das denn so schwer ist. Oder warum es andere gibt, bei denen man den Eindruck hat, dass es ihnen total leicht von der Hand geht. Und wenn man diese Gefühle eine Zeit lang köcheln lässt, geht es meistens noch tiefer. Man stellt sich Fragen, ob man nicht talentiert genug ist oder man vielleicht hätte früher anfangen sollen.

Schon bevor ich studiert habe, bestand kein Mangel daran, neue Sachen zum Üben zu entdecken. Da hatte ich ganz viel Input. Bei der Frage wie ich üben soll, war teilweise wirklich Brachland. Es wurde erwartet, dass man das irgendwie umsetzt. Aber ehrlich gesagt, wie man das machen soll, im Detail, das hat mir wirklich gefehlt. Und das war einer der Gründe, weshalb ich selbst auf die Suche gegangen bin. Als ich damit angefangen habe, wurde das Thema immer so behandelt, als wäre das eine sehr individuelle Sache. Aber wie ich herausgefunden habe, ist das nicht unbedingt richtig. Es gibt ein paar Sachen, bei denen sind wir individuell. Manche Leute üben morgens besser, manche Leute üben abends besser usw. Aber wenn es dann wirklich mal ums Üben geht, dann gibt es ein paar Sachen, die immer funktionieren. Und es gibt auch ein paar Sachen, die definitiv nie funktionieren. Die wären natürlich cool zu wissen.

Ein Schlüsselmoment war, dass ich einmal aus Versehen eine komplette Session von mir aufgenommen habe und sie mir dann, nicht aus Versehen, angehört habe. Komplett. Das hatte ich vorher nie gemacht. Viele schaffen das fast gar nicht, weil da viel Scham und viel Selbstkritik dabei ist. Allerdings kann ich das nur empfehlen. Das ist für mich der Ground Zero, der Startpunkt für jeden, wenn man sich noch nie mit Übe-Technik beschäftigt hat. Während man sich das anschließend anhört, kann man sich einfach ein paar Notizen machen und sich fragen „Hey, was nervt mich da denn eigentlich?“. Der Witz ist, in dieser Beobachterrolle sind wir meist recht gut darin herauszufinden, was Quatsch ist und was vielleicht zielführend ist.

Die erste Sache, die mir auffiel, war, dass ich immer so ein Starten und Stoppen hatte. Ich nenne es „Starting Stopping Syndrome“. Also sich zu viel aufhalsen, es versuchen und dann bricht es zusammen und muss man wieder von vorne anfangen. Dabei kann man wahnsinnig viel Zeit und viel Kraft verschwenden. Aber es gab natürlich noch ein paar andere Sachen. Aber das umreißt es ein bisschen, was der der Ausgangspunkt war.

Rastergrafik
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Die größte Herausforderung beim Üben ist es, sich auf bestimmte Aspekte zu fokussieren. Diese sinnvoll auszuwählen ist nicht immer leicht. Genau dabei hilft dir die what is practice Übeplan-Vorlage.

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Effektive Übe-Methoden

Checklist-Cycle und Startzeit verkürzen

Wenn man diesen Gedanken ein bisschen weiter fortspinnen würde, dann hätten wir mit so einer Aufnahme unser Was gefunden. Wir wüssten, wenn wir uns selbst mal in einer Session aufnehmen, wo unsere Schwachpunkte sind. Du hast vorhin die Frage nach dem Wie bereits angedeutet. Was sind denn Methoden, die dir im Laufe der Zeit unter die Finger gekommen sind, die für dich den Zugang zum Üben verändert haben und damit auch den Fortschritt möglich gemacht haben?

Also ich würde natürlich mein Buch empfehlen, um alle Methoden mitzubekommen, aber eine, die ich rauspicken würde, wäre die Startzeit zu verkürzen. Wenn man vom letzten Üben den Ist-Stand dokumentiert hat und sich das am Anfang einer neuen Session anguckt und anschließend direkt dort loslegt, kann man wirklich schon mal 10-20 Minuten sparen. Am liebsten ist mir tatsächlich eine Aufnahme zu haben. Und wer zum Beispiel in den Proberaum fahren muss, und das immer verteufelt hat, ist dann wirklich im Vorteil, weil man auf dem Weg dorthin sich die Aufnahme nochmal anhören kann.

Eine andere Methode heißt der Checkliste Cycle. Das ist eine rein mentale Sache, wo man seine Aufmerksamkeit hinrichtet. Wenn ich zum Beispiel eine Übung habe, gehe ich in meinem Kopf die Checkliste durch. Ähnlich wie ein Bildhauer, der auch nicht eine Stelle zur Perfektion bohrt und dann zur nächsten geht und diese zur Perfektion bohrt, sondern ein kleines Stück hier wegnimmt, dann seine Position verändert, ein kleines Stück dort wegnimmt, sich das Gesamtbild anguckt und dann wieder ein bisschen was abschlägt. So kommt er seiner idealen Form immer ein Stück näher.

Die Checkliste startet zum Beispiel physisch: Kann ich noch aufrechter und entspannter sitzen? Kann ich meine Schultern entspannen? Atme ich noch regelmäßig? Wie würde es aussehen, wenn es einfach wäre? Das ist eine magische Frage, die echt bei vielen Leuten eine ergonomischere und natürlichere Technik in Erscheinung bringt, ohne dass man das man etwas bewusst korrigiert.

Und dann geht es weiter in Timing und Accuracy. Also wie ist die Subdivision? Wie ist der Puls? Kann ich mir den Puls dazu denken oder singen? Und der Witz ist: ich verbringe nicht ewig bei jedem Punkt, sondern nur kurz. Wenn die Liste dann am Ende ist, dann fange ich wieder von oben an und so geht das ständig weiter. So wird es immer ein bisschen besser. In kleinen Schritten eben. Und es beschäftigt auch den Kopf sowie das analytische Hören und Fühlen.

„Ähnlich wie ein Bildhauer, der auch nicht eine Stelle zur Perfektion bohrt und dann zur nächsten geht und diese zur Perfektion bohrt, sondern ein kleines Stück hier wegnimmt, dann seine Position verändert, ein kleines Stück dort wegnimmt, sich das Gesamtbild anguckt und dann wieder ein bisschen was abschlägt. So kommt er seiner idealen Form immer ein Stück näher.“

Benny Greb

Wann ist es gut?

Das erinnert ein bisschen an das „Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit“ von Gerhard Mantel, der das in einer ähnlichen Form aufgeschrieben hat. Der entscheidende Punkt bei dieser Übe-Technik ist dann, im richtigen Moment weiterzugehen. Also wann höre ich auf und wann weiß ich, wann ich zur nächsten Sache weiter gehe? Wie ist deine Herangehensweise?

Fürs Erste gibt es mehrere Möglichkeiten. Ganz wichtig: das „Gut“ muss natürlich vorher definiert sein. Man hat oft die Tendenz, währenddessen sein Ziel zu verschieben. Und das kann frustrierend sein, weil das ein sicherer Weg ist, nie anzukommen. Es gibt zunächst die zeitliche Begrenzung, ganz einfach. Also meistens übe ich einfach, bis der Timer klingelt und dann ist Schluss. Selbst wenn mir dann noch was einfällt. Das einfach eine Limitierung, die ich mittlerweile respektiere. Und das hat mir sehr viel gebracht. Früher ging es sonst immer in diese mega Sessions, in denen ich dann den ganzen Samstag von früh morgens bis spät nachts irgendwas gemacht habe.

Der andere Aspekt ist natürlich vorher zu definieren, was ist für heute das Ziel ist. Oder was für diese nächsten drei Monate das Ziel ist. Manche Sachen sind dabei leichter zu messen und zu erreichen als andere. Also zum Beispiel eine gewisse Entspannung oder eine gewisse Mastery von etwas, spürt man schon. Man kann das fast tagebuchmäßig festhalten.

Wenn ich das dann erreicht habe und damit entspannt bin, ist dieses eine Thema erst mal erreicht und dann kann ich mir auch auf die Schultern klopfen. Natürlich kann man dann den Sound noch verbessern etc. Aber ich glaube, es ist sehr wichtig, auch Zwischenstationen zu feiern. Weil die meisten Sachen, die wir an unserem Instrument oder an unseren Instrumenten machen, sind keine Sachen, die man innerhalb von zehn Minuten abhaken kann. Und wer dann frustriert davon ist, dass er noch nicht ganz fertig ist, der hat eine schwierige Zeit vor sich.

Ich empfehle gerne eine Vorher-Nachher Aufnahme. Es ist vielleicht noch nicht perfekt, es ist vielleicht noch nicht so, wie ich es haben möchte, aber ich habe eindeutig den Beweis, dass sich diese 20 Minuten oder diese zwei Stunden, was auch immer das sein mag, gelohnt haben. Und wenn ich dieses Gefühl behalte, behalte ich auch ein sehr positives Gefühl zum Üben eigentlich.

Ja, das finde ich auch selbst ein unglaublich mächtiges Tool. Einfach sich aufzuschreiben oder noch besser sogar aufzunehmen, um seinen Fortschritt für sich sichtbar zu machen.

Und wir sind eigentlich nicht gut darin, uns selbst zu bewerten, wenn man es nicht festhält. Man ist eigentlich härter zu sich selbst.

Manche Sachen sieht man aus einem anderen Blickwinkel besser, als aus dem Spieler Blickwinkel. Also bei Schlagzeugern ist es zum Beispiel ein Klassiker: Da spielt mir jemand etwas mit beiden Händen vor und fragt, warum das so ungleich klingt? Und es klingt gut, aber beide Hände sehen komplett anders aus. Beim Spielen sind wir oft so mit anderen Sachen beschäftigt, dass wir darauf weniger Acht geben können.

Vom Was und Warum?

Was und warum sollte ich üben?

Absolut. Ich finde auch, dass die Musik sich zum Glück dies vom Sport mehr und mehr abgeguckt und auch hier und da Methoden versucht zu adaptieren. Filmen ist ein gutes Beispiel.

Was ich an deinem Buch so unglaublich gut finde, ist, dass es geschafft hat, wirklich einen „Rundumschlag“ im besten Sinne des Wortes zu kreieren: von äußeren Umgebungen bis zu dem eben angesprochenen Dreimonatsplan. Im Großen und Ganzen geht es um den Prozess, aber auch um das Was und das Warum. Weißt du noch, was dein erstes, was und warum damals war, also als du dir die Fragen selbst gestellt hast?

Wenn man einen Gig spielt oder einen Auftritt hat, und es gibt eine Aufnahme: hört man sich die gerne an? Und wenn nein, gibt es da irgendeinen Punkt gibt, den man verbessern möchte. Das wäre doch der schon mal erste Grund. Jedes Mal, wenn ich eine Aufnahme von mir höre, habe ich irgendwas, von dem ich motiviert bin zu sagen „das könnte ich aber noch besser gestalten“.

Was man manchmal vergisst, ist, dass es nicht ein angsterfülltes Ding sein muss. Das machen viele Lehrer, glaube ich, falsch. „Du bekommst keine Jobs oder wirst nicht bei der Audition genommen“ – das mag für Professionelle alles zutreffen. Aber der wirklichste und der schönste Grund ist, wenn man etwas richtig auscheckt und wenn man gut das Instrument spielen kann. Das macht unglaublich Spaß. Also das ist einfach ein unglaubliches Gefühl, was ich so oft wie möglich haben möchte.

Absolut. Jetzt leben wir allerdings aber nicht alle in „lonely bubbles“, sondern sind soziale Wesen und interagieren ständig (auch durch Social Media) oder sind anderen Einflüssen ausgesetzt. Du beschreibst das in deinem Buch sehr schön, wie man zu den Sachen findet, die man selbst gerne machen möchte: Spieltechniken, Arten zu spielen, die man selbst gut findet.

Wie hast du es denn geschafft, dich selbst von diesen Einflüssen freizumachen? Weil theoretisch, wenn ich Instagram aufmache, und mir andere Musikerinnen und Musiker angucke, sehe ich ja jeden Tag sehr viele neue Sachen, die ich auch noch üben könnte. Also wie schaffst du es, deinen eigenen Zielen treu zu bleiben und dich nicht zu verunsichern zu lassen, dass der Weg, den man jetzt eingeschlagen hat, dann doch vielleicht nicht so der Richtige ist?

Eine schlechte Nachricht und eine gute. Die schlechte Nachricht ist, man kann nicht alles gleichzeitig machen und man kann nicht mal alles machen, selbst wenn man es eins nach dem anderen macht. Man wird nicht bei allem fertig, bis man stirbt.

Die gute Nachricht ist aber, dass wir das nicht (und das wurde sogar mittlerweile wissenschaftlich untersucht) brauchen, um glücklich zu sein. Man denkt immer, das, was jetzt auf mich einprasselt, das würde ich auch gerne habe. Es gibt nur so ein paar Dinge, die für einen wirklich sehr wichtig sind. Und wenn man an denen wirklich arbeitet und spürt, dass man da ein Fortschritt macht, ständig, dann ist das also üblicherweise mehr als genug.

Und der Grund ist eher, wenn wir unseren eigenen Scheiß schon nicht machen, ist es schwer zu ertragen, wenn von außen weiterer Input auf uns kommt. Und das macht natürlich Social Media schwieriger. Wenn man sich selbst schon ein bisschen faul fühlt und dann auch noch andere einem ins Gesicht reiben, was sie alles am Start haben. Das ist schwer auszuhalten.

Man braucht drei Punkte. Der eine Punkt ist ein Ziel. Der andere Punkt ist das Wie ist es denn jetzt gerade? Das ist etwas, dass sehr vielen fehlt. Sie wissen manchmal, wo sie hinwollen, aber wissen nicht, wo sie gerade wirklich stehen. Und der dritte Punkt ist: Was ist denn jetzt der nächste Schritt (die nächste Übung), den ich machen muss? Und wenn ich den nächsten Schritt nicht weiß, dann kann ich auch nicht loslegen. Dann bin ich auch nicht motiviert.

Wenn das wirklich alles in Place ist, dann kann man auch viel entspannter mit anderen feiern, dass sie etwas ausgecheckt haben. Es ist oft eher ein Neid-Ding. Also Entschuldigung, das ist jetzt ein bisschen tough love – aber so ist meine Erfahrung zumindest. Ich bin auch nicht frei davon. Es gab auch Phasen in meinem Leben, wo ich definitiv diese Gefühle hatte. Aber ich meine, die Kehrseite der Medaille ist, dass man sich überlegen muss, wie viel Input man überhaupt zulassen möchte und, ob man ständig neuen Input überhaupt braucht.

Ich glaube, es liegt auch ganz viel Tolles in unfinished business und in Büchern (oder Übungen), die man mal gemacht hat und dann brach hat liegen lassen. Wir verwechseln manchmal neu und besser. Manchmal ist auch „The old shit the best shit“.

„Aber ich glaube, es ist sehr wichtig, auch Zwischenstationen zu feiern.“

Benny Greb

Aber ich finde, das schließt den Kreis irgendwie ganz schön zu dem, was du am Anfang gesagt hast. Wir sind zwar alle Künstler:innen und in Choas kann auch viel Kraft stecken, allerdings funktioniert es ganz ohne Struktur eben nicht. Eine philosophische Frage für das Ende: Wann bist du denn nach dem Üben zufrieden?

Es gibt mehrere Disziplinen diesbezüglich. Also zufrieden bin ich allein schon, wenn ich die Rahmenbedingungen gut gemacht habe. Also wenn ich wirklich allein geübt habe. Das ist schon ein Win für mich. Wenn ich überhaupt diesen in diesen Übe-Modus komme, ist das wie eine Meditation. Zudem hat es den schönen Nebeneffekt, dass ich mich auf ganz viele andere blöde Sachen nicht konzentrieren kann. Und das ist das macht mich enorm zufrieden.

Ich bin jetzt Mitte 40 und beschäftige mich seit 30 Jahren damit, auf einem Gummipfad die Schläge gleich laut zu spielen. Das ist eigentlich total abgefahren und abstrus. Aber in dieser Einfachheit liegt ein ganzes Universum.

Und langfristig gesehen bin ich zufrieden, wenn ich einfach über Monate hinweg eine Sache tief Brett gebohrt habe und ich echt meinen Fortschritt merke. Für mich ist es der beste Vergleich: Ich bin früher mit meinem Vater Bergwandern gegangen und dieses Gefühl, wenn man nach einiger Zeit wandern sich umdreht und die Hütte, von der wir aus gestartet sind, nur noch so groß wie ein Monopoly Haus in der Ferne ist. Das ist einfach ein abgefahrenes Gefühl.

Das ist auch was, dass man aufs Leben übertragen kann. Wir könnten, glaube ich, noch so viel uns über das Üben unterhalten. Es ist sehr spannend dir zuzuhören. An dieser Stelle aber, mit Blick auf die Uhr, kommen wir zu den letzten beiden Fragen: Was übst oder lernst du gerade, was du noch nicht so gut kannst?

Mich mit meinem Sohn nicht in ewig lange Gespräche verwickeln zu lassen, wenn er ins Bett gehen soll. Das versuche ich gerade zu lernen. Er ist da mittlerweile gut drin sich die spannenden Fragen, die vielleicht auch Papa ein bisschen interessieren, aufzuheben bis zur Schlafenszeit. Vielleicht muss ich da auch wieder einen Timer, wie beim Üben, nutzen.

Außerdem versuche gerade wieder mehr auf gesunde Ernährung und mehr Sport zu schauen. Ich habe das früher sehr vernachlässigt. Es gibt so vieles. Wieder öfter meditieren. Das sind oft Sachen, die ich nicht neu entdecke oder neu anfange, sondern an denen ich dranbleiben und wieder anknüpfen möchte.

Da wären wir wieder bei den Open Books, die du zwischendurch mal angesprochen hast. Wenn du jetzt auf deine eigene Studienzeit zurückblickst, gibt es einen Tipp, um den du damals froh gewesen wärst, hättest du ihn schon vorher gehabt?

Ja, eigentlich dieses „Effective Practice“ Buch. Jeden Tipp davon, zum Beispiel der Timer hätte mir viel gebracht. Oder auch der Checkliste Cycle hätte mir viel geholfen. Udo Dahmen, mein Lehrer, hatte eine ähnliche Übung mit mir mal gemacht und die hatte mir wahnsinnig viel gebracht.

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Wie geht mentales Üben, Christian A. Pohl? https://what-is-practice.de/mentales-uben-christian-pohl/ https://what-is-practice.de/mentales-uben-christian-pohl/#respond Sun, 24 Mar 2024 11:18:51 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6394 Christian Pohl ist Professor für Klavier und Klaviermethodik an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Dort habe ich ihn kürzlich auch besuchen dürfen, um mit ihm über ein weiteres seiner Forschungsfelder – das mentale Üben – zu sprechen. Gemeinsam haben wir versucht Licht in das Feld dieser Übe-Technik zu bringen, die zwar oft… Weiterlesen »Wie geht mentales Üben, Christian A. Pohl?

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Christian Pohl ist Professor für Klavier und Klaviermethodik an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Dort habe ich ihn kürzlich auch besuchen dürfen, um mit ihm über ein weiteres seiner Forschungsfelder – das mentale Üben – zu sprechen. Gemeinsam haben wir versucht Licht in das Feld dieser Übe-Technik zu bringen, die zwar oft genannt wird – deren konkrete Ausführung aber oftmals vage bleibt. 

Wir sind tief in das Thema eingestiegen und haben uns angeschaut, welche Möglichkeiten und konkreten Methoden es gibt, mentales Training  in unserem täglichen Üben einzusetzen. Christian Pohl hat sich dazu sogar während der Folge ans Klavier gesetzt. Natürlich haben wir das Thema versucht auch in den größeren Kontext des Übens ingesamt zu setzten und Christian Pohl hat immer wieder auch ganz konkrete Übe-Tipps gegeben. Übrigens, ein Blick in seine Klaviermethodik lohnt sich defintiv nicht nur für Pianistinnen und Pianisten.

Link zur digitalen Version der Klaviermethodik

Christian Pohl am Klavier
Christian Pohl nach unserem Interview über das mentale Üben (© Foto: Patrick Hinsberger)
Christian Pohl am Klavier
Christian Pohl am Klavier in der HMT Leipzig
(© Foto: Patrick Hinsberger)

Literatur-Tipps

Klaviermethodik Christian Pohl

Klaviermethodik

Christian Pohls eigene Klaviermethodik. Sie beinhaltet die Quintessenz aus seiner langen und intensiven Beschäftigung mit dem Thema Üben. Ein paar der Inhalte stellt Christian Pohl auch kurz im Podcast vor.

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Christian Pohl lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview

Inhalt

Die erste Frage, mit der es immer losgeht, lautet: Vervollständigen Sie folgenden Satz. Üben heißt für Sie?

Sich selbst durch Musik zu entdecken.

Das heißt, es ist eine sehr mit sich selbst beschäftigende Art. Ein sich kennenlernen und in sich hineinhorchen. Also, etwas sehr selbstreferentielles?

Ja. Ich glaube, grundsätzlich können wir ja nicht wissen, was in einem anderen Menschen vorgeht, wenn er Musik hört oder Musik macht. Wir können immer nur auf das eigene Erleben referenzieren und die Beschäftigung mit Musik, sei es am Klavier, sei es rein mental, sei es im pädagogischen Kontext, ist immer auch eine Beschäftigung mit sich selbst.

Denn was wir in der Musik erleben, ist etwas, das wir selbst in uns tragen und das durch Musik lebendig werden kann. Und deswegen ist die Beschäftigung mit Musik, ob Üben oder eben Unterrichten, immer auch eine Beschäftigung mit vielleicht teils verborgenen Seiten des Selbst.

Das finde ich einen spannenden Punkt. Darauf werden wir sicher im Anschluss ein bisschen genauer eingehen. Gibt es ein aktuell bei Ihnen einen Künstler, eine Künstlerin, den Sie in Dauerschleife hören.

Das Fauré Requiem in der Aufnahme mit Celibidache. Das höre ich in letzter Zeit sehr, sehr gerne und sehr oft. Es gibt einen Probenmitschnitt auf YouTube. Und wie erprobt und wie sich die Musik in der lebendigen Probe verändert, das beeindruckt mich so tief, dass das etwas ist, was eine ständige Faszination auf mich ausübt.

Spannend, Das kenne ich nicht. Das werde ich mir auf jeden Fall im Nachgang anschauen. Wenn Sie es auf Ihr eigenes Spiel zurückschauen. Gibt es da einen Künstler, eine Künstlerin, der Sie sehr stark geprägt hat?

Da gibt es zwei. In meiner Jugend war ich, wie so viele andere auch, fasziniert und geradezu hypnotisiert von Horowitz. Bis heute ist dieser Pianist ein Phänomen für mich, das ich kaum zu ergründen vermag. Es ist auf der einen Seite von einer solchen Natürlichkeit und Unmittelbarkeit geprägt und auf der anderen Seite aber so weit entfernt von allem Fassbaren, dass das eine stete Faszination auf mich ausübt. Und dann natürlich auch Emil Gilels, der Lehrer meines Lehrers, dessen Kunst für mich bis heute ebenfalls etwas ganz Unergründliches hat.

Entweder – Oder

Ich habe mir, bevor wir gleich wirklich in unser heutiges Thema, das mentale Üben, einsteigen etwas überlegt, um Sie ein wenig besser kennenzulernen. Ich habe mir ein paar Entweder-oder-Fragen überlegt. Sie haben einen Joker, da dürfen Sie sich der Antwort entziehen.

Wir haben gerade schon vorhin vor der Aufnahme darüber gesprochen. Ich glaube, jetzt kenne ich Ihre Antwort darauf: Leipzig oder Freiburg?

Leipzig.

Lernen oder Lehren?

Das sind für mich Synonyme.

Das ist schon der Joker?

Das war der Joker.

Dann bin ich gespannt, wie es weiter geht. Unterrichten oder Konzerte spielen?

Unterrichten.

Viele kleine Übe-Einheiten oder Üben am Stück.

Kleine Übe-Einheiten.

Morgens oder abends üben?

Morgens.

Sie sind seit 2009 Professor hier. Können Sie einen typischen Übe-Alltag nachzeichnen?

Also wenn Sie sehr stark in der Lehre verhaftet sind, dann ist das, was den Übe-Alltag angeht, schwierig. Ich habe für mich persönlich festgestellt, dass ich abends nach dem Unterrichten einfach zu müde bin. Das heißt, wenn ich übe, dann vor dem Unterricht. Und wenn der Unterricht beispielsweise um elf beginnt, dann übe ich davor. Manchmal gehe ich dann um acht in die Hochschule. Wenn es Konzertverpflichtungen gibt, auch schon früher. Und dann versuche ich, das Pensum vor dem Unterrichten zu absolvieren.

Struktur oder Chaos?

Struktur.

„Wenn ich ein Übertagebuch führe, dann habe ich zumindest den schriftlichen Beweis, was ich getan habe.“

Christian Pohl

Das dachte ich mir auch schon. Sind Sie ein Typ, der Übertagebuch führt?

Jein. Ich habe keinen Joker mehr…

Das gehört nicht zu den Entweder-Oder-Fragen. Darauf dürfen Sie ein bisschen länger antworten.

Ich habe die Erfahrung gemacht, je weniger Zeit zur Verfügung steht, desto besser ist das Üben. Zumindest bei mir. Also ganz freie Tage, die über zwölf Stunden hinweg eine Carte blanche bieten, sind jene Tage, die am gefährlichsten sind. Denn dann, denkt man immer, man hätte den ganzen Tag Zeit, etwas zu tun. Wenn allerdings nur ein enges Zeitfenster zur Verfügung steht, 2, 3 oder 4 Stunden, dann möchten die besonders gut genutzt werden.

Ich habe für mich selbst die Erfahrung gemacht, dass ich mich sehr schwer damit tue, ins Blaue hinein zu üben. Das passt nicht zu mir. Deshalb mache ich, bevor ich zu Üben beginne, einen Plan. Ich nehme mir allerdings auch die Freiheit, von dem Plan abzuweichen. Was ich üben möchte. Wie ich das üben möchte. Schlicht und ergreifend auch, um nach dem Üben nachvollziehen zu können, was ich eigentlich gemacht habe.

Während meiner Studienzeit war es manchmal sehr schwer für mich zu akzeptieren, dass man teilweise sehr hart (8-9 Stunden) arbeitet und sich dennoch abends zu Hause fragt, was man den ganzen Tag getan hat. Das war sehr frustrierend. Wenn ich ein Übertagebuch führe, dann habe ich zumindest den schriftlichen Beweis, was ich getan habe. Das ist ein positiver Aspekt.

Und der andere positive Aspekt, gerade in den ersten Jahren, als ich das Üben für mich entdeckte und auch die Klaviermethodik entwickelte ist, dass mir das Übertagebuch geholfen hat, besser verstehen zu können, welches Üben besonders gut funktioniert und welches nicht. Denn wenn Sie nach einigen Tagen an eine bestimmte Stelle zurückgehen und dann spüren, dass funktioniert oder eben nicht, dann ist es ohne Übertagebuch schwer im Rückblick zu sagen, wie ich das erarbeitet habe. Das hilft mir dann, das weitere Üben zu planen.

Das heißt, Ihr Tagebuch geht über den Schritt des „Was“ hinaus und beinhaltet immer auch die ganz konkrete Methode?

Genau. Also in der von mir entwickelten Klaviermethodik sind 27 verschiedene Methoden dargestellt. Die sind in vier Lerngebiete eingeteilt und decken somit einen großen Teil des Übens ab. Das Üben, das man methodisch gut fassen kann. Irgendwann, wenn man all die grundlegenden Aufgaben gelöst hat, wird es so speziell (wenn es um künstlerische Suche oder auch um ein Hineinleuchten in emotionale Prozesse geht), dass sich das mit solchen Standardmethoden nicht mehr lösen lässt. Aber bis dahin, um erst mal ein wirklich gutes Niveau zu erreichen, helfen diese Methoden sehr. Allerdings helfen sie nicht in isolierter Form, sondern sie möchten von Anforderungen zu Anforderungen in Kombinationen angewendet werden.

Kombination bedeutet, dass Sie beispielsweise zwei Methoden kombinieren: zum Beispiel ein Metronom Aufbau kombinieren Sie mit der Idee schwarz-weißen Übens. So eine Kombination von Konzepten und Methoden nennen wir in der Methodik ein Übe-Modell. Im Übertagebuch schreibe ich dann meistens in stenografischer Form eben diese Modelle auf.

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Die größte Herausforderung beim Üben ist es, sich auf bestimmte Aspekte zu fokussieren. Diese sinnvoll auszuwählen ist nicht immer leicht. Genau dabei hilft dir die what is practice Übeplan-Vorlage.

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Jetzt haben Sie gerade schon Ihre Methode angesprochen: Gedrucktes Buch oder Online-Methode?

Ich möchte einen zweiten Joker kaufen (lacht).

Als ich das Buch schrieb, war mir von Beginn an klar, dass sich das geschriebene Wort nur sehr bedingt eignet, um über Musik etwas zum Ausdruck zu bringen. Das ist einfach ungeheuer schwer. Wenn es beispielsweise darum geht, zu verschriftlichen, was ein weicher Klang ist. Was ein geerdeter Anschlag ist. Deswegen war mir von Anfang an klar, dass es zu dem Buch auch ein digitales Produkt braucht. Während ich das Buch schrieb, skizzierte ich bereits gedanklich die digitale Klaviermethodik. Die Inhalte des Buches werden aufgegriffen und in vertiefter Form, mithilfe von Lehrvideos, im Internet zugänglich gemacht.

Nun hat das Buch Vorzüge, die ein digitales Projekt nicht hat. Das Buch nämlich ermöglicht Ihnen, die gesamte Klaviermethodik wortwörtlich in den Händen zu halten. Das heißt Aspekte wie einen Überblick zu gewinnen oder Referenzen zu suchen geht mit so einem Digitalprojekt nur schwer. Auch das Medium Video in der zeitlichen Bindung ermöglicht es Ihnen nur bedingt, mal schnell etwas nachzuschlagen. Insofern ist das aus meiner Sicht die perfekte Ergänzung.

Das Buch kam vor ziemlich genau drei Jahren raus. Wie kam es zur Idee? Hatten Sie vorrangig an Ihre Studierenden gedacht, die so eine Komplettübersicht in den Händen halten sollten?

Die Grundidee entstand noch während meiner Studienzeit. Mich beschäftigte von Beginn an immer die Frage, wie denn eigentlich das musikalische Lernen, das instrumentale Lernen genau funktioniert. Wie arbeitet das Gehirn? Wie sind diese Prozesse zu beschreiben, die am Ende im Konzert zu diesem unglaublichen Zustand des selbstvergessenen Aufgehens in der Musik führen? Wie funktioniert das? Ich habe dann alles gelesen, was ich finden konnte, und habe festgestellt, dass der Anfängerbereich sehr, sehr gut elaboriert ist. Es gibt Hunderte von Klavierschulen, die Anleitung geben, wie man so in den Anfängen sich dem Klavierspiel widmen kann. Und dann gibt es faszinierende Bücher auf der anderen Seite – teils von Profis, in denen es eher um Musik allgemein geht und mir keine Antworten zur konkreten Erarbeitung eines neuen Stücks gegeben werden konnten.

Ich sprach daraufhin mit unzähligen Pianisten, die weit besser spielten als ich. Ich sprach mit unzähligen Professoren und ich las alles, was ich in die Hände bekommen konnte. Und daraus hat sich dann ein Kanon von Methoden geformt. Ich habe das dann angefangen auszuprobieren, auch an den eigenen Studierenden. Und so hat sich im Laufe von 25 Jahren dann ein einmaliges Portfolio an Methoden geformt.

Jetzt sind wir auch schon mitten im Thema drin. Ich habe noch eine abschließende Entweder-oder-Frage: Mental oder physisch üben?

Das sind gute Fragen, die Sie stellen. Ich muss den dritten Joker reklamieren. (lacht)

Glenn Gould sagte in seinem berühmten Zitat: „Man spielt mit dem Kopf Klavier, nicht mit den Händen.“

Was wir am Klavier üben, kann man in zwei Ausprägungen erfahren: Entweder es ist eine Art intuitive Suche, bei der wir uns durch den lebendigen Kontakt mit dem Instrument inspirieren lassen. Das heißt, das, was unsere Hände manchmal ungeplant tun, befruchtet unsere Intuition. Wir entdecken plötzlich am Instrument Dinge, die uns sonst verborgen geblieben wären.

Das andere Üben am Instrument aber folgt der Realisierung einer hochpräzisen Vorstellung, einer Imagination. Etwas, was wir innerlich an Musik repräsentiert vorfinden. Sozusagen das geistige Bild der Musik. Und das Üben ist dann die Klangwerdung dieses geistigen Bildes. Und für mich ist dieser zweite Aspekt der, der vielleicht 95 % der Arbeit darstellt, weil ich glaube, dass das Nachdenken über Musik den Hauptteil der Beschäftigung mit Musik ausmacht.

„Mentales Üben bedeutet auch, die eigenen Gedanken zu verschriftlichen.“

Christian Pohl

Was ist mentales Üben?

Das ist spannend, dass Sie das doch so stark zu einer Seite gewichten. Um an dieser Stelle einzuzäunen, worüber wir ganz konkret sprechen, wenn wir das mentale Üben oder das mentale Training hier erwähnen. Wo geht für Sie mentales Üben los? Sie haben gerade das Nachdenken über Musik angesprochen – ist das schon eine Form des mentalen Übens für Sie?

Ich glaube, wenn Sie morgens unter der Dusche stehen und eine Melodie singen oder pfeifen oder in Ihrem Kopf hören, dann ist das bereits mentales Üben. Es ist vielleicht nicht bewusst gesteuert, aber Sie arbeiten in diesem Moment schon an der Musik. Wenn Sie sich dann vornehmen, dies oder jenes gedanklich zu durchgehen, dann trifft das, was wir mit mentalem Üben meinen. Aber jegliche Form geistiger Beschäftigung mit Musik möchte ich unter dem Begriff des mentales zusammenfassen.

Würden Sie sagen, dass es eine Voraussetzung für das mentale Üben gibt?

Das ist eine gute Frage. Ich weiß nicht, ab welchem Alter die rein geistige Beschäftigung mit Musik in einem professionellen Kontext beginnen kann.

Sie haben in Ihrem Aufsatz in „Handbuch Üben“ von Ulrich Mahlers drei Säulen beschrieben: Konzentration, Imagination und Suggestion. Ich habe diese als eine Art Grundfähigkeiten verstanden, damit das mentale Üben möglichst erfolgreich ist. Könnte man diese als Schlüsselqualifikationen nehmen, damit mentales Üben gelingt?

Also ich glaube die Konzentration, dass man sich, in einen Zustand versetzt, in dem man etwas, das man zuvor am Instrument erlebt hat, gedanklich reproduzieren kann, ist die erste Voraussetzung in frühen Stadien.

Im zweiten Stadium kann man auch das, was man noch nicht am Instrument getan hat, gedanklich – über eine Fokussierung der Gedanken – vorbereiten. Dass Sie beispielsweise, wenn Sie ein Stück erarbeiten, eine Technik des mentalen Übens verwenden, die anspruchsvoll ist, die aber meiner Erfahrung nach wirklich tolle Wirkung zeigt: Wenn Sie beispielsweise zwei Takte eines Stückes memoriert haben, Sie sie dann einmal gedanklich transponieren. Das ist zumindest für mich sehr anspruchsvoll. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, wenn mir das gelingt, dann erscheint mir der Notentext in einer Transparenz, die für mich einfach überwältigend ist.

Wie kann ich denn zwei Takte gedanklich so transponieren? Wie geht das eigentlich? Und ich habe für mich die Erfahrung gemacht, dass mithilfe einer strukturellen Reduktion nach Schenker dies gut funktioniert. Das heißt, dass man zuerst die Struktur transponiert und später die Prolongation gedanklich nachvollzieht. Also ganz einfach gesagt:

Notenbeispiel aus Podcast - Struktur und Prolongation
Transposition nach E-Dur mithilfe einer strukturellen Reduktion

Wir haben diese Akkordbrechung. Jeder einzelne Ton ist mit dieser chromatischen Nebennote ornamentiert. Die gedankliche Transposition würde jetzt folgendes machen: Wir vergegenwärtigen uns zunächst die Struktur – also den Dur-Akkord. Zunächst transponieren wir anschließend gedanklich diesen Dreiklang, beispielsweise nach E-Dur. Wenn mir das gelingt, dann kann ich im nächsten Schritt die Prolongation, also die Ornamentation der einzelnen Akkordtöne, gedanklich vollziehen.

Das ist sehr spannend, dass Sie das an dieser Stelle schon ansprechen. Diese Frage habe ich mir in der Vorbereitung sehr intensiv gestellt. Das setzt bei allen Studierenden oder bei allen Menschen, die diese Technik anwenden voraus, dass sie ein sehr starkes inneres Gehör haben. Für jemand, der vielleicht hier Schwierigkeiten hat, bzw. sich damit noch ein bisschen schwer tut; der würde dann immer an dieser Stelle Schwierigkeiten bekommen. Und das Tückische dabei ist, dass er den Fehler wahrscheinlich gar nicht selbst merkt. Wissen Sie, was ich meine?

Ich glaube, man muss hier unterscheiden. Wenn wir von innerem Hören oder wenn wir von Denken sprechen. Das innere Hören bewegt sich in einer anderen Dimension als das, was ich gerade versucht habe zu demonstrieren. Ich glaube, hier geht es vielmehr um Denken. Das heißt, wie genau sieht die Imagination aus? Sie können verschiedene Imaginationstechniken verwenden, zum Beispiel:

Was heißt es, sich einen Dreiklang vorzustellen? Sie sagten: Ich kann ihn mir über das innere Gehör vorstellen. Ich kann mir die Intervalle vorstellen. Ja, das ist eine Art und dann haben Sie vollkommen recht, wenn ich das dann transponieren muss und eben innerlich nicht so gut hören ist das schwierig. Aber Sie können im Hinblick auf die Imagination sich auch der visuellen Imagination bedienen. Das heißt, Sie stellen sich innerlich die Klaviatur vor und sehen die entsprechenden Tasten aufleuchten. Transposition bedeutet dann, dass Sie sich die entsprechenden Tasten des E-Dur Akkords vorstellen. Das heißt, das ist eine Visualisierungstechnik.

Christian Pohl am Klavier
Christian Pohl am Klavier (© Foto: Patrick Hinsberger)

Eine andere Visualisierungstechnik bezieht sich auf das Notenbild. Das heißt, Sie stellen sich den C-Dur Dreiklang auf den Notenlinien vor. Um sich dann später den E-Dur Dreiklang auch auf den Notenlinien vorzustellen. Und dadurch, dass wir von Kindesbeinen an am Klavier saßen und auch Noten gelesen haben, sind das Dinge, für die man wenig Vorbildung braucht.

Kurz dazwischengefragt: Würden Sie eine Art Gewichtung vornehmen, also, dass die eine Methode mehr oder weniger erfolgsversprechender ist als eine andere?

Wenn wir von innerem Hören sprechen, dann habe ich den Eindruck, dass das sehr stark den Bereich des intuitiven Musizierens berührt. Sie können die gleiche Person bitten, den Dreiklang nicht innerlich zu hören, sondern einfach zu singen – in C-Dur und dann in E-Dur. Ich glaube, das hätte einen ähnlichen Effekt. Für das strukturelle Verständnis von Musik, für das Verständnis der Komposition an sich ist, glaube ich, die Vorstellung auf der Klaviatur oder in den Noten (die kognitive Beschreibung) vielleicht sogar noch wichtiger als die Referenz an die Intuition und Musikalität. Beides ist unerlässlich.

Wahrscheinlich unterscheiden sich die Herangehensweisen auch stark zwischen den verschiedenen Instrumentengruppen. Ich als Bläser bin wahrscheinlich stärker auf eine auditive Vorstellung angewiesen als ein Klavierspieler.

Genau. Ich glaube, da unterscheiden sich die Herangehensweisen im Hinblick auf die unterschiedlichen Instrumentengruppen ganz wesentlich.

Beispiel: Chopins Nocturne in C#-Moll (opus post.)

Strukturen erfassen und Gestaltungsschichten

Nocturne - Chopin Notentext

Um es für die Zuhörer:innen etwas anschaulicher zu machen, lassen Sie uns das Beispiel aus Ihrem Artikel nehmen: Chopins Nocturne in C#-Moll. Wir haben das „Strukturen erfassen“ (Decodieren) bereits angesprochen. Wäre das ein erster Schritt, um sich ein Stück mental zugänglich zu machen?

Sie haben die Möglichkeit die unterschiedlichsten Schichten eines Werkes mental zu durchdringen. Und die Schicht, auf die wir jetzt gerade zu sprechen kamen, ist eben diese strukturelle Schicht. Und meiner Erfahrung nach ist es empfehlenswert, dass man versteht, womit man sich beschäftigt (in kompositorischer Hinsicht) und dann weiter geht. Manche machen es auch umgekehrt. Wir treffen dann, wenn wir das Stück strukturell in uns aufgenommen haben, natürlich auch auf andere Gestaltungsschichten. Beispielsweise ist eine Gestaltungsschicht die Artikulation. Dass wir gedanklich reflektieren, wie denn eigentlich der eine in den anderen Ton übergehen möchte. Und mentales Üben, was diese Gestaltungsschicht angeht, bedeutet, sich einfach nur Fragen zu stellen, das heißt den entsprechenden Teil innerlich zu spielen.

Eine andere Gestaltungsschicht, die es zu hinterfragen gilt, ist eine meiner Liebsten. Das Thema Brems- und Strebekräfte. Das heißt, Musik im zeitlichen Kontinuum kann ganz unterschiedliche Kräfte freisetzen. Strebende Kräfte, das heißt, die Musik fließt voran. Sie ist wie ein leichter Gebirgsbach, der sich seinen Weg sucht, sozusagen vorantreibend.

Musik kann widerständig sein, als ob sie im tiefsten Winter durch hohen Schnee laufen würde. Das ist wahnsinnig mühevoll. In den Kunstwerken treffen wir auf unterschiedlichste Ausprägungen dieser sogenannten Brems- und Strebekräfte. Und mentales Üben bedeutet, was diese Gestaltungsschicht angeht, sich zu fragen, wie entfaltet sich denn die Musik in dieser und jener Episode? Mentales Üben bedeutet auch, die eigenen Gedanken zu verschriftlichen. Das hilft mir oft sehr. Ich habe im Buch verschiedene Visualisierungstechniken beschrieben. Beispielsweise, wenn die Musik sehr stark im Vorwärtsdrang begriffen ist, dass Sie einen Pfeil, der sich ein bisschen nach rechts neigt, über die Musik zeichnen.

Um es ein wenig einzuordnen und zu strukturieren: Wir haben jetzt Techniken kennengelernt, wie wir uns das Werk einteilen können. Im Buch beschreiben Sie anschließend Techniken des „Sprechens und Verbalisierens“. Nach dem Einteilen in logische Lernabschnitte und Übe-Abschnitte kommen wir jetzt an dem Punkt, wo wir mitsprechen und verbalisieren (Aufschreiben von diesen Informationen). Verstehe ich das richtig?

Ja, ich glaube, dieser ganze Prozess, über den wir im Moment sprechen, ist ein sehr individueller und sehr fluide. Obwohl ich mich als sehr systematischen Menschen sehe ist es für mich wichtig, eine Vielzahl an Angeboten zu kennen und dann eben jeden Tag sehr intuitiv das eine oder das andere beleuchten zu können. Zum Beispiel weiß ich nicht, ob ich so systematisch im Hinblick auf das mentale Üben vorgehen würde. Ich glaube, diese verschiedenen Schichten wird man im Laufe der Werkerarbeitung je nach Lust und Laune beleuchten. Ich würde das jetzt nicht so systematisch aufbauen: Erst mache ich das, dann mache ich das…

Ich glaube, wichtig ist, dass man es kennt, um dann, wenn man Freude dran hat, drauf zugreifen zu können. Und ich würde gerne noch etwas zum Analytischen sagen: Ich glaube, je mehr wir denken, desto weniger müssen wir denken. Ich erlebe dann Unsicherheiten (ein Gefühl des unbefriedigt seins auf der Bühne), wenn ich mir noch nicht ganz sicher bin. Wenn ich noch nicht alle Fragen für mich wirklich geklärt habe. Das heißt, je mehr ich im Vorfeld darüber nachdenke ,desto weniger muss ich später denken.

Ist es nicht eigentlich genau umgekehrt? Umso mehr man sich mit etwas beschäftigt, umso mehr Fragen entstehen, umso unsicherer wird man irgendwann? Das kennt man auch aus ganz vielen verschiedenen anderen Bereichen im Leben,

Ich kann immer nur, wie wir alle, aus dem eigenen Erfahrungshorizont heraus berichten. Ich glaube, dass die Zahl der Fragen im Hinblick auf die Komposition begrenzt sind. Die hat man irgendwann absorbiert und dann gibt es keine Fragen mehr.

Sie haben vollkommen recht, dass bspw. die Bedeutungsebene, wahrscheinlich nie zu einem Abschluss kommt. Es ist so wie eine Pyramide. Es wird immer feiner und feiner und es zeigt sich mehr und mehr durch viele kleine Aspekte.

So zeigt sich das, was der Adorno als das Auratische bezeichnete, nämlich der dahinter liegende Geist und den entdeckt man in der Beschäftigung mit all diesen Fragen. Je klarer sich dann dieser Geist zeigt, desto flexibler ist man auch wieder in der Formung dieses oder jenes Details. Das heißt, um auf Ihre Frage zu antworten ich erlebe es genau umgekehrt.

Je mehr ich mir die Fragen stelle und je mehr ich mich mit einem Werk beschäftige, desto mehr wird das Werk meins und desto mehr wird es zum auch Ausdruck meiner musikalischen Intuition. Eine letzte Bemerkung. Was bedeutet denn Nachdenken? Was bedeutet denn Analyse? Es bedeutet nichts anderes als Bewusstmachung von Intuition. Das heißt, wenn ich über etwas nachdenke, leuchte ich ins Dunkel des Unbewussten hinein. Mache es greifbar und lasse es zurück ins Unbewusste sinken. Aber dadurch habe ich es sozusagen destilliert. Und dann, wenn ich einmal entdeckt habe, dass das ein bspw. Dreiklang ist, dann stellt sich die Frage nicht mehr. Wenn ich einmal entdeckt habe, wie das gebaut ist, stellt sich die Frage nicht mehr. Sehen Sie, und deswegen möchte ich doch nach wie vor ein Plädoyer für das Nachdenken proklamieren. Ich glaube nicht, dass man zu viel nachdenken kann. Ich glaube aber, dass man, wenn man falsch rangeht, man in eine Art von Verstopfung hineinkommen kann.

Aufgabenorientiertes Üben

Sie haben in Ihrem Aufsatz von zwei Schritten gesprochen – und das fand ich zumindest im Geschriebenen sehr gut gegliedert (auch, wenn ich verstehe, dass sich diese Trennung nicht so scharf im eigentlichen Üben vollziehen lässt). Den Decodier-Schritt haben wir bereits hinreichend besprochen.

Das heißt, wenn wir diese Stellen alle so für uns herausgefiltert haben und wollen aus dem Spielmodus wieder in einen Arbeitsmodus kommen, wie findet dieser Übergang statt? Also wie gehen wir handwerklich im nächsten Schritt vor?

Das ist eine wunderbare Frage. Wir nehmen mal an, wir haben jetzt eine Nocturne von Chopin und wir haben all diese grundlegenden Aufgaben erledigt. Also wir kennen das Stück. Wir haben auch schon eine ungefähre Vorstellung entwickelt. Wir wissen, wie wir mit den Brems- und Strebekräfte arbeiten, wie wir artikulieren usw. Jetzt treten wir in ein neues Stadium des Übens ein, wo wir mit solchen Standard-Patterns nicht mehr weiterkommen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wenn wir in diesem Stadium arbeiten, wir den Spielmodus brauchen.

Ich beginne meinen Übetag, indem ich mich uneingespielt ans Klavier setze, das Aufnahmegerät anschalte und den Satz oder das Werk spiele. Egal was passiert. Egal wie gut oder schlecht ich mich fühle. Ich spiele, als ob Publikum vor mir sitzt. Das gibt mir dann am Morgen sozusagen den „Worst Case“. Anschließend nehme ich die Aufnahme und setze mich in den Sessel und höre mir die gesamte Aufnahme an. Takt für Takt.

Ich höre, was ich spiele. Und dann vollzieht sich, wenn ich dann beispielsweise nach wenigen Sekunden stoppe, eine Synchronisation. Ich versuche zu synchronisieren, was ich mit meiner Vorstellung höre und gespielt habe. Und ich frage mich, wo sind die beiden Bilder inkongruent? Wo klingt es nicht so, wie ich will? Das schreibe ich mir auf. So erstelle ich mir eine Arbeitsliste, die kann manchmal circa 30 bis 40 Punkte umfassen kann.

Im zweiten Schritt stelle ich mir dann die Frage, wie erarbeite ich mir nun die einzelnen Punkte? Üben bedeutet wiederholen. Was Wiederholungen angeht gibt es zwei strategische Ausrichtungen: Entweder ich arbeite mit Wiederholungsbegrenzung (z.B. 20 Mal spielen) oder ich arbeite mit zeitlicher Begrenzung (z.B. drei Minuten spielen). Und so arbeite ich mich durch die ganze Arbeitsliste durch, lasse die Aufnahme nebenher laufen und höre dann immer ganz kurz die letzten Sekunden ab.

Vom Was zum Wie

Ich hatte die die Gelegenheit gehabt, ihre digitale Klaviermethodik ein wenig vorab zu testen. Vielen Dank noch mal an der Stelle. Und weil ich kein Pianist bin, haben mich natürlich besonders die Übe-Konzepte interessiert. Weil wir es gerade von Wiederholungsbegrenzungen hatte: Wann ist der entscheidende Zeitpunkt weiterzugehen? Also wann ist die Gefahr der Monotonie zu groß? Denn es gibt ja auch den von Prof. Eckart Altenmüller beschriebenen Penelope Effekt, dass man auch zu viel üben kann und sich dann schlechte Bewegungsmuster einprägen.

Das ist ein wichtiger Punkt, der den großen Bereich metakognitive Lernstrategie betrifft. Das heißt: wie ich einzelne Tools, einzelne Werkzeuge benutze, ist das eine – sie aber dann innerhalb des Tages zur richtigen Zeit, in der richtigen Intensität, anzuwenden, ist das andere.

Als sehr wirkungsvoll hat sich herausgestellt, dass Sie eine Aufmerksamkeitsspanne von 25 bis 30 Minuten in Ihr Üben einbeziehen sollten. Das heißt: Teilen Sie Ihren Übe-Tag ein in sogenannte Slots von 25 bis 30 Minuten ein. Wenn Sie fünf Stunden Zeit haben, haben Sie zehn Slots. Natürlich nicht alle hintereinander, sondern mit kleinen Pausen.

Wie fülle ich einen Übe-Slot? Sie haben gefragt, ob es Richtwerte im Hinblick auf die Wiederholungszahl gibt. Wenn Sie bezugnehmend auf das Thema Übe-Tagebuch am Anfang unseres Gespräches Buch führen, wie viel Wiederholungen Sie bei einem Punkt gemacht haben (z.B. im Rahmen des aufgabenorientierten Übens) dann wissen Sie, diese Wiederholungszahl war gut. Wenn Sie merken, der gleiche Fehler passiert wieder, dann wissen sie, da muss ich mit höherer Intensität oder mit mehr Variabilität ran.

Ich erinnere mich noch gut an meinen Pädagogikprofessor Professor Dr. Anselm Ernst „Lehren und Lernen“.

Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht

Anselm Ernst

Das Handbuch begründet erstmalig eine allgemeine Didaktik des Instrumentalunterrichts. Es beschreibt fächerübergreifend Ziele, Lerninhalte und Lehrmethoden und bietet eine Fülle von detaillierten Vorschlägen für die Praxis. Der Leser erfährt Wesentliches über die Gestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung, das körpersprachliche Verhalten im Unterricht und die Förderung von Lernprozessen. Der instrumentale Gruppenunterricht wird in einem ausführlichen Kapitel behandelt. Das Buch stellt somit umfassend die zentralen Aspekte pädagogischer Professionalität dar.

Er hat ja doch schon etwas Legendenhaftes mittlerweile. Und ich erinnere mich noch gut daran, wie wir einmal über das Thema Over Learning sprachen. Das heißt weiter zu üben, obwohl Sie etwas schon können. In meiner Klaviermethodik findet sich dieser Punkt am ehesten in der sogenannten Stabilisierungsmethode.

Die Methode arbeitet mit Wiederholung (begrenztem Üben). Das heißt, Sie arbeiten makroskopisch. Sie nehmen, wenn Sie etwas schon ziemlich gut können, zum Beispiel eine 3/4 Seite. Die Aufgabe besteht darin, keinen Parameter, der gedankliche Frische bringen könnte, zu verändern. Sie versuchen sich zehn Mal in die Empfindung dieser Episode hineinzuversetzen. Da habe ich unglaubliche Erfahrungen gemacht. Was passiert? Sie fangen an und die erste Wiederholung klappt super. Sie arbeiten auch in einem bequemen Tempo. Auch die zweite Wiederholung klappt super. Die dritte Wiederholung: Jetzt beginnt es Ihnen schon langweilig zu werden. Aber es klappt aber immer noch. Vierte Wiederholung: Nun passieren die ersten Fehler, weil sie nicht mehr aufmerksam sind.

Sie brauchen allerdings zehn fehlerfrei Wiederholungen. Klingt auf den ersten Blick stupid – ich weiß. Warten Sie. Jetzt kommen Sie in eine Situation, die emotional der Konzertsituation entspricht. Sie können im Konzert nämlich auch nicht beliebig oft wiederholen. Die einzige Möglichkeit, damit Sie bis zur zehnten Wiederholung kommen, besteht darin, dass Sie sich wieder und wieder in diese Episode verlieben. Das heißt, Sie beginnen dann wieder zu spielen und sie richten die Aufmerksamkeit plötzlich auf eine Zwischenstimme. Das machen sie ganz intuitiv. Allein das Durchführen dieser zehn fehlerfreien Wiederholungen führt dazu, dass Sie in die Lage versetzt werden, Musik tiefer zu entdecken.

Wissen Sie, wenn Sie mit einem mit einem Ihnen nahestehenden Menschen zu tun haben, verbringen Sie ja auch Zeit mit ihm, obwohl Sie ihn schon gut kennen. Sie entdecken plötzlich Dinge an diesem Menschen, die Sie nur dann entdecken können, wenn sie weiter mit ihm Zeit verbringen. So ist es auch mit der Musik.

Wenn man es auf den Menschen überträgt, wird das Bild recht stimmig. Es braucht eine Offenheit gegenüber dem Werk, um es wieder auf die Musik zu übertragen. Dass man nicht mit der Haltung an das Werk geht „Ich kann es schon, da gibt es nichts mehr zu entdecken für mich.“. Sondern, dass man sich jedes Mal neu inspirieren, berauschen und emotionalisieren lässt. Das finde ich ganz schön. Es ist faszinierend Ihnen dabei zuzusehen, wie Sie darüber sprechen.

Und genauso wichtig wie diese Beschäftigung, dieses sich immer wieder Einlassen auf eine Episode oder ein Werk ist, ist das Weglegen und das Vergessen. Wir wissen aus den Briefen von Brahms, dass er Kompositionen monatelang ruhen ließ, bevor er wieder zurückkehrte. Ich glaube, dass das eine sehr gute Art ist zu arbeiten ist. Wenn es die Lebensumstände zulassen.

Wir reden ja gerade davon, das Werk wirklich durchzuspielen. Also wir reden von physischem Üben. Beim mentalen Üben geht es ja – wenn wir an den Auftritt, das Probespiel oder den Wettbewerb denken – immer auch darum, dass wir in die Lage versetzt werden sicherer aufzutreten und mit einer größeren Souveränität vorzuspielen. Gibt es nach diesen physischen Übe-Methoden bei Ihnen auch nochmal den Punkt zurück zum mentalen Üben? Also, dass Sie sich vorstellen, wie sich die ganz konkrete Situation vor Publikum, vor der Jury anfühlen wird?

Ich glaube, wenn wir von mentalem Üben und mentaler Vorbereitung einer Konzertsituation sprechen, dann müssen wir unterscheiden: Bereiten wir innerlich das konkrete Konzertereignis vor, in dem wir beispielsweise uns den Konzertraum vorstellen, in dem wir antizipieren, wie wir uns fühlen usw.

Auf der anderen Seite steht die mentale Arbeit am Werk selbst. Und was die konkrete mentale Arbeit angeht, so ist diese gar nicht zu trennen vom Üben am Instrument. Das heißt, das geschieht mit ebensolcher Regelmäßigkeit wie auch das Üben am Instrument. Das mentale Üben und das instrumentale Üben sind wie Einatmen und Ausatmen. Das eine geht nicht ohne das andere. Insofern ist das nicht etwas, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt im Arbeitsprozess tut. Sondern es durchzieht den gesamten Arbeitsprozess. Es ist sogar eher so, dass wenn Sie etwas schon sehr gut auch manuell beherrschen, das dann vielleicht sogar weniger Zeit am Instrument und mehr Zeit rein mental mit dem Werk verbracht wird. Das ist eine sehr individuelle Sache.

Andere Methoden

Ich würde gern abschließend den Blick weiten und auf andere Methoden schauen. Ich habe zum Beispiel die Methode von Tanja Orloff Tschekorsky in der Vorbereitung gefunden. Ich weiß nicht, ob sie Ihnen vertraut ist. Gibt es Besonderheiten an Ihrer Methode, die Sie von anderen unterscheidet, oder würden Sie sagen, das ist im Üben so individuell, dass es sich das gar nicht abgrenzen lässt?

Mir persönlich ist es wichtig, dass man als Musiker vieles kennt. Ich glaube, nur wenn man vieles kennt, kann man entscheiden, was man selbst braucht. Oder zu brauchen glaubt. Im Hinblick auf die Klaviermethodik, auf die 27 Methoden, 13 Konzepte und auf die Formulierung von über 50 Lernzielen, die ich entwickelt habe, ist es wichtig (und neu), dass ich versucht habe, es jeweils auf den kleinsten denkbaren Bausteinen herunterzubrechen. Denn das ermöglicht es den Übenden und den Lehrenden diese verschiedenen Vorgehensweisen wirklich unmittelbar nutzen zu können und direkt auszuprobieren.

Sie haben bestimmt gesehen, dass die ganze Klaviermethodik an sogenannten kleinen Lernkarten festgemacht ist. Und auf diesen Lernkarten steht in teilweise ikonographisch aufgehübschter Form der, für den jeweiligen Punkt wichtigen, Aspekt. So kann man sich sehr einfach durch die Vorgehensweisen hindurcharbeiten und entdeckt dann was für einen selbst funktioniert.

Ja, absolut. Das fand ich auch in Ihrer Online-Methode sehr gut. Alle Lektionen weisen unten auf das jeweilige Lernziel hin, auf welches sie einzahlen. Das ist eine Sache, die sich die Musik noch mehr vom Sport abschauen könnte – man denke nur an die Abbildungen an den Geräten im Fitnessstudio, die genau zeigen, welche Muskelgruppen gerade trainiert werden. Am Ende ist das ein sehr hilfreiches Wissen für jeden Musiker, aber auch für jede Person, die unterrichtet.

Also besser könnte ich es nicht zum Ausdruck bringen.

Wir könnten sicher noch weitere Stunden über das Thema sprechen. Das macht sehr großen Spaß Ihnen zuzuhören und die Leidenschaft zu sehen, mit der Sie über das Thema sprechen. Ich würde noch zwei Fragen zum zum Abschluss stellen. Was üben oder lernen Sie gerade, was Sie noch nicht so gut können?

Also im Musikalischen beschäftige ich mich gerade mit der sechsten Partita von Bach. Das lerne ich gerade und das fällt mir schwer, weil es so wenig Zeit außerhalb der Aktivitäten gibt, sich damit zu beschäftigen.

Und wenn Sie jetzt auf Ihre eigene Musikstudierenden-Zeit zurückschauen und sich aus heutiger Sicht einen Tipp mitgeben würden, um welchen Tipp Sie früher als Erstsemester froh gewesen wären. Was wäre das?

Ich würde vielleicht meinem jungen Ich mit auf dem Weg geben wollen, dass für die Raupe die Zerstörung des Kokons eine Zerstörung der umliegenden Welt bedeutet. Und erst später versteht sie, dass sie zu dem wunderbaren Schmetterling werden musste – werden konnte – nur indem der Kokon gerissen ist und zerstört wurde.

Künstlerische Entwicklungsprozesse sind schmerzhaft. Wenn man über sich hinauswächst, gibt es Wachstumsschmerzen. Und deshalb ist es so wichtig, dass man als Lehrer ganz behutsam begleitet, auch psychologisch einen angstfreien Raum schafft, in dem diese Prozesse stattfinden können. Dass man als Lernender versteht, dass ein Scheitern immer eine Chance ist, etwas zu lernen. Wenn ich nur Erfolg habe, wie kann ich da etwas lernen? Durch das Scheitern lerne ich und kann wachsen.

Der Ursprung der gesamten Klaviermethodik ist an ein solch schmerzliches Erlebnis gebunden. Ich hatte einen internationalen Wettbewerb zu spielen. Mein Lehrer schickte mich während meines Grundstudiums dorthin. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie bin ich ins Finale gekommen und war krank vor Nervosität. Nicht nur im übertragenen Sinn. Ich weiß, ich war der Situation überhaupt nicht gewachsen und bin mit wehenden Fahnen untergegangen. Ich spielte die zweite Sonate von Rachmaninow. Das ist ein irrwitzig schwieriges Stück und ich weiß nicht mehr, wie ich da das Ende erreichte. Das war der Beginn der Klaviermethodik.

Nachdem ich mich da von diesem Schock erholt hatte, stellte ich mir die Frage, wieso ich im Finale nicht auf mein gesamtes Leistungspotential zugreifen konnte. Ich hatte nicht weniger geübt als die anderen.

Dann habe ich angefangen, die Klaviermethodik zu entwickeln. Und wegen der Klaviermethodik konnte ich Professor werden. Wegen dieser Klaviermethodik konnte ich seit 2009 unzählige Seminare geben. Und auch wegen dieser Klaviermethodik haben jetzt meine Studenten die Möglichkeit, ihr Talent noch besser zu entfalten. Das heißt, der Ursprung war in etwas Negativem, aber die Frucht ist ganz positiv.

Das heißt, wenn wir beim Bild bleiben wollen, ist aus der Raupe inzwischen der Schmetterling entwachsen und fliegt seit mehreren Jahren und Jahrzehnten.

Ja und mal schauen, wie sich dieser Schmetterling dann zu etwas anderem wieder transformiert. Es geht ja immer weiter. Man hört nie auf zu lernen. Das ist das Schöne in unserem Beruf. Und dann gibt es natürlich auch außerhalb des Musischen unendlich viel, was es neu zu entdecken, neu zu lernen gibt.

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Was bringt dich näher an dein Ziel, François Bastian? https://what-is-practice.de/wie-uebt-hornist-francois-bastian/ https://what-is-practice.de/wie-uebt-hornist-francois-bastian/#respond Sun, 25 Feb 2024 22:51:06 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6364 François Bastian ist seit 2009 zweiter Hornist beim Symphonie-Orchester des Bayrischen Rundfunks – auch als BRSO bekannt. Daneben spielt er regelmäßig mit dem Blechbläser Ensemble German Brass oder den Berliner Philharmonikern. Damit aber noch nicht genug. Seit 2020 hat er an der Hochschule in Saarbrücken auch eine Professur für Horn und hat während der Pandemie… Weiterlesen »Was bringt dich näher an dein Ziel, François Bastian?

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François Bastian ist seit 2009 zweiter Hornist beim Symphonie-Orchester des Bayrischen Rundfunks – auch als BRSO bekannt. Daneben spielt er regelmäßig mit dem Blechbläser Ensemble German Brass oder den Berliner Philharmonikern. Damit aber noch nicht genug. Seit 2020 hat er an der Hochschule in Saarbrücken auch eine Professur für Horn und hat während der Pandemie seine eigene Lernplattform für das Hornspielen – „Hornskills“ – an den Start gebracht. 

Obwohl François sich in unserem Gespräch als er eher faulen Student beschrieben hat, ist sein Üben und Arbeiten klar und strukturiert aufgebaut. Freut euch auf seine Tagesroutine, die er ganz am Ende des Interviews verrät. Wir haben verschiedene Techniken zum Üben schwieriger Passagen durchgesprochen und François hat wertvolle Tipps zum Aufbau von Selbstvertrauen gegeben. 

François Bastian an der Musikhochschule Saarbrücken (Foto: Patrick Hinsberger)
François Bastian an der Musikhochschule Saarbrücken (Foto: Patrick Hinsberger)
Francois Bastian spielt Horn
François Bastian an der Musikhochschule Saarbrücken (Foto: Patrick Hinsberger)

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Das Interview mit François Bastian

Inhalt

Die erste Frage, mit der es immer losgeht, lautet: Vervollständige folgenden Satz. Üben heißt für dich?

Routine.

Gibt es gerade eine Musik, eine*n Künstler*in, der bei dir in Dauerschleife läuft?

Ja, Bruno Mars höre ich sehr viel. Und ich habe immer wieder Richard Wagner Phasen. Ich war früher schon Wagner Fan. Dann durfte ich vier Jahre lang in Bayreuth spielen und habe da natürlich, um mich vorzubereiten, die Wagner Opern gehört und einstudiert.

Zu dieser Zeit hatte ich eine besondere tägliche Routine: Um nicht zu spät zum Dienst zu kommen, hatte ich immer den Schluss des ersten Akts von Siegfrieds im Bad laufen. Ich wusste, wenn da die Stelle kommt, dann muss ich beim Shampoo sein

Also Richard Wagner im Alltag richtig live.

Ja, das finde ich inspirierend.

Absolut. Und hast du auf dein Spiel bezogen jemand, von dem du sagst, er oder sie ist eine Art Vorbild für dich?

Ein großes Vorbild ist Stefan Dohr, der Solo-Hornist der Berliner Philharmoniker. Wegen ihm wollte ich Hornist werden. Davor habe ich, durch meinen Vater, sehr viel von Hermann Baumann gehört.

Während des Studiums war meine Professorin Marie-Luise Neunecker ein Vorbild. Sie hat mir alles beigebracht. Später Wolfgang Gaag von German Brass.

Waren es dann jeweils bestimmte Aspekte, die dich in dem Spiel dieser vier Hornisten fasziniert haben?

Ja, absolut. Hermann Baumann, weil er einfach der größte Solist auf dem Instrument war. Er ist leider vor ein paar Wochen gestorben. Stefan Dohr ist als Orchestermusiker unschlagbar. Nach wie vor muss man sagen. Marie-Luise Neunecker natürlich, weil sie die erste Frau war, die so bekannt auf dem Instrument wurde. Und, die gezeigt hat, dass es eigentlich noch besser geht als die meisten Männer. Technisch unglaublich. Und Wolfgang Gaag, weil er mit seinem Ensemble German Brass auf dem Instrument so schön gesungen hat. Ich durfte circa 40 Konzert mit ihm zusammenspielen. Wir wohnen auch nur zwei Straßen voneinander entfernt. Er ist auch als Mensch eine super Inspiration.

Übe-Alltag

Jetzt hast du schon eine Formation angesprochen, in der du regelmäßig mitspielst. Du bist seit 15 Jahren Teil des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BRSO) und seit vier Jahren inzwischen Professor an der Hochschule in Saarbrücken.

Dazu kommen noch Engagements wie bei German Brass. Du hast das Orchester des Festivals in Bayreuth schon angesprochen, das Bayerische Orchester der Staatsoper habe ich hier noch stehen. Die Liste ist wahrscheinlich noch länger. Das heißt, nicht nur viele Konzerte, sondern auch viel reisen. Wie sieht ein typischer Übealltag von dir aus – wenn du sagst, Routine spielt für dich so eine große Rolle?

Ich übe tatsächlich nur, wenn ich frei habe. Das heißt, wenn ich weder Proben noch Konzerte habe. Sonst komme ich eigentlich nicht dazu. Wenn ich im Orchester spiele, hier unterrichte, oder mit einem Ensemble spiele, dann übe ich an diesem Tag nicht, sondern spiele mich einfach nur ein. Je nach Programm kürzer oder länger – im Durchschnitt circa 20 Minuten. Die ganze Arbeit muss ich schon davor gemacht haben.

Die besten Übe-Tage sind die Tage, an denen ich ganz frei habe. Meine Routine beginnt dann so: gemütlich aufstehen, Kaffee trinken, frühstücken und dann gegen 11h00 fange ich mit körperlichen Übungen an. Ein bisschen in Richtung Yoga, aber es ist mehr Mobilität, um den ganzen Körper warm zu bekommen. Das dauert ungefähr 20 bis 30 Minuten.

Dann fange ich an Atemübungen zu machen. Anschließend spiele ich mich sehr viel auf Mundstück ein (20 bis 30 Minuten). Dann übe ich eine Stunde auf dem Horn. Danach mache ich eine lange Pause, um etwas zu essen oder zum Sport zu gehen. Später am Tag übe ich nochmal eine Stunde. Insgesamt würde ich sagen, übe ich circa zwei bis drei Stunden. Davon netto Horn spielen sind 1,5 Stunden.

Wie kann man sich dein Einspielen an Probe- oder Konzerttagen vorstellen? Ist das eine Art Check, dass du einmal Stoßübungen, einmal Bindeübungen, ein paar Luftübungen machst, um zu gucken, ob alles an dem Tag da ist, was du brauchst?

Nein. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass auch wenn ich 30 Sekunden vor dem Auftritt hinter der Bühne ein paar Töne spiele, das Gefühl später auf der Bühne ein ganz anderes ist. Also nicht nur mental, von der Aufregung her, sondern wirklich physisch. Deswegen habe ich auch vorhin Routinen gesprochen.

Ich mache zwei, drei Standardübungen, aber versuche gar nichts zu checken, sondern einfach nur mit der richtigen Technik zu spielen – darauf zu vertrauen, dass ich mit dieser Technik alles spielen kann.

Was ich bemerkenswert finde, ist, dass auch ein körperliches Warm-Up zu deiner Routine zählt. Das höre ich hier in den Interviews gar nicht so oft. Wenn du den mentalen Aspekt ansprichst: Übst du bestimmte Stellen manchmal auch nur im Kopf, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie das dann ist an Konzerttagen ist?

Inzwischen weniger – aber früher sehr häufig. Wir hatten, als ich in der Akademie des BRSO war, mentales Training als Einzelunterricht gehabt. Da habe ich sehr viele Techniken gelernt, die ich auch dann anwenden musste. Gerade für das Probespiel, um die Stelle zu bekommen. Mittlerweile ist es so, dass ich ein bisschen weniger diese Übungen brauche.

Inzwischen weiß ich, wenn ich diese paar Stunden mit dem Instrument verbringe, mit mir selber, mit meinem Körper, vielleicht auch mit meinem Kopf, dann weiß ich, dass es laufen wird. Und wenn es nicht läuft, dann läuft es halt nicht. Und das ist das Gute, wenn man schon ungefähr 15 Jahre im Job ist. Man hat alles schon erlebt.

Ich habe mich schon super gut gefühlt, bevor ich auf die Bühne gekommen bin, und habe total versagt. Oder war unglaublich nervös. Es gibt Aufnahmen von mir auf Spotify mit einem Orchester, wo ich zittere. Das hört man noch ein bisschen. Ich habe auch Wochen erlebt, wo ich krank war und nicht zum Üben kam und es super gelaufen ist. Oder wo ich dachte, die fragen mich nie wieder und einen Tag später kam noch mal eine Anfrage.

„Wenn jemand ein Solo gespielt hat, dann scharrt man mit dem Fuß oder man macht ein kleines Zeichen – auch wenn es nicht perfekt war. Das ist wie eine Fußballmannschaft, die sich einfach immer gratuliert, wenn jemand was Gutes gemacht hat. Und im Orchester oder in der Musik, finde ich, muss man das auch pflegen.“

Francois Bastian

Selbstvertrauen trainieren

Das erinnert mich sehr an so einen, an so eine Art Urvertrauen, was man irgendwann in sich und seine Fähigkeiten auf dem Instrument entwickelt. Man weiß, dass man sich auf diese Basis verlassen kann. Und was ich ganz schön fand: Du hast gesagt „Naja, wenn es nicht läuft, dann läuft es halt nicht.“ Hattest du schon immer einen so entspannten Umgang mit Fehlern?

Nein. Ich glaube auch, dass man das fast nicht lernen kann. Es gibt natürlich Leute, die das als Talent haben. Aber man muss auch sagen: Am Anfang einer Karriere, oder wenn man noch im Studium ist, hat man noch nicht diese Bestätigung.

Ich habe natürlich leichtes Spiel. Ich habe hier eine feste Professur, bin in München seit 15 Jahren und ich erhalte super Anfragen. Warum sollte ich mir jetzt Sorgen machen? Ich mache mir natürlich immer noch Sorgen.

Wenn man diese Bestätigung für sein Ego braucht, ist das legitim. Ein sehr guter Tipp kam von Johannes Dengler, der Solo-Hornist an der Bayerischen Staatsoper in München. Er hat mir gesagt: Wenn du Komplimente brauchst, dann geh am Ende vom Konzert zu deinen Kollegen und sagst „Bravo, schön gespielt“. Dann wird das Gleiche zurückkommen. Schon hast du deine Bestätigung.

Das ist diese Etikette, die man im Orchester pflegt. Wenn jemand ein Solo gespielt hat, dann scharrt man mit dem Fuß oder man macht ein kleines Zeichen – auch wenn es nicht perfekt war. Das ist wie eine Fußballmannschaft, die sich einfach immer gratuliert, wenn jemand was Gutes gemacht hat. Und im Orchester oder in der Musik, finde ich, muss man das auch pflegen und diese Techniken anwenden, um eben sich das zu holen, was man braucht.

Das finde ich einen sehr schönen Vergleich. Ich frage mich manchmal nur, weil man als Spieler*in selbst weiß, dass die aktuelle Leistung nur 70 % oder 80% von dem ist, was ich eigentlich imstande gewesen wäre zu leisten. Nimmt man so ein Kompliment dann trotzdem für voll? Weißt du, wie ich meine?

Ich finde es immer wichtig den Kontext zu verstehen – so wurde ich auch erzogen. Wenn du zum Beispiel im Landesjugendorchester Saarland spielst: Innerhalb dieses Rahmens kannst du dich so professionell wie möglich verhalten. Und wenn du da gut spielst, dann weißt du, das waren jetzt die Besten aus der Region und ich glaube, ich habe mit 80, 90 % von meiner Bestleistung dazu beigetragen. Wenn wir jetzt ins BR Sinfonieorchester vorspulen – Sir Simon Rattle als Dirigent. Wenn wir eine Mahler Sinfonie spielen, gibt es diese am gleichen Abend vielleicht noch zwei oder drei Mal so auf der Welt. Das heißt, es ist wirklich die höchste Klasse. Wenn ich nur 70 % von meiner Bestleistung abrufen kann, dann ist immer noch 70 % Weltklasse. Und wenn ich mal 95 % habe, dann ist das eigentlich unglaublich. Das ist wie in einem WM Finale drei Tore zu schießen. Immer dann, wenn ich anfange zu spinnen und mir sagen, dass es nicht gut genug ist, versuche raus zu zoomen und zu schauen, wo ich jetzt eigentlich bin.

Das ist auch was, was ich meine Studierenden versuche beizubringen. Du musst dich immer wie ein Experte oder wie eine Expertin beurteilen und bewerten. Das heißt, wenn du einmal gekiekst hast, ist das sehr wenig. Du bist zum Probespiel gefahren und du warst nervös? Das ist normal. Sag nicht, dass alles negativ war, oder du könntest es viel besser. Das ist fast arrogant zu sagen. Du hast es ja gerade nicht besser gemacht. Das heißt, arbeite nun dran, dass du es beim nächsten Mal besser machst. Wenn die anderen dir gratulieren bedankst du dich. Egal von wem es kommt. Auch wenn es von deiner Mutter, deiner Schwester oder von deiner Frau kommt

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Die größte Herausforderung beim Üben ist es, sich auf bestimmte Aspekte zu fokussieren. Diese sinnvoll auszuwählen ist nicht immer leicht. Genau dabei hilft dir die what is practice Übeplan-Vorlage.

  • Definiere deine Ziele
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  • Auswertungs-Vorlage, die dich beim Erreichen deiner Ziele unterstützt
  • Übe-Tipps

Du hast in deiner Antwort zwei sehr interessante Punkte verpackt, die ich gern herausgreifen möchte. Du hast den Sport angesprochen. Was im Sport deutlich leichter ist, als in der Musik ist, dass man sehr gut Fortschritte sichtbar machen kann. Wenn ich an einem Tag einen Kilometer gelaufen bin und am nächsten Tag zwei schaffe, dann sehe, dass ich mehr gelaufen bin. In der Musik ist das sehr schwer. Wir reden von Nuancen. Klangqualität lässt sich auch nicht so leicht messen. Wie macht man seinen eigenen Fortschritt sichtbar, um auch motiviert zu bleiben?

Um es zu schaffen, habe ich immer mehr Disziplin gebraucht. Du hast den Sport angesprochen. Alles, was wir machen, gerade wir Blechbläser (aber eigentlich gilt es für jedes Instrument) hat nichts mit Magie zu tun. Das heißt, wenn ich jeden Tag meine Übungen mache, dann werden meine Muskeln stärker. Dann spüre ich bei den Übungen, dass es mir leichter fällt. Dann kann ich vielleicht schwerere Übungen machen.

Wenn ich von Routine spreche, dann heißt das jedoch nicht, dass ich die Übungen immer genau gleich spiele. Sondern ich versuche Varianten zu entwickeln. Das mache ich auch bei hornskills. Sobald eine ich eine Übung technisch kann, versuche ich am Sound zu arbeiten oder sie noch musikalischer zu gestalten.

Jetzt haben wir ein paar Mal hornskills angesprochen. Dass ist deine Online Lernplattform, wo sich jeder registrieren kann, um mit dir gemeinsam zu üben. Jetzt natürlich die spannende Frage, weil wir es anfangs schon von deinem vollen Terminkalender hatten: Wie kommt man dazu noch eine Online Lernplattform aufzubauen?

Als ich an der Hochschule in München angefangen habe zu unterrichten, habe ich festgestellt, dass die Studentinnen und Studenten anfangs am meisten von mir lernen, wenn wir gemeinsam üben. Ich habe also nicht nur einzeln unterrichtet, sondern habe angeboten, sich zum gemeinsamen Üben zu verabreden. Plötzlich waren ganz viele Leute da und wir haben einfach zusammen geübt.

Der Mensch besitzt Spiegelneuronen. Man kennt es von Kindern, die Dinge einfach so, ohne viel nachzudenken und die Theorie zu verstehen, nachmachen. Das ist das Prinzip von hornskills.

Was mir besonders gut an hornskills gefällt ist, dass du die Benefits der Übungen sehr klar strukturierst. Die Videos haben immer einen sehr klaren Fokus für welchen Bereich diese spezielle Übung gut ist. Du hast das in einem Pentagramm (5 Übe-Bereiche: hohe und tiefe Lage, Ausdauer, Flexibilität und Artikulation) grafisch schön dargestellt. Es erinnert ein bisschen an das „Wheel of Life“ aus dem Coaching-Kontext. Warum genau diese fünf Bereiche? Wir haben gerade schon über Sound gesprochen. Mir ist beispielsweise noch Gehörbildung, Repertoire oder Geschwindigkeit eingefallen.

Weil meine Erfahrung gezeigt hat, um wirklich professionell Horn spielen zu können, sind dies die wichtigsten Faktoren. Man sagt immer, dass es schön klingen muss. Aber Horn klingt an sich eigentlich sehr schön. Aber schaust du in meine Klasse oder in ein Orchester, wirst du feststellen, dass wir alle verschieden klingen. Klang ist sehr individuell – oft auch anatomisch bedingt. Aber Punkte wie sauber artikulieren, Ausdauer und für das Horn speziell eine gute Tiefe, gleichzeitig aber auch eine gute Höhe zu haben, das sind die wichtigsten Sachen. Die Herausforderungen sind nicht die schweren Konzerte, die man vielleicht zweimal in seinem Leben mit Orchester spielen darf. Sondern, ob du wirklich auf den Punkt, wenn die Mikrofone live im Radio laufen, drei Triolen gleich artikuliert spielen kannst.

Würdest du sagen, dass du früher selbst nach so einem Schema geübt hast? Dir quasi selbst einen hornskills Trainingsplan entworfen hast?

Ja, so habe ich das von meiner Professorin Marie-Luise Neunecker gelernt. Sie hat gesagt, es ist nicht wichtig, dass man stundenlang alles übt, sondern gezielt bestimmte Bereiche: zum Beispiel fünf Minuten Artikulation, fünf Minuten gestopft spielen, üben in der tiefen Lage. Dinge, die man eigentlich nie übt, weil sie keinen Spaß machen. Diese Arbeit ist natürlich nicht inspirierend.

Musik hat auch etwas mit Handwerk zu tun. Wie bei einem Tennisspieler. Serena Williams hatte ein super Tipp. Sie hat gesagt: Es ist ganz einfach. Du machst 1 Millionen Mal Vorhand, 1 Million Mal Rückhand und wenn du fertig bist, dann machst du es noch mal. So ist auch mein Konzept. Ich kann dir sehr viele Sachen beibringen, auch musikalisch. Aber dazu musst du ebenso diese einfachen Übungen machen, die wenig Spaß machen.

Das geht in eine ähnliche Richtung wie die Ericsson Studio („10.000 Stunden“) damals. Egal was du im Prinzip machen willst, wenn du es 10.000 Stunden machst, dann bist du schon gut darin. In Teilen wurde sie ja inzwischen widerlegt.

Ja, genau.

Das heißt, Fortschritt kommt quasi, indem man stetig dranbleibt.

Genau. Du brauchst natürlich auch die richtige Methode, die zu dir passt. Mein Konzept ist weg von Magie und weg von zu viel Schnickschnack –  sondern was passiert physikalisch?

Es ist sehr einfach. Du möchtest Horn spielen professionell machen, also muss deine Technik belastbar sein. Also kannst du nicht alles mit deinen kleinen Lippen lösen. Du musst es mit dem ganzen Körper machen. Deine großen Muskelgruppen, wie die ganze Atemmuskulatur oder im Halsbereich, kann man gut kontrollieren. Allerdings ist es erstmal nicht intuitiv.

Wie üben wir das Horn-Solo in Bruckners 4. Symphonie?

Ich will gerne noch einmal ganz kurz den Bogen zurück zum Anfang spannen. Gerade hast du auf Instagram bei hornskills ein kleines Quiz, in dem du jeden Tag den Notenausschnitt aus einer berühmten Horn-Stelle postest. Ich glaube, gestern war es Bruckners Vierte. Ich habe mir in der Vorbereitung die Frage gestellt: Wenn du so eine Stelle, die du gestern gepostet hast, selbst für ein Konzert erarbeiten müsstest – hast du dazu eine bestimmte Vorgehensweise?

Ich spiele zweites Horn bei uns im Orchester, das heißt, ich werde die Stelle in Bruckners Vierte eher nicht spielen. Es sei denn, unser Hornist wird in der Pause krank– davor habe ich immer Angst (lacht).

Man kennt diese Stelle. Die Streicher spielen sehr leise und das Horn muss quasi aus dem Nichts kommen. Ultra schwer. Du sprichst die Vorbereitung an. Dann schaue ich in die Noten und schaue mir die Dynamik an, die sich Bruckner vorgestellt hat. Mezzoforte. Das heißt, Bruckner wollte vielleicht gar nicht, dass es aus dem Nichts kommt. Vielleicht finde ich da eine Klangfarbe (Eine Dynamik ist nicht nur eine Lautstärke. Da steht nicht: „Bitte spielen Sie 23 Dezibel laut, sondern mit mezzoforte. Forte heißt stark und mezzo mittelstark) mit der ich in meiner Komfortzone bleiben kann. Aber dennoch im Saal gut trägt und so diese Softness rüberbringt. Das heißt: Ich würde bei so einer heiklen Stelle immer schauen, ob sie wirklich so heikel geschrieben wurde.

Und dann sind wir beim Thema Belastbarkeit. Wie kann ich es so üben, und letztendlich spielen, dass ich noch in meiner Komfortzone bleiben kann. Natürlich musst du bis zur Grenze üben. Du musst schauen, wo deine Grenze ist. Aber du spielst letztendlich in deiner Komfortzone und fühlst dich dabei immer wohler und kannst vielleicht dann, nach ein paar Jahren, mehr Risiko nehmen.

Es ist oft so, dass man Profis hört und denkt sie hätten richtig viel Risiko genommen. Aber wenn man zum Beispiel Stefan Dohr in Berlin nimmt. Er nimmt kein Risiko am Anfang der Vierten. Er kann die Stelle wirklich 100 Mal so leise spielen. Ich sage nicht, dass es totale Routine für ihn ist. Aber er weiß ganz genau, was er tut.

Und wenn es um viel geht, zum Beispiel im Probespiel oder im Probejahr, dann würde ich erstmal dort bleiben, wo ich mich spielerisch wohlfühle und mein Selbstvertrauen aufbauen kann.

Und wenn die Stelle jetzt eher technisch herausfordernd ist, übst du sie dann auch in verschiedenen Wegen?

Ja, auf jeden Fall! Was bei mir gar nicht klappt, ist perfekt zu üben. Es funktioniert überhaupt nicht. Dieses „Ich übe es genauso, wie ich es im Konzert spielen möchte“ klappt nicht bei mir. Ich muss ganz viele Angriffswinkel während des Übens haben. Natürlich muss es dann am Schluss rhythmisch und von der Musikalität richtig sein. Aber technisch gesehen würde ich sie anders erüben (z.B. in Jazz-Phrasierung, mit ein bisschen mehr Groove oder gestopft). Sodass ich auf der Bühne auf viele Versionen und viele Werkzeuge zurückgreifen kann.

Wir haben ja ganz am Anfang über deinen vollen Terminkalender gesprochen. Hast du bewusst frei gewählte Tage, an denen du kein Horn spielst?

Im Jahr habe ich schon Phasen, in denen ich gar nicht spiele. Meistens im Sommer, wenn ich nicht gerade ein Festival spiele. Dann mache ich schon fünf bis sechs Wochen Pause. Ich versuche diese freie Zeit schon einzuplanen. Wenn ich im Orchester viel gespielt und viel unterrichtet habe, dann kann ich auch mal so einen Tag Pause einlegen. Das tut mir sehr gut. Ich versuche das sehr professionell zu machen.

Ich habe die Autobiografie von Novak Djokovic gelesen. Sein Ziel war früh die Nummer 1 der Welt zu werden. Er hat sich dann immer gefragt: Bringt mich das, was ich gerade vorhabe näher oder weiter weg von meinem Ziel? Das ist es auch, was ich versuche, meine Studierenden beizubringen. Die Antwort ist: Nicht immer ist Üben besser. Manchmal ist es besser, du gehst mit deinem Freund, mit deiner Freundin in ein Wellness-Wochenende. Das ist in dem Moment das Beste für dich und da brauchst du Erfahrung.

Auch ein Tipp an dieser Stelle: Man muss sich das Üben so attraktiv wie möglich gestalten. Ich fahre jede Woche zehn Stunden Zug, um nach Saarbrücken zu kommen. Wenn ich jetzt nur ein Buch mitnehme, was ich nicht lesen werde und nichts zu dann wird mir die Fahrt keinen Spaß machen. Aber ich kann mir auch super Kopfhörer kaufen, sodass die Fahrt angenehm ist und ich mich am Freitagabend, nach einem Konzert, wirklich freue fünf Stunden Zug zu fahren.

Und beim Üben ist es genau das Gleiche. Ich versuche alles immer so attraktiv wie möglich zu machen. Wenn ich eine Pause einlege, dann mache ich nicht nur eine Pause und langweile mich, sondern ich plane was anderes damit.

Das finde ich ein sehr schöner Gedanken. Was lernst du gerade? Oder übst du gerade, was du noch nicht so gut kannst? Darf auch gerne nicht musikalisch sein.

Ein Dauerthema bei mir sind meine Tenniskünste. Es ist immer sehr lustig zu sehen, wenn Musiker einen Sport wie Tennis lernen. Sie gehen es an wie früher im Studium. Das heißt: Ich muss das studieren. Ich muss zu Tenniscamps fahren. Ich muss die besten Trainer in München finden. Deswegen hat Tennis lernen mir unglaublich viel auch für das Hornspielen gebracht. Ich bin nach wie vor am Lernen und das ist ein Gebiet, so wie beim Hornspielen oder in der Musik generell, wo man einfach nie fertig wird. Und das ist das Schöne daran.

Man merkt hier wieder, wie nahe sich doch Profisport und Profimusik sind. Hättest du einen Tipp an dein jüngeres Erstsemester Musikstudenten-Ich, um den du damals froh gewesen wärst?

Ich hätte früher gern mehr und besser geübt. Das wurde mir nicht richtig beigebracht. Ich wusste schon, dass ich mich ein paar Stunden am Tag mit dem Instrument beschäftigen muss. Man sagt Musik sei wie eine Sprache und ich bin ein großer Fan dieser Denkweise. Man muss ein Vokabular auf seinem Instrument entwickeln und dafür muss man einfach ein paar Stunden am Tag mit dem Instrument verbringen.

Du hast nach einem Tipp für mein Erstsemester-Ich gefragt. Oft hat man das Gefühl „Das ist jetzt entscheidend für das ganze Leben und die ganze Karriere“. Es ist entscheidend, wenn du es nicht machst. Wenn du es nicht machst, dann hast du wahrscheinlich keine Chance mehr Horn-Spielen professionell ausüben zu können. Wenn du es machst, und nach 3-4 Jahren merkst, das ist doch nichts für dich, dann kannst du immer noch etwas anderes machen. Du bist immer noch Anfang 20, hast aber schon eine Disziplin aufgebaut. Das hilft dir auch für deinen anderen Werdegang.

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Wie üben wir gesund, Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn? https://what-is-practice.de/gesundes-ueben-und-musizieren-claudia-spahn/ https://what-is-practice.de/gesundes-ueben-und-musizieren-claudia-spahn/#respond Mon, 29 Jan 2024 10:13:13 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6315 Wie üben und musizieren wir gesund? Wenn jemand diese Frage gewissenhaft beantworten kann, dann Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn. Sie studierte Medizin und Musik und leitet – gemeinsam mit Bernhard Richter – seit knapp 20 Jahren das Freiburger Institut für Musikermedizin. Ich wollte wissen: Wie sieht aus musikermedizinischer Sicht der perfekte Übeplan aus. Angefangen beim… Weiterlesen »Wie üben wir gesund, Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn?

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Wie üben und musizieren wir gesund? Wenn jemand diese Frage gewissenhaft beantworten kann, dann Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn. Sie studierte Medizin und Musik und leitet – gemeinsam mit Bernhard Richter – seit knapp 20 Jahren das Freiburger Institut für Musikermedizin. Ich wollte wissen: Wie sieht aus musikermedizinischer Sicht der perfekte Übeplan aus.

Angefangen beim Warm-Up über Pausen und Erholungsphasen bis zur Prävention von typischen Musikerkrankheiten gibt Claudia Spahn wichtige Tipps wie ein gesundes Üben und Musizieren klappt. Ihr fundiertes Wissen und ihre langjährige Erfahrung machen sie zu einer führenden Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der Musikergesundheit.

Darüberhinaus erzählt Claudia Spahn von dem neuen Master-Studiengang „Musikphysiologie“ in Freiburg, der sich zur Aufgabe gemacht hat die Lücke zwischen Theorie und Praxis weiter zu schließen.

Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn bei meinem Besuch im Freiburger Institut für Musikermedizin

Literaturempfehlungen zum gesunden Üben und Musizieren

Musikergesundheit - Claudia Spahn

Musikergesundheit in der Praxis

In diesem umfangreichen Buch geben euch Prof. Dr. Claudia Spahn, Prof. Dr. med. Bernhard Richter und Alexandra Türk-Espitalier Hintergrundwissen zu den körperlichen und psychischen Grundlagen des gesunden Musizierens. Sie helfen, die Ursachen der eigenen Symptome zu finden und geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Mir gefallen die abwechslungsreichen Übungen am Ende, die sich perfekt in das tägliche Üben integrieren lassen.


Der gesunde Musiker

Der gesunde Musiker

Wenn wir an Warm-Up oder Aufwärmen im musikalischen Kontext denken, schließt das in den allermeisten Fällen bereits unser Instrument mit ein. Aber auch unser Körper will optimal vorbereitet ins Üben starten. Pia Skarabis gibt hierzu in „Der gesunde Musiker – Traningsprogramme für Beruf und Hobby“ wertvolle Ausgleichsübungen für die unterschiedlichen Instrumente.

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview mit Claudia Spahn

Inhalt

Vervollständige folgenden Satz: Üben heißt für Sie….

In einem selbstbestimmt strukturellen Rahmen sich persönlich musikalisch weiterentwickeln.

Welche Musik (Album / Künstler) läuft bei Ihnen gerade in Dauerschleife?

Selbst musizierend sind aktuell mehrere Titel von Friedrich Hollaender, einem jüdischen Komponisten im Berlin der 1920/30er Jahre. Die meisten werden ihn sicher wegen seiner Songs mit Marlene Dietrich kennen. Hier gibt es einige tolle Titel, die mich schon mein ganzes Leben lang begleiten und die ich auch immer wieder in meinem Kabarett-Duo mit einem Sänger spiele.

Und hörend auch gerne Blues und Jazz – gar nicht immer nur Klassik.

Gibt es eine CD, die Sie musikalisch (auf Ihr Spiel bezogen) am meisten geprägt?

Nein, das kann ich so nicht sagen. Ich finde ganz viele Künstler ganz toll.

Ich glaube, dass ich vom Typ her eher eine Pionierin in ganz vielen Dingen bin. Inzwischen kann ich ja schon etwas zurückblicken. Deshalb kann ich es mir erlauben, eine kleine Quintessenz meines Lebens zu ziehen. (lacht)

Ich finde, man kann von allen Menschen etwas lernen. Alle sind interessant. Auch in meiner Pubertät hatte ich nie Idole, da ich kein Mensch bin, der auf einzelne Leute total abfährt. Ich würde mich eher als jemand beschreiben, der von vielen Menschen gerne etwas annimmt. Allerdings vieles auch aus mir selbst heraus entwickele.

Aber natürlich habe ich auch im Studium ganz viel von meinen Lehrerinnen und Lehrern mitgenommen. So hat mich selbstverständlich auch meine Professorin stark geprägt. Aber es gibt nicht den einen Namen, den ich hier nennen würde.  

Musik trifft Medzin

Claudia Spahns Werdegang

Sie haben zunächst das Medizin-Studium angefangen und dann Ihr Musik-Studium angeschlossen – wenn ich richtig recherchiert habe?

Ja.  Ich habe begonnen mit dem Medizin-Studium, das ist richtig.

Ich habe in Würzburg mein Abitur gemacht und war schon während der Schulzeit in einer Vorklasse der Musikhochschule, wie man heute sagen würde. Allerdings habe ich dann zunächst Medizin in Freiburg studiert – jedoch weiterhin intensiv Musik gemacht und mir dort auch Unterricht gesucht.

Mir hat die Musik doch sehr gefehlt und daher wollte ich mich weiter professionell ausbilden. Daraufhin habe ich die Aufnahmeprüfung gemacht und nach dem Physikum (also nach dem vierten Semester des Medizin-Studiums) parallel Musik studiert.

Hat sich Ihr Üben im Verlauf der Zeit verändert? Möglicherweise auch mit dem Wissen aus dem Medizin-Studium?

Also um ganz ehrlich zu sein: Ich habe ja in den 1980er Jahren studiert und da gab es noch gar keine so großen Verbindungen zwischen Medizin und Musik.

Natürlich es gab schon seit den 1970er das Institut von Christoph Wagner in Hannover – damals bezeichnete er es noch als Musikphysiologie. Aber die Musikermedizin war da noch nicht sehr bekannt.

Im Grunde waren es auch ganz viele Zufälle, die da eine Rolle spielten. Bei mir war dieser Zufall, als ich Ärztin im Praktikum war – also kurz nach Abschluss meines Medizinstudiums. Zu dieser Zeit wurde ein Kongress in New York veranstaltet, der sich „Performing Arts Medicine“ nannte. Eine Kollegin wurde darauf aufmerksam und so fuhr ich mit ihr gemeinsam dorthin. Das war sozusagen die erste Berührung mit diesem Feld. Durch den Kongress entstanden dann auch weitere Verbindungen hier in Deutschland, bspw. mit der Fachgesellschaft (DGfMM).

Eine direkte Verbindung zwischen Musik und Medizin habe ich während meiner Studienzeit gar nicht direkt wahrgenommen. Obwohl sich beide Bereiche trotz ihrer Verschiedenheit bereichert haben. Die Verbindung kam erst viel später – im Jahr 2002, als ich mein erstes Lehrangebot an der Freiburger Musikhochschule nach Anfrage der damaligen Rektorin Frau Professor Nastasi angeboten habe.

Und wenn Sie jetzt sagen, die beiden Bereiche haben sich bereichert: Haben Sie dann auch versucht das Wissen über korrekte Bewegungen und richtiges Lernen aus dem Medizinstudium in die Musik zu übertragen?

Das ist eine sehr interessante Frage, die Sie stellen. Den ganz konkreten Transfer, wie wir ihn heute aus den Neuro- und Trainingswissenschaften kennen, gab es noch nicht. Ich glaube, dass ich vieles von dem allerdings schon intuitiv gemacht habe.

Für mich war die Bereicherung eher auf der persönlichen Ebene. Das Medizin-Studium ist ja gerade am Anfang eine große Massenveranstaltung. Mich hat daran immer gestört, dass niemand gemerkt hat, ob ich da war oder nicht. Da war natürlich das Musikstudium mit seinem Einzelunterricht und der künstlerisch-kreativen Entwicklung ein schöner Gegensatz, um sich gesehen zu fühlen. Das hat mich sehr voran gebracht.

Andererseits hat es in der Musik schon geholfen, dass die Medizin Studierenden etwas objektivierendes (eine Meta-Ebene einnehmen können) beibringt. Diese Art sein Tun reflektieren und relativieren zu können hat mir im Musikstudium schon geholfen – allerdings eher auf einer abstrakteren Ebene.

Tipps zum optimalen Übe-Plan aus Sicht der Musikermedizin

Dann ist es ja schön zu sehen, dass sich der Kreis nun etwas schließt. Unter anderem mit dem neuen Master-Studiengang „Musikerphysiologie“, der in Freiburg kürzlich geschaffen wurde. Dieser vereint ja genau diese beiden Welten und könnte weiter dazu beitragen, dass sich die Lücke zwischen Theorie und Praxis weiter und weiter schließt.

Genau. Es ist ja interessant, dass sich dieses gesamte Feld weiter und weiter entwickelt und wir insgesamt in Deutschland, mit allen Instituten und der Fachgesellschaft, in der Entwicklung vorne mit dabei sind.

Wir haben jetzt hier in Freiburg konkret eine Profilierung und eine Differenzierung vorangetrieben. Denn auf der einen Seite gibt es die Musikermedizin, bei der es um die Behandlung spezifischer gesundheitliche Probleme bei Musizierenden aller Couleur geht. Die spannende Frage dabei war immer schon: Was macht die Medizin an einer Musik- oder Kunsthochschule?

Schließlich ist das auch die spannende Frage hier in Ihrem Podcast: Wie gelangen Informationen – heute würde man vielleicht sogar aus den Lebenswissenschaften sagen – in die Ausbildung von Musizierenden? Insbesondere von Profimusikerinnen und Musikern. Das nennen wir dann Musikphysiologie. Gerade hier gibt es viele Inhalte, die neu in die Ausbildung kommen und es sich deshalb lohnt, daraus ein eigenes Grundlagenfach zu entwickeln.

Seit diesem Wintersemester kann man dieses Fach als Hauptfach bei uns im Master studieren. Dort geht es vor allem darum, die Grundlagen (Wie bereite ich mich auf Auftritte und Probespiele vor? Wie entwickle ich mich weiter? Wie übe ich dafür? Wie vermittle ich das, was ich bin? Was möchte ich zur Gesellschaft beitragen?) zu erwerben und zu entwickeln. Als Studierender kann man dann sehr individualisiert mithilfe von bspw. (Orchester-)Praktika z.B. gesundheitliche Aspekte in die Orchester tragen oder, wie das Beispiel der Kooperation mit der AOK zeigt, die Unterstützung von Musikvereinen in unserer Gesellschaft voranbringen. Immer davon ausgehend, dass es sich um sehr gut ausgebildete Musikerinnen und Musiker handelt.

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Das klingt nach einem sehr ganzheitlichen Konzept. Wenn wir dieses Themenfeld nun etwas im Detail aufgreifen: Lassen sich aus musikermedizinischer Sicht Empfehlungen für ein geeignetes Warm-Up geben? Auch wenn natürlich allgemeingültige Hinweise schwierig sind, gibt es Empfehlungen für das Aufwärmen unseres Körpers noch vor dem ersten Ton auf dem Instrument?

Das ist schön, dass Sie das so natürlich ansprechen. Denn es ist immer noch nicht so, dass wir das als Selbstverständlichkeit gelernt haben. Anders als im Sport oder im Tanz.

Am Anfang geht es vor allem darum den Körper, aber auch die mentale Verfassung, auf das Üben einzustimmen. Das ist der weitere Sinn des Warm-Ups. Natürlich geht es auch um die Durchblutung und das Anwärmen der Gelenke – also Übungen machen, die dies unterstützen und ankurbeln. Durchaus auch in die Aktion kommen (z.B. Abklopfübungen).

Was ebenso sehr wichtig ist, ist das der Körper in einer guten Grundposition – und Ausrichtung sein sollte. Wir achten im Sitzen und im Stehen immer darauf, dass die Mittelachse sehr präsent und gut eingestellt ist. Aus dieser Position gehen wir zum Instrument bzw. kommt das Instrument zu uns. Diese Schritte sollten bewusst vollzogen werden – gerade auch, wenn man selbst unterrichtet.

Wir sitzen hier gerade sehr zurückgelehnt, mit den Beinen überschlagen jeweils. Das ist sicher nicht die Mittelachse, von der Sie sprechen?

Im Sitzen wäre das nicht angelehnt, wie wir hier sitzen. (lacht) Sondern aufrecht auf dem Stuhl. Die beiden tiefsten Punkte, also unsere beiden Sitzbeinhöcker, sollten wir gut spüren können. Sie sind die beiden tiefsten Punkte, die aufliegen. Wenn man sich an diesen ausrichtet, richtet sich automatisch die Wirbelsäule mit auf. Dazu gibt es ein sehr passendes Image aus der Ideokinese. In dieser Position hat man eine gute Freiheit für Arm-, Finger- und Handbewegung – und natürlich auch für die Atmung.

Musikerpausen und Erholungsphasen: Die Notwendigkeit von Ruhezeiten

Gerade in der Musik hält sich weiter hartnäckig das Mantra „mehr gleich besser“ (Übezeit). In der Vorbereitung bin ich auf ein Gespräch mit Horst Hildebrandt (Musikermediziner der ZHDK) gestoßen in dem er sagte, dass er seinen Studierenden empfiehlt in Blöcken à jeweils 10 Minuten maximal zu üben. Jeweils von 2 Minuten Pause dazwischen unterbrochen. Das Ganze wird 5x wiederholt und darauf folgt eine große Pause. Würden Sie das unterschreiben bzw. gibt es musikermedizinisch eine Empfehlung wie das Verhältnis von Spannung und Entspannung beim Üben sein sollte?

Da mischen sich für mich zwei Punkte. Zunächst bin ich der gleichen Meinung wie mein Kollege Horst Hildebrandt. Wichtig ist vor allem ein Konzept zu haben und nicht in Dauerschleife Übungen stupide zu wiederholen (obwohl das seltener wird).

Übt man in kleinen Portionen ist man sehr konzentriert und fokussiert. Dadurch ist die Präzision in den Wiederholungen sehr hoch. Man vermeidet dadurch den Penelope-Effekt – also sich bei zu langem Üben falsche Bewegungen anzueignen. Das Intervall von 10 Minuten ist, wenn man mental konzeptualisiert und konzentriert übt, auch gesund.

Wenn man auf die musikermedizinische Seite geht, ist dies auch genau die Empfehlung, die wir in unseren Therapien geben. Nämlich in kleinen Portionen üben, die unterhalb der eigenen Schmerzgrenze bleiben. Natürlich können diese dann sogar noch kürzer sein.

Der Alltag ist allerdings oft genau gegen ein solches Üben. Das Problem ist, dass Studierende die Zeit, in der sie den Überaum haben, ausschließlich am Instrument verbringen wollen. Denn vermeintlich ist nur diese Zeit die „gute“ Zeit. Also ein total an der Dauer orientiertes Übe-Paradigma. Das ist natürlich sehr schwierig. Allerdings stellen wir bei uns in den Seminaren fest, dass es hierzu auch eine Gegenbewegung gibt.

Die Pause sollte dann weg vom Instrument sein und möglichst mit Ausgleichs- oder Entspannungspausen gestaltet werden.

Was könnten solche Ausgleichsübungen sein?

Ich finde Ausgleichsübungen sind super einfach, da man mit ihnen leicht seinem eigenen Körpergefühl nachgehen kann. Wenn man eine gewisse Zeit in einer bestimmten Position verharrt hat, hat man ganz natürlich das Bedürfnis sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Also zum Beispiel vom Beugen ins Strecken.

Das setzt natürlich voraus, dass man sein Smartphone möglichst weit weg liegen hat. Sonst ist die Verlockung, gerade in diesen Mini-Pausen sehr groß, doch zum Handy zu greifen.

Das stimmt natürlich. Übt man nach diesem Muster, ist es wichtig ein klares Konzept zu haben, wie man damit umgeht. Schließlich gibt es auch nützliche Funktionen auf unseren Smartphones. Die Gefahr ist aber (das kenne ich auch), dass man sich gedanklich in Nachrichten oder Ähnlichem verliert.

Ganz aktuell wurden die Ergebnisse der Pisa-Studie veröffentlicht. Erneut schnitt Deutschland schlecht ab – ein Kritikpunkt ist unter anderem auch die schwache Integration von modernen Lehrmethoden. Wenn ich jetzt an solche modernen Konzepte wie das Üben in kleinen Blöcken à 10 Minuten denken, könnte man auch in der Musikpraxis Parallelen entdecken. Tun sich Erkenntnisse aus der Wissenschaft schwer in die Übe-Praxis zu gelangen? Haben Sie ein ähnliches Gefühl?

Ja, das ist auch ein langer Weg. Bestimmte Veränderungen im Denken benötigen einfach ihre Zeit. Wenn ich allerdings zurückschaue in meine eigene Unterrichtszeit als Studentin in der Musikhochschule, sehe ich dort bereits große Unterschiede. Auch das Interesse und die Offenheit diesem Thema gegenüber ist inzwischen sehr viel größer geworden. Das stellen wir nicht nur bei unseren Studierenden fest.

Typische Krankheitsbilder von Musiker*innen und ihre Prävention

Jetzt sind wir hier bei Ihnen am Freiburger Institut für Musikermedizin. Bevor wir gleich auf das Themenfeld Prävention noch zu spreche kommen, können Sie uns sagen, welche Krankheiten Sie hier typischerweise am häufigsten behandeln?

Damit man es sich besser vorstellen kann: Wir haben hier eine Ambulanz, die ähnlich wie andere Ambulanzen in Klinken organisiert ist. Allerdings stehen bei uns überall Instrumente. Wir haben mehrere Fachärzte sowie Physio- und Stimmtherapeuten.

Das häufigste Krankheitsbild als Symptom ist Schmerz – im weiteren Sinne Überlastungssyndrome. Zumeist im oberen Bereich des Körpers – oftmals in den Unterarmen.

Daneben gibt es auch, das haben wir in unserem Lehrbuch Musikermedizin unterschieden, Krankheiten (wie z.B. Arthrose), die die Musikausübung betreffen und beeinträchtigen gleichzeitig aber auch durch das Musizieren verstärkt werden. Auch einzig musikspezifische Erkrankungen wie die fokale Dystonie oder Lampenfieber/Auftrittsangst werden hier behandelt.

In der Vorbereitung bin ich auf eine Studie von Heiner Gembris Studie aus 2012 gestoßen. Darin wurden Orchestermusiker*innen und Musikstudierende gefragt, ob sie an körperlichen Beschwerden leiden, die das Musizieren erschweren. Bei den Orchestermusiker*innen waren es 55% (schon mehr als ¼ bei den unter 30-Jährigen. Besonders Streichinstrumentalisten sind davon wohl überdurchschnittlich oft betroffen.

Wieso quälen wir uns so gern?

Dieses alte „no pain, no gain“ hat besonders die ältere Generation an Musikerinnen und Musikern noch stärker verkörpert. Allerdings löst sich dies nach und nach auf. Letztlich rollen wir das Feld von hinten auf: Sie mit Ihrem Podcast ebenso wie bspw. unser neuer Studiengang hier in Freiburg.

Dass es bei einer so besonderen, und besonders schönen, Berufsausübung auch zu spezifischen Krisen kommen kann, ist denke ich – auch im Vergleich zu anderen hochspezialisierten Leistungsberufen, weniger erstaunlich. Wichtiger ist, wie man darauf eingestellt ist und welche Tools man gelernt hat, um sich wieder anzupassen. Daher ist das Thema Resilienz so entscheidend – nicht nur auf mentaler Ebene, sondern auch erweitert auf den Körper. Resilienz ist etwas, dass man jeden Tag herstellen muss. Ohne auch dabei in „Resilienzstress“ zu kommen.

Allerdings muss man auch nicht in Ängstlichkeit verharren und denken, der Beruf ist so schlimm. Ich bin kein Freund davon das Thema zu „kathastrophisieren“. Wichtig ist, dass man wieder in Erholung kommt. Auch hier ist die Sportwissenschaft und Sportmedizin wesentlich weiter. Wir schauen in der Musik aktuell hier noch zu wenig drauf.

Mit Resilienz haben Sie ja bereits das große Themenfeld Prävention angesprochen. Dem sollte dann vermutlich in der Musiker*innen-Ausbildung weiter noch ein größer Stellenwert zugesprochen werden, um genau dem vorzubeugen?

Ja, absolut. Wenn wir als Fachvertreterinnen und Fachvertreter die Grundlage so vermitteln, dass Musizieren letztlich mit Freude – so einfach es klingt – und körperlicher und geistiger Gesundheit geleistet werden kann und auch so gesehen wird – sowohl in der Amateur und Profiwelt – dann haben wir unglaublich viel gewonnen.

Die Chance ist, dass wir zeigen, welche Erkenntnisse die Musikausübung positiv befördern. Wenn wir das schaffen, sind wir am Kern dessen, worum es geht. Dann wird sich hoffentlich daraus Gesundheit mit ergeben.

Lampenfieber

Sie haben auch viel zum Thema Lampenfieber geforscht. Gerade dann, wenn aus Lampenfieber Auftrittsangst wird und uns Versagensängste hemmen bzw. sich körperlich bemerkbar machen (Blockaden, Gedächtnisverlust, muskuläre Anspannung), wirkt sie sich ja massiv auf unser Spiel aus.

Für mich ist der Umgang mit Lampenfieber und Auftrittsangst auch Teil des Übens. Denn die mentalen Ansätze, die wir hierzu haben, sind eine große Chance, die dort mitgeübt werden können.

Gerade in den Phasen wie z.B. dem Studium, in denen das Verhältnis von Üben und Auftritten sehr zu Gunsten des Übens liegt, den Umgang mit Lampenfieber einzuüben ist sinnvoll. Ich versetze mich also in die Rolle des Vorspiels/Konzerts hinein und stelle mir vor, wie die Auftrittssituation ablaufen wird. Dadurch lassen sich Auftrittssymptome positiv konditionieren.

Früher gab es oftmals die Auffassung, dass wenn man ausreichend geübt hat, man kein Lampenfieber haben muss. Das halte ich für etwas verkürzt. Oftmals stimmt es eben nicht, weil die Situation sich zeigen zu müssen im Auftritt/Probespiel, nochmals andere Dinge freisetzt. Eine gute Vorbereitung ist sicher wichtig für das Gelingen eines Auftritts, allerdings noch keine Garantie.

Außer dem klassischen Üben (also reproduzierendes Üben) ist es wichtig weitere Tools zu lernen, wie beispielsweise die Sekundenschnellentspannung, Anker und anderes. Dieses muss dann natürlich auch ins Üben integriert werden.

Daran schließen auch sehr schön die beiden letzten Folgen mit Annemarie Gäbler vom NDR Sinfonieorchester, mit der wir übers Probespiel gesprochen haben und die Folge mit Prof. Dr. Silke Kruse-Weber in der es um den Umgang mit Fehlern ging, an.

Outro

Was lernen (üben) Sie gerade, was Sie noch nicht können (gerne auch nicht musikalisch)?

Aber was ich wirklich noch lernen möchte, ist Saxofon spielen. Das mache ich dann, wenn ich endlich mehr Zeit und regelmäßig Zeit zum Üben haben.

Welchen Tipp würden Sie Ihrem jüngerem, Erstsemester-Musikstudenten-Ich gerne mitgeben, um den Sie damals froh gewesen wären?

Das ist schwierig. Ich fand mein Studium super.

Ich muss sagen ich hatte wirklich sehr tollen Input und habe viele tolle Menschen kennengelernt. Das Studium ist sicher eine wichtige Phase, aber danach geht es ja noch weiter. Wie wir heute wissen, hören wir ja nie auf zu lernen.

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Was lernen wir aus unseren Fehlern, Silke Kruse-Weber? https://what-is-practice.de/fehlermanagement-aus-fehlern-lernen-silke-kruse-weber/ https://what-is-practice.de/fehlermanagement-aus-fehlern-lernen-silke-kruse-weber/#respond Mon, 20 Nov 2023 11:04:38 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6200 Fehlermanagement in der Musik Wir alle machen Fehler. Doch was verraten sie uns über unser Üben und wie können wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen? Ihr merkt schon: In der heutigen Folge dreht sich alles um das „aus Fehlern lernen“ – oder anders formuliert: Das Fehlermanagement in der Musik. Mit Prof. Silke Kruse-Weber habe ich… Weiterlesen »Was lernen wir aus unseren Fehlern, Silke Kruse-Weber?

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Fehlermanagement in der Musik

Wir alle machen Fehler. Doch was verraten sie uns über unser Üben und wie können wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen? Ihr merkt schon: In der heutigen Folge dreht sich alles um das „aus Fehlern lernen“ – oder anders formuliert: Das Fehlermanagement in der Musik.

Mit Prof. Silke Kruse-Weber habe ich mir ich das Thema von drei Seiten angeschaut: Zu Hause beim Üben, bei Konzerten auf der Bühne und natürlich aus der Sicht einer Lehrperson. Welche Tipps Prof. Silke Kruse-Weber aus ihrer langjährigen Forschung zum Umgang mit Fehler hatte, erfahrt ihr in dieser Folge.

Silke Kruse-Weber war bis Ende September 2022 Professorin für Instrumental- und Gesangspädagogik an der Kunstuniversität Graz. Seit Oktober 2023 ist sie Vertretungsprofessorin für Musikpädagogik/Instrumental- und Gesangspädagogik am Leopold Mozart College für Musik der Universität Augsburg. Vor ihrer akademischen Laufbahn studierte sie Klavier und Evangelische Kirchenmusik und arbeitete als Pianistin sowie Instrumentallehrerin für Klavier. Im Podcast erzählt sie von ihrem persönlichen Weg in die Wissenschaft.

Silke Kruse-Weber (Foto: Aleksey Vylegzhanin)

Literaturempfehlungen

Reflect! Buchcover

Reflect!

Ein Beobachtungs- und Reflexionstool für Instrumental- und Gesangsunterricht

Mithilfe eines Kartensets entwickelte Silke Kruse-Weber ein Beobachtungs- und Reflexionstool für den Musikunterricht. Erschienen in den Grazer Schriften zur Instrumental- und Gesangspädagogik (Waxmann Verlag).

Das Buch erschien im Juli 2023.


Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern

Kreative Potenziale beim Musizieren und Unterrichten

In diesem Sammelband finden sich verschiedene Aufsätze, rund um den Umgang mit Fehlern. Es entstand im Rahmen des Symposiums „Exzellenz durch Umgang mit Fehlern“.

Der Sammelband erschien im Jahr 2012.


Die Kunst der Lehre - Waloschek, Gruhle

Die Kunst der Lehre

Ein Praxishandbuch für Lehrende an Musikhochschulen

In diesem Sammelband von Maria Anna Waloschek und Constanze Gruhle findet sich ein Aufsatze von Prof. Dr. Silke Kruse-Weber und Victoria Vorraber . Thema: Umgang mit Fehlern im Spannungsfeld zwischen Fehlerfreundlichkeit und Perfektionsstreben

Die Kunst der Lehre erschien 2022 und fasst damit einen sehr aktuellen Stand der Forschung zusammen.

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Prof. Silke Kruse-Weber lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview mit Silke Kruse-Weber

INHALT

Vervollständige folgenden Satz: Üben heißt für Sie….

Die Musik und mich umfassend erforschen.

Welche Musik (Album / Künstler) läuft bei Ihnen gerade in Dauerschleife?

In Dauerschleife gibt es aktuell keine Musik. Aber Martha Argerich mit den Bach Sonaten für Violoncello und Klavier, bzw. im Original für Gambe, höre ich sehr sehr oft. Sie begleiten mich seit Jahrzehnten durch mein Leben.

Welche CD / Welcher Künstler*in hat Sie musikalisch (auf Ihr Spiel bezogen) am meisten geprägt ?

Um ehrlich zu sein gibt es hier eine Schallplatte, die ich als Konfirmandin geschenkt bekommen habe: Die Balladen von Frédéric Chopin mit Artur Rubinstein. Die g-Moll Ballade hatte es mir damals so angetan, dass ich Klavier studieren wollte.

Von der Musikerin zur Musikpädagogin

Sie haben zunächst Evangelische Kirchenmusik und später Klavier studiert. Und haben dann– wenn man so möchte – Ihre akademische Laufbahn mit einem Musikwissenschaftsstudium und einer Promotion in Musikpädagogik fortgesetzt. Daneben waren Sie lange Zeit auch weiter künstlerisch aktiv. Beides ist sehr zeitintensiv. Wie sah Ihr persönliches Üben über diese Zeit aus?

Als ich bereits mehrere Jobs innehatte, fand mein Üben zumeist in Blöcken statt. Für bestimmte Konzerte habe ich mich in den Monaten zuvor gezielt und intensiv vorbereitet. Aber es war nicht mehr das tägliche Üben direkt nach dem Aufstehen am Morgen, so wie es zuvor war. Das konnte es nicht mehr sein, da meine Zeit auch mit anderen Dingen ausgefüllt war.

Wie hat Ihr Üben von Ihrer Forschung profitiert?

Meine Forschungstätigkeiten sind erst seit ca 2000 im Rahmen meiner Dissertation dazugekommen. Allerdings, wenn ich jetzt erneut mit dem Musizieren anfangen sollte, dann würde dies ganz sicher Auswirkungen auf mein Üben haben.

Wie anders würden Sie heute üben?

Ich würde bewusster, noch spielerischer und weniger eng fokussierend auf nur ein bestimmtes Ziel üben. Viel mehr erforschen, was alles möglich ist. Kurz um: umfassender üben.

Wie haben Sie sich entschieden, die aktive musikalische Karriere für die wissenschaftliche einzutauschen? Gab es hierfür einen speziellen Anlass?

Das war in der Tat ein langer Prozess. Als ich damals noch Pianistin und Klavierlehrerin war, erhielt ich ein Stipendium für eine Promotion. Zunächst war dies ein externaler Grund diese sehr reizvolle Arbeit aufzunehmen. Gleichzeitig war ich zu dieser Zeit auch bereits Mutter und suchte nach Wegen, mein Leben weniger stressig zu gestalten. Ich hatte Probleme mit Aufführungsangst und wollte dies nicht so stark auf die Familie projizieren. Also suchte ich nach neuen Perspektiven.

Im Laufe der Zeit fand ich ein Dissertationsthema: es waren Schriften über das Lernen und Lehren im Klavierunterricht im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Zunächst verstand ich diese kaum, da ich nicht wusste auf was es zu achten galt. Wer ist wer? Was ist überhaupt wichtig? Mit der Zeit fand ich dann aber einen Zugang.

Gleichzeitig unterrichtete ich bereits und stellte fest, dass mir das Unterrichten (und auch das eigene Üben) viel mehr Spaß bereiten. Ich hatte zunehmend mehr „theoretische Brillen“, mit denen ich das Unterrichten begründen und beobachten konnte. Das hat mir nicht nur sehr viel Freude gegeben, sondern wirkte sich auch positiv auf die Schülerinnen und Schüler aus. Weiter und weiter habe ich mich dann zu einer Musikpädagogin transformiert und dies dann schließlich auch bis in die wissenschaftliche Arbeit ausgedehnt.

„Ich hatte zunehmend mehr „theoretische Brillen“, mit denen ich das Unterrichten begründen und beobachten konnte. Das hat mir nicht nur sehr viel Freude gegeben, sondern wirkte sich auch positiv auf die Schülerinnen und Schüler aus.“

Silke Kruse-Weber

Fehler im eigenen Üben (zu Hause)

Von Fehlerfreundlichkeit und Risikomanagement

Also man kann sagen, ein sehr persönlicher Beweggrund letztlich. Irgendwann hat sich Ihr Forschungsschwerpunkt auf das Themengebiet „Fehler“ ausgeweitet. Die naheliegendste Frage ist da natürlich: Was war Ihr letzter Fehler und wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe gerade vor fünf Minuten einen Fehler entdeckt (lacht).

Anlässlich dieses Podcasts habe ich in einem meiner Artikel geschaut und gesehen, dass dort ein Wort nicht stimmt. Nun gut, ich kann darüber inzwischen schmunzeln. Es regt mich nicht besonders auf, aber ich habe es festgestellt. Es lässt sich jetzt nicht mehr korrigieren. Ich denke aber, man versteht die Message dennoch.

Man könnte sagen, dass Sie also eine gute Gelassenheit mit der Zeit entwickelt haben. Wenn wir die Frage nun auf die Musik übertragen, stellen wir fest, dass an Hochschulen und im Musikunterricht oftmals das Prinzip „Fehlervermeidung“ praktiziert wird. Das überträgt sich dann logischerweise auf das eigene Üben zu Hause. Warum ist dieses Prinzip nicht förderlich?

Vor allem für das eigene Musizieren nicht förderlich. Es ist ein erster Schritt hin zur Entwicklung einer möglichen Auftrittsangst.

Wenn ich, wie ich es eingangs bereits geschildert habe, daraufhin übe keine Fehler mehr zu machen, wird der Spielraum, in dem ich musizieren kann, immer enger. Das löst Angst aus. Andererseits möchte man natürlich ein großartiges Ergebnis abliefern und freut sich, über ein gelungenes Konzert. Allerdings sind die Wege dorthin nicht linear.

Was sind Ihrer Meinung nach bessere Strategien, um im eigenen Üben mit Fehlern umzugehen?

Da gibt es viele Ansätze. Bekannt ist die sogenannte Fehlerfreundlichkeit bei der man sich mit Fehlern auseinandersetzt und Gelegenheiten bietet, sie zu verbessern.

Zur Vorbereitung einer Aufführung ist das sogenannte Risikomanagement wichtig. Das heißt, dass ich eine Aufführung nicht so plane, als dass sie ideal verläuft und ich mich nicht darauf vorbereite, welche Störfaktoren eintreffen könnten. Sondern im Gegenteil: Je mehr mögliche Störfaktoren ich mir kreativ im Vorfeld überlege und den Umgang mit ihnen beim Üben trainiere, desto emotional entspannter meine Haltung während der Aufführung.

Meine Klavierschüler*innen haben diese Art des Risikomanagement im Unterricht besonders geliebt. Eine kleine Anekdote dazu: Kurz vor einer Aufführung haben wir im Unterricht eine Aufführungssituation simuliert, bei der ich mit Papier geraschelt oder als Höhepunkt vom Klavier-Hocker gefallen bin. Die Schüler*innen sollten möglichst weiterspielen und sich nicht ablenken lassen.

Lassen Sie uns gerne hier einmal einsteigen. Den Effekt, auf den Sie hier gerade anspielen ist der sogenannte „Rumpelstilzchen-Effekt. In Ihren Büchern geben Sie noch weitere Störbeispiele, wie z.B. direkt nach dem Sport spielen (mit hohem Puls) oder mit verschiedenen Raumtemperaturen experimentieren.

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Fehlermanagement

Nicht den Fehler vermeiden, sondern die daraus resultierenden negativen Konsequenzen

Fehler sollten einfach, schnell und ohne Stress behoben werden. Nehmen wir das Beispiel einer Etüde, die wir gerade neu lernen. Im Erarbeitungsprozess verspielen wir uns in Takt 17. Wie würden wir nun im besten Fall vorgehen?

Fehlermanagement brauche ich dann, wenn ich mich auf der Bühne verspiele. Das bedeutet keine Grimassen machen, nicht aufhören, sondern einfach weiterspielen. Ein gutes Vorbild hierzu sind Expert*innen, die ebenfalls Fehler machen. Allerdings hört man sie nicht mehr so stark.

Im Erarbeitungsprozess eines neuen Stücks verhält es sich anders. Es gibt das deliberate practice. Darin teilt man das Stück in verschiedene Bereiche auf und schaut, welche Schwierigkeiten wo liegen.

Zum einen kann man sich harmonisch und satztechnisch mit der Fehlerstelle beschäftigen. Man kann sie in verschiedenen Varianten spielen. Man kann versuchen zu erforschen, wie man die Stelle bewegungstechnisch anders / besser musizieren kann. Auch die Frage, welche Aussage mit dieser Stelle getroffen werden soll, ist ein wichtiger Punkt. Also den Fokus auch auf die musikalische Intention legen und nicht nur auf die Bewegung.

Ich finde, man kann gar nicht oft genug betonen, wie wichtig dieses variantenreiche Üben ist. Können Sie erklären, warum dies so erfolgsversprechend ist?

Es gibt nicht nur ein Ziel, sondern es kommt darauf an, verschiedenes, also auch verschiedene Ziele und Foki zu explorieren. Es geht darum, weniger bewertend zu sein und nicht mehr EIN Richtig oder Falsch aufkommen zu lassen. Stattdessen werden die Spielräume geöffnet und im Hinblick auf eine Erweiterung exploriert. Wie könnte ich es spielen? Was will ich sagen? Wie könnte ich es anders spielen? was könnte ich noch ausprobieren? Das heisst es, umfassend zu üben und zu forschen. Die Folge ist, dass wir im Musizieren dann flexibler und emotional entspannter gegenüber sogenannten „Fehlern“ sind und kreativer mit Ihnen umgehen können, weil wir uns freier fühlen.

An dieser Stelle vielleicht kurz der Verweis auf das Interview mit Susan Williams, die in ihrem Buch „Optimal Üben“ mit den Spielkarten eine ähnliche Übe-Strategie vorschlägt. Ein typisches Gegenargument, dass sofort kommen könnte wäre, dass sobald man einmal einen Fehler eingeübt hat, es umso länger braucht, bis man ihn wieder überschrieben hat. Würde das nicht für eine sofortige Korrektur sprechen?

Man muss unterscheiden: wir sprechen nicht von einer gewissen Nachlässigkeit. Es gibt von Gerhard Mantel den schönen Ausdruck „Das Prinzip Hoffnung“ – also nur zu hoffen, dass es besser wird, muss unterschieden werden von einem bewussten und umfassenden Üben. Bei einem nachlässigen Üben können sich in der Tat Fehler einschleichen.

Fehler als Lehrkraft – Wie ermögliche ich Erfolg bei meinen Schüler*innen?

Wir haben den Fall ein Schüler, eine Schülerin oder im Hochschulkontext ein Student oder eine Studentin verspielt sich. Was wäre die beste Art zu reagieren als Lehrkraft? Sofort korrigieren, ignorieren und darauf setzen, dass der Schüler den Fehler sowieso selbst bemerkt hat?

Wenn Lernende aus Fehlern lernen sollen, dann müssen wir sie dazu aktivieren, selbst über ihre Fehler nachzudenken. Bei falschen Tönen habe ich meinen Klavierschülern mit dem sogenannten C-Turm eine gewisse Hilfestellung aufgebaut. Durch Fragen habe ich dann, vor allem die Anfänger-Kinder, hingeleitet, wie sie die richtige Tonhöhe finden können. Es ist wichtig, nicht sofort das Ergebnis zu verraten. Sonst ist ein Lernen aus Fehlern nicht möglich. Leider passiert dies immer noch viel zu häufig – besonders aus Zeitersparnisgründen.

Setzt das jeweils voraus, dass sich die Schüler*innen über ihren Fehler bewusst sein müssen?

Die Nachfragen funktionieren auch dann, wenn die Schüler*innen ihren Fehler vielleicht gar nicht selbst bemerkt haben. Natürlich: Je neuer man in einer Sache ist, desto weniger weiß man möglicherweise, welche Fehler man macht. Selbstverständlich muss ich ihnen dabei Orientierungshilfen an die Hand geben. Einen Weg zum Ziel, den sie spüren und nachvollziehen können.

Im Vorgespräch hatten wir kurz über die Podcast-Folge mit Prof. Eckart Altenmüller gesprochen. Auch bei ihm ist „spüren“ ein sehr wichtiger Punkt. Die Aufgabe von uns Musikpädagogen ist es daher, dieses „spüren“ bei unseren Schüler*innen im Unterricht erlebbar zu machen.

Zum Abschluss dieses Themenkomplexes hätte ich noch eine Nachfrage zum Bereich „Angst“. In ihrem Buch „Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern“ beschreiben, Sie dass das richtige Maß an Angst auch durchaus etwas positives sein kann. Wie ist das gemeint?

Man sagt, dass ein mittleres Maß an Angst das Ideal ist. Bei einem zu geringen Grad an Anspannung ist man gelangweilt (zu wenig Erregung) und bei einem zu viel an Anspannung tritt Überforderung ein, die bis zur Aufführungsangst gehen kann.. .  

Grafik zu Yerkes Dodson Gesetz

Mehr Informationen dazu:

Robert M. Yerkes and John D. Dodson (1908): the relation of strength of stimulus to rapidity of habitformation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18, 459-482.

Unterschiedliche Rollen der Lehrkraft

In Ihrer Literatur beschreiben Sie sehr ansprechend die verschiedenen Rollen einer Lehrkraft. Besonders gut hat mir der Vergleich Meister und Gärtner gefallen: Also der Lehrer wie ein Gärtner, der Rahmenbedingungen für seiner Schüler*innen schafft versus der Lehrer als Meister. Was steckt hinter diesen beiden Vergleichen?

Das sind zwei Rollen, die man als Lehrperson einnehmen kann. Und beide haben ihre Berechtigung. Es wird häufig polarisiert und gesagt, dass die Meister-Schüler-Lehrer vorbei sei und es nur noch die Ermöglichungsdidaktik geben sollte. Allerdings sind es bestimmte Momente, Stadien und Situationen, und vor allem die Bedürfnisse der Lernenden, die darüber entscheiden, welche Rolle ich einnehme.

Ich denke, dass wir schon weiterhin die Meisterin oder der Meister in unserer jeweiligen Domäne bleiben müssen. Zum Problem wird es, wenn man einseitig unterrichtet und nicht in der Lage ist diese Rollen zu wechseln.

Im Sinne der Ressourcenorientierung, wo man von Fehlern ausgeht, liegt es doch auch nahe auch den Lehrkräften diese Fehler zuzugestehen bzw. wäre es nicht sogar „förderlich“ – im Sinne von „ich verspiele mich selbst und zeige dir, dass Fehler völlig ok sind“?

Für mich klingt das komisch (lacht). Aber man muss sich gar nicht anstrengen, um sich zu verspielen. Das passiert von ganz allein. Es ist dann nur wichtig, mit diesen Situationen authentisch und offen umzugehen. Die Fehler also anzusprechen. Schülerinnen und Schüler mögen das.

„Es geht nicht um ein Automatisieren, sondern es geht darum sich intensiv mit der Musik auseinanderzusetzen und das Vertrauen darin zu haben, sie bestmöglich (nach seinen Möglichkeiten) vorbereitet zu haben. Es geht darum, eine Haltung zu entwickeln, die es mir ermöglicht auch während der Aufführung eine Gelassenheit und Flexibilität zu haben. Nicht nur meinen Fehlern gegenüber, sondern auch im Duktus des Werkes und der Musik.“

Silke Kruse-Weber

Fehler auf der Bühne

Passiert ein Fehler auf der Bühne, gibt es oft zwei unterschiedliche Umgangsformen, die man beobachten kann.

  • Ich verspiele mich und lasse mir anmerken, dass ich mich verspielt habe (denke weiter über den Fehler nach und verspiele mich in der Folger weiter)
  • Ich verspiele mich und sehe den Fehler als Motivation mich noch mehr anzustrengen

In Ihrer Literatur beschreiben Sie das erste Szenario als den sogenannten „Tausendfüßler-Effekt“…

Ja, der Tausendfüßler-Effekt kann passieren, wenn plötzlich eine Störung in einem vermeintlich automatisierten Ablauf auftritt. Wenn ich mich bspw. zu wenig umfassend (besonders auch kognitiv) mit einem Stück auseinandergesetzt habe, sind Blackouts nahezu vorprogrammiert, da ich das Stück nur motorisch gelernt habe.

Wenn Sie einen Tausendfüßler fragen, welchen Fuß er zuerst nimmt, kann er das plötzlich nicht mehr sagen. Beim Musizieren ist dies allerdings anders und daher ist auch die Vorbereitung so entscheidend. Besonders das wie wir üben.

Es geht nicht um ein Automatisieren, sondern es geht darum sich intensiv mit der Musik auseinanderzusetzen und das Vertrauen darin zu haben, sie bestmöglich (nach seinen Möglichkeiten) vorbereitet zu haben. Es geht darum, eine Haltung zu entwickeln, die es mir ermöglicht auch während der Aufführung eine Gelassenheit und Flexibilität zu haben. Nicht nur meinen Fehlern gegenüber, sondern auch im Duktus des Werkes und der Musik.

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Das Entscheidende ist also nicht nur das (motorische) Zusammenschütteln, wie wir eben besprochen haben, sondern das Werk zugleich auf vielfältige Weise kognitiv zu erfassen (harmonisch, historisch, satztechnisch…).

Genau. Dadurch lässt sich der Tausendfüßler-Effekt minimieren. Und vieles mehr. Man gewinnt Selbstwirksamkeit, insofern das Musizieren auf einem Durchdringungsprozess aller wesentlichen Parameter basiert.

Typisch ist beispielsweise, dass man sich nur die schweren Stellen anschaut und die vermeintlich leichten Stellen werden übersprungen. Das ist schade, denn genau dort kann der Tausendfüßler-Effekt auftreten.

Auf die folgende Frage widersprechen mir in den meisten Fällen meine Gäste. Ich würde allerdings wetten, dass Sie hingegen mir zustimmen würden: Das klingt nach einem sehr analytischen Vorgehen in der Vorbereitung auf ein Stück, oder?

Ich denke ja. Das Analytische ist wichtig.

Also eine Art „Fahrplan“ im Vorfeld zum Üben zu entwickeln ist durchaus sinnvoll?

Sie meinen, dass man sich dies vorher alles aufschreibt?

Nein, nicht zwangsläufig verschriftlichen – aber zumindest gedanklich einen Überblick im Vorfeld haben, bevor man an sein Instrument geht.

Sich im Vorfeld Ziele zu setzten und mögliche Wege dahin, das ist sehr wichtig. Noch wichtiger ist es allerdings sich im Nachhinein zu reflektieren, inwiefern die eigenen musikalischen Ziele erreicht wurden und wie ich mich dabei gefühlt habe. Dadurch verhindere ich zum Beispiel, dass sich ungünstige Bewegungen einschleifen.

Das Verschriftlichen dieses Prozesses ist nochmals eine größere Herausforderung. Ich habe dies einmal mit Studierenden versucht, die das sehr ungern gemacht haben. Jedoch haben einige im Nachhinein festgellt, wie hilfreich diese Arbeit war. In der Theorie ist dies von sehr großem Vorteil, allerdings wird es in der Praxis noch wenig umgesetzt. Möglicherweise steht hier noch ein Paradigmenwechsel vor uns…

Abschließend zum Thema: Gäbe es auch Ihrer Sicht einen Wunsch, wie sich die Fehlerkultur im Musikunterricht ändern sollte oder sehen Sie hier, dass sich bereits ein Wandel zum besseren vollzieht?

Ich denke ein Paradigmenwechsel hat bereits stattgefunden, jedoch ist er noch nicht überall angekommen. Es wird zunehmend mehr geforscht und es entstehen weiter Professuren für Instrumental- und Gesangspädagogik. In kleinen Schritten geht es vorwärts…

Wenn es einen Wunsch gibt, dann, dass die Polarisierung zwischen Theorie und Praxis weiter miniert wird und sie als etwas Zusammengehöriges begriffen werden.

Outro

Was lernen (üben) Sie gerade, was Sie noch nicht können? Gerne auch nicht musikalisch.

Kochen.

Welchen Tipp würden Sie Ihrem jüngerem, Erstsemester-Musikstudenten-Ich gerne mitgeben, um den Sie damals froh gewesen wären?

Es geht nicht um das wie viel des Übens, sondern um ein umfassendes und tiefgehendes Forschen.

„Es geht nicht um das wie viel des Übens, sondern um ein umfassendes und tiefgehendes Forschen.“

Silke Kruse-Weber

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Wie gelingt das Probespiel? https://what-is-practice.de/wie-gelingt-das-probespiel/ https://what-is-practice.de/wie-gelingt-das-probespiel/#respond Sun, 29 Oct 2023 18:16:23 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6065 Annemarie Gäbler ist seit 2017 fest im MDR Sinfonieorchester angestellt. Seit langem wollte ich schon eine ganze Folge rund um das Thema Probespiel-Vorbereitung machen. Umso mehr freut es mich, dass Annemarie mir Rede und Antwort gestanden hat und von ihren ganz persönlichen Erfahrungen erzählt. Denn, was so süß klingt, ist für die meisten Musikerinnen und… Weiterlesen »Wie gelingt das Probespiel?

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Annemarie Gäbler ist seit 2017 fest im MDR Sinfonieorchester angestellt. Seit langem wollte ich schon eine ganze Folge rund um das Thema Probespiel-Vorbereitung machen. Umso mehr freut es mich, dass Annemarie mir Rede und Antwort gestanden hat und von ihren ganz persönlichen Erfahrungen erzählt. Denn, was so süß klingt, ist für die meisten Musikerinnen und Musiker eine echte Qual. Wie sich Annemarie auf dieses, für ihre Karriere so wichtige Vorspiel, vorbereitet hat, und welche Tipps sie jungen Musikern mitgeben würde, erfahrt ihr in dieser Folge.

Annemarie Gäbler schwarz-weiß Portrait mit ihrer Geige
Annemarie Gäbler

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Annemarie Gäbler lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview mit Annemarie Gäbler

Inhalt

Vervollständige folgenden Satz: Üben heißt für Dich….

Mich sehr konzentriert auf eine Sache vorbereiten.

Welche Musik (Album / Künstler) läuft bei dir gerade in Dauerschleife?

Aktuell gibt es keine Musik, die in Dauerschleife läuft. Ich höre sehr viele unterschiedliche Genres – vor allen Dingen 80er Jahre Musik. Klassische Musik höre ich besonders gerne im Konzert. Nur selten lege ich zu Hause mal eine Sinfonie auf. Wenn dann doch eher mal Jazz.

Gehst du in der Vorbereitung auf anstehende Konzerte auch dann eher in ein Konzert oder bereitest du dich eher mit CD vor?

Nein, da nutze ich auf jeden Fall CDs und Spotify. Ich finde, dass ist auch eine der wichtigsten Vorbereitungen als Orchestermusiker.

Gibt es einen Musiker, eine Musikerin, die dich musikalisch (auf Dein Spiel bezogen) am meisten geprägt?

Ich glaube, da kann ich schon meine Eltern nennen. Ich bin in einer Musikerfamilie groß geworden und meine beiden Eltern sind auch Geiger. Von klein auf habe ich miterlebt, wie zu Hause Konzerte vorbereitet wurden. Auch ganz unterschiedlicher Musikgenres. Ohne es wahrscheinlich bewusst wahrzunehmen, habe ich da sicher bereits ganz viel mitgenommen.

„Ich habe während des Studiums Einiges unterschätzt, was zum Beruf und zum Probespiel dazu gehört.“

Annemarie Gäbler

Die Vorbereitung auf das Probespiel

Du hast in Weimar Geige studiert. War für dich schon während dieser Zeit klar, dass dein Weg mal in Orchester führen soll?

Eigentlich schon viel früher. Wenn mich jemand mit 16 Jahren gefragt hat, was ich später werden möchte, war meine Antwort immer: „Ich studiere Musik und gehe ins Orchester“.

Ich frage mich auch heute, was aus mir geworden wäre, hätte ich nicht von klein auf mein Hobby gehabt.

Hattest du jemals einen Plan B, für den Fall, dass es mit der Orchesterstelle nicht klappt?

Unterrichten fand ich ebenfalls sehr spannend. Meine Mutter war auch Geigenlehrerin, sodass ich auch hier viel miterleben konnte. Ich fand es immer faszinierend, wie man die speziellen Fertigkeiten des Musikmachens anderen Menschen beibringen kann.

Aber auch Klassenunterricht an einer Schule wäre ein möglicher Plan B für mich gewesen. Zum Glück kam dieser Plan B aber nie zum Tragen, da Plan A funktioniert hat.

Unser Thema heute soll das Probespiel sein. Sowohl die Vorbereitung als auch der Tag selbst und natürlich der Umgang damit, wenn es mal doch nicht klappt. Hast du das Gefühl, dass man während des Studiums gut auf diesen Berufswunsch vorbereitet wird, oder sind Praktika und Akademien eigentlich fast schon unerlässlich?

Jein, ja. Ich glaube, ich habe während des Studiums Einiges unterschätzt, was zum Beruf und zum Probespiel dazu gehört.

Ich finde, man ist während des Studiums sehr stark in diesem „Einzelüben“ drin: also perfekt seine Einzelstimme spielen können und Violinkonzerte vorbereiten. Letztendlich ist das allerdings nur ein Teil des Probespiels – aber es gibt ja auch noch den Teil der Orchesterstellen. Diesen habe ich nicht nur im Studium, sondern wahrscheinlich bis zum Probespiel hin unterschätzt.

Erst jetzt, wo ich auf der anderen Seite auch Probespiele abnehme, realisiere ich mehr und mehr deren Relevanz. Obwohl uns die Wichtigkeit der Orchesterstellen von unseren Lehrern regelmäßig eingebläut wurde.

Hast du in der Vorbereitung Praktika absolviert, um ein Gefühl für die Probespiele und das Orchesterspiel zu bekommen?

Die Probespiele für Akademien und Praktika waren ein kleiner Teil davon. Während der Akademie-Zeiten hat man aber vor allen Dingen gelernt, wie man innerhalb des Orchesters funktioniert. Man findet sich in den Klang seiner Gruppe, in meinem Fall den der 2. Violinen ein. Es zählt nicht, wie toll man alleine klingt. Das ist ein ganz anderes spielen, als während des Probespiels finde ich.

„Ich finde, man ist während des Studiums sehr stark in diesem „Einzelüben“ drin: also perfekt seine Einzelstimme spielen können und Violinkonzerte vorbereiten. Letztendlich ist das allerdings nur ein Teil des Probespiels – aber es gibt ja auch noch den Teil der Orchesterstellen.“

Annemarie Gäbler

Aus dem Vorgespräch weiß ich, dass du bereits in deiner Jugend ein paar „Mini“-Probespiele durchlaufen hast. Gewinnt man dadurch zumindest einen kleinen Eindruck oder lässt sich das mit dem tatsächlichen Probespiel gar nicht vergleichen?

Ich glaube, jedes Vorspiel, das man absolviert, bereitet auf die Probespielsituation vor.

Natürlich ist das Probespiel nochmal ein Härtefall. Anders als bei einem Wettbewerb, wo man in der ersten Runde die Chance hat sich zwanzig Minuten zu präsentieren, sind es im Probespiel (wenn man Glück hat) maximal fünf Minuten.

Es ähnelt etwas dem 100-Meter Sprint. Dort muss alles von Beginn an funktionieren. Man hat nicht die Chance, wie beim Marathon, später nochmal etwas herauszuholen. Jedes Probespiel trainiert dafür natürlich. Man muss vor allen Dingen wissen, wie der eigene Körper in Stresssituationen reagiert.

Das bedeutet aber auch, dass man sehr genau seinem eigenen Körper zuhören muss, oder? Diese Fähigkeit trainiert man ja nicht automatisch in seiner Musiker*innen-Ausbildung?

Ich hatte Glück, dass wir in unserer Geigen-Klasse jede Woche ein Vorspiel hatten. Dieses regelmäßige Training hat mich unglaublich gestärkt.

Wenn ich mir dann Aufnahmen aus diesen Vorspielen angehört habe, merkte ich, dass ich meist sehr hastig war. Daraus habe ich für mich das „Mantra: Zeitlupe“ formuliert. Angefangen vom Gang auf die Probespielbühne oder zum Auftritt, habe ich versucht meine Bewegungen langsam auszuführen, da sich sonst diese Hektik auch auf mein Spiel ausgewirkt hat. Was am Ende jedem einzelnen gegen diese Aufregung hilft, muss man allerdings selbst herausfinden.

Hat sich dein Üben in dieser Zeit deutlich von deinem „normalen“ Üben unterschieden?

Ein großer Punkt in meiner Vorbereitung, war dass ich in den Wochen vor dem Probespiel jeden Tag das Programm einmal durchgespielt und mich dabei aufgenommen habe. Die Aufnahmen waren dann jeweils die Grundlage für mein Üben. Ich habe mir angehört, was gut klang und an welchen Stellen es noch etwas zu tun gab. Das habe ich dann am nächsten Tag geübt.

Alleine zu wissen, dass man sich selbst aufnimmt, bringt schon Stress. Ich war in der Vorbereitungszeit sehr viel genauer als sonst. Und am Ende ist es diese Perfektion, die es beim Probespiel ausmacht.

Könntest du 2-3 Übe-Möglichkeiten aus dieser Zeit nennen, um genau diese Perfektion zu trainieren – abseits der Aufnahmen?

Also Orchesterstellen üben waren natürlich ein sehr großer Punkt. In einer Bruckner-Sinfonie gibt es eine Stelle, die intonatorisch für die 2. Geigen sehr schwierig ist. Hierzu habe ich mir damals Referenztöne aufgenommen, die zur Harmonie passen, um anschließend dazu üben zu können.

Natürlich habe ich auch versucht so viel wie möglich anderen vorzuspielen. Während meiner Akademiezeit haben wir uns häufig getroffen und uns gegenseitig vorgespielt. Man kann dadurch auch schauen, wie die anderen schwierige Stellen meistern. Alleine das Zuhören kann einen schon sehr viel weiterbringen.

Hast du dann auch manchmal Ideen deiner Kolleg*innen „geklaut“?

Vielleicht habe ich mir den ein oder anderen Fingersatz abgeguckt (lacht).

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Hast du dir bewusst in dieser Zeit vorgenommen, weniger Konzerte zu spielen, um dich perfekt auf die unterschiedlichen Vorspiele vorzubereiten?

Während meiner Akademie-Zeit hatte ich verschiedene Orchester-Dienste. Ich war sehr froh darum, dass diese mir etwas Struktur über den Tag gegeben haben und ich nicht „nur“ Zeit zur Vorbereitung auf die Probespiele hatte.

Was in dieser Zeit allerdings gelitten hat, waren private Aktivitäten mit Freunden. Wenn ich wusste, dass ich am kommenden Vormittag üben musste, konnte ich den Abend davor nicht noch mit in eine Kneipe gehen.

Der Tag des Probespiels

Wenn wir uns vorstellen, der Tag X ist gekommen. Wie sieht dein Tag aus? Hast du spezielle Rituale am Morgen oder vielleicht noch sogar am Abend davor?

Ich hatte natürlich unglaubliches Glück, dass ich in der Stadt gelebt habe, in der auch mein Probespiel stattfand. Wenn wir uns diesen Fall einmal vorstellen, hat es mir immer gutgetan, nochmal an die frische Luft zu gehen. Ich bin also sehr sicher mit dem Fahrrad zum Probespiel gefahren. Davor habe ich mir zu Hause circa 30-45 Minuten eingespielt. Allerdings nur langsam und keine schnellen Läufe mehr.

Als ich damals beim MDR angekommen bin, hat man schon aus allen Räumen Geigentöne gehört. Ich habe es immer vermieden mich dort nochmal in einem Raum, gemeinsam mit anderen, einzuspielen. Das hat mich eher verrückt gemacht. Ich habe mich dann versucht zurückzuziehen und in Ruhe Noten auf der Geige ohne Ton zu greifen.

Nach dem Einruf des Orchesterinspektors in den Vorspielsaal, werden jedem Kandidaten zufällig Nummern zugelost. Diese legen dann die Reihenfolge der ersten Runde fest. Meistens findet sie hinter einem Vorhang statt. So weiß niemand aus der Jury, wer wann spielt. Die erste Runde dauert auch am längsten. Es ist also sehr viel mit Warten verbunden.

Sind alle Kandiat*innen durch, stimmt das Orchester ab, wer es in die zweite Runde geschafft hat. Dort spielt man ein romantisches Konzert mit Klavierbegleitung. Nach einer erneuten Beratung stimmt das Orchester ab, wer es in die dritte Runde geschafft hat. Dort sind dann die Orchesterstellen an der Reihe.

Wie ich vorhin schon gesagt habe, sind Orchesterstellen wirklich etwas, das ich unterschätzt habe. Man bereitet sich so intensiv auf die Violinkonzerte vor – natürlich machen diese auch mehr Spaß zu spielen. Losgelöst vom eigentlichen Werk sind die Orcherstellen auch nochmal um einiges schwieriger. Das Orchester hört in der dritten Runde dann ganz genau hin, ob du alles Informationen beachtest, die in den Noten stehen: Dynamik, Artikulation, Strichart, Intonation.

Wenn ich dir so zuhören, klingt das vor allem nach ganz viel Warten. Wie bereitet man sich dann kurz bevor man an der Reihe ist, nochmal auf sein Vorspiel vor? Spielt man sich jedes Mal nochmal ein?

Man rechnet auf jeden Fall durch, wann man ungefähr dran ist. Kurz bevor es soweit ist, nimmt man schon die Geige nochmal in die Hand.

Ich empfand es vor allen Dingen als Herausforderung, dass die Räume klimatisch so anders waren. Im Orchestersaal war es oftmals viel kühler als den Räumen, in denen man sich zuvor aufgehalten hat. Das ist auch ganz praktisch für die Frage „Was ziehe ich an?“ ein Problem.

Wie ist das Gefühl hinter einem Vorhang zu spielen?

Natürlich beeinflusst der Vorhang klanglich das Ergebnis. Aber so geht es ja jedem Kandidaten. Ich fand es sogar ganz charmant, in der ersten Runde für mich zu sein.

Warst du weniger aufgeregt?

Ich war gelöster. Ob ich weniger aufgeregter war, kann ich gar nicht sagen.

Du hast am Anfang gesagt, dass für dich mit 16 Jahren bereits klar war, dass du ins Orchester möchtest. Am Ende hängt die gesamte Karriere unter Umständen von diesem einen Vorspiel ab. Das ist natürlich ein unglaublicher mentaler Druck. Wie gehst du in diesen Situationen mit Fehlern um? Hast du dir darüber im Vorfeld Gedanken gemacht und das möglicherweise sogar trainiert, indem du dich bewusst hast ablenken lassen?

Jetzt, wo du es so sagst, wäre das sicher eine tolle Vorbereitung gewesen (lacht). Aber, dass ich bewusst Fehler eingebaut habe, habe ich nicht trainiert.

Für mich war immer die Schwierigkeit, dass wenn ich mich verspielt habe, ich noch länger über diesen Fehler nachgedacht habe. Obwohl es weiterging. Dann ist natürlich sofort der nächste Fehler passiert. Von daher hätte sich dein Vorschlag gut in meiner Vorbereitung gemacht.

Hast du dir dann zumindest Gedanken gemacht, wie du reagierst, wenn du dich verspielen solltest? Also dein Mantra ist nicht nur „Zeitlupe“ sondern auch „Weiterspielen“.

Ich glaube, ich habe das auch vor allen Dingen durch die vielen Aufnahmen trainiert, die ich in dieser Zeit gemacht habe. Dadurch, dass ich die Stellen am nächsten Tag geübt habe, an denen ich mich tags zuvor verspielt hatte, war ich gut vorbereitet. Ich glaube, das Probespiel-Programm ist mit Abstand das Programm, dass ich bisher am meisten geübt habe.

„Letztlich ist das Probespiel auch eine mentale Herausforderung.“

Annemarie Gäbler

Nach dem Probespiel

Wie geht man am besten mit Absagen um? Du hast das selbst ja auch ein paar Mal erleben müssen? Wie schwer ist es sich immer wieder erneut auf diese Prüfungssituation einzulassen?

In meine aller ersten Probespiele bin ich nicht mit der Vorstellung gegangen, diese zu gewinnen. Sondern ich wollte anfangen diese Situation zu trainieren. Daher war ich sehr locker und konnte schauen, was passiert. Wenn es dann für mich in eine zweite Runde ging, habe ich mich unglaublich gefreut.

Probespiele muss man trainieren. Daher würde ich auch jedem empfehlen, auf Probespiele für Stellen zu gehen, die man vielleicht nicht so sehr möchte. Aber das Training zahlt sich spätestens dann für Stellen aus, bei denen es darauf ankommt.

Natürlich gab es allerdings auch bei mir mehrmals Probespiele, bei denen ich in der letzten Runde war und es am Ende nicht geklappt hat. Besonders wenn dann niemand genommen wurde, sitzt man abends zu Hause da und ärgert sich.

Hattest du jemals den Gedanken, dass wenn es nach dem nächsten Probespiel nicht klappt, dass du dir Gedanken für einen möglichen Plan B machst?

Nein, eigentlich nicht. Eher, dass ich gesagt habe, dass ich mich nochmal an anderen Häusern bewerbe. Aber dass ich den Kopf in den Sand stecke, das gabs für mich.

Ich hatte aber auch, im Vergleich zu Erfahrungen von Freundinnen und Freunden, sehr viel Glück. Andere sind nicht daran zerbrochen, aber haben gewiss begonnen etwas an sich zu zweifeln.

Jetzt auf der anderen Seite

Seit 2017 bist du jetzt fest im MDR Sinfonieorchester. Hättest du einen Wunsch, wie man die Probespiele aus Kandidat:innen-Sicht angenehmer gestalten könnte?

Ich glaube, es gibt in allen Orchestern immer Debatten über Probespiele. Vor allem, wie man sie so gestalten kann, dass man am Ende sich nicht ein Solist ins Orchester holt, sondern jemand der teamfähig ist. Dafür ist natürlich auch das Probejahr da.

Letztlich ist das Probespiel auch eine mentale Herausforderung. Aber auch die Zeit danach, im Orchester, ist mental herausfordernd. Es gibt Dirigenten, die einen fordern, herausgehobene Positionen (Konzertmeister, Solo-Stellen) die anspruchsvoll sind. Ich glaube, daher wirst du immer mit mentalen Herausforderungen zu tun haben. Wenn man das Probespiel geschafft hat, hat man bereits einen Baustein, auf dem man in Zukunft weiter aufbauen kann. Weißt du, was ich meine?

Ja, absolut. Wie schaut dein Übe-Alltag heute aus?

Wir haben ja bereits am Anfang kurz darüber gesprochen, dass ich mir gerne Musik in der Vorbereitung auf Konzerte anhöre.

Kürzlich haben wir „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss gespielt. In der Vorbereitung setze ich mich dann hin und gehe das Stück mit den Noten und der Musik durch. Ich überlege mir, wo die Herausforderungen des Stücks für meine Stimme sind. Gerade bei Strauss merkt man gar nicht immer direkt, wo die Schwierigkeit liegt, wenn man nur in die Noten schaut.

Auf die erste Frage hast du geantwortet, dass Üben für dich heißt, eine Sache sehr konzentriert zu machen. Wie gehst du denn in der Auswahl der zu übenden Stellen vor? Machst du dir während des Hörens kleine Zeichen in die Noten, an Stellen, die du später üben möchtest?

Ja, tatsächlich. Meist greife ich dann direkt nach dem Hören zur Geige, um die Stelle mit dem frischen Eindruck zu spielen.

Natürlich macht man aber auch sehr viel über das Optische. Man sieht irgendwann Stellen, die schwer sind. Man übersieht aber auch manchmal Stellen, die schwer sind (lacht). Das Anhören ist daher für mich eine Absicherung, weil man so viel weniger schwierige Stellen übersieht.

Outro

Was lernst (übst) Du gerade, was Du noch nicht kannst? Darf auch gerne nicht musikalisch sein.

Ich hab seit einem Jahr ein sehr cooles, neues Hobby: Hula Hoop. Viele haben ja die Vorstellung, dass man nur dasteht und den Reifen kreisen lässt. Allerdings ist es unfassbar, was man alles mit einem Hula Hoop machen kann, was teilweise wie Zauberei aussieht.

Ein weiterer positiver Aspekt ist, dass ich dadurch Bewegungen mache, die ich im Alltag mit meiner Geige verliere.

Also ein kleiner sportlicher und gesundheitlicher Ausgleich?

Ja, genau. Aber ein kreativer sportlicher, gesundheitlicher Ausgleich (lacht).

Welchen Tipp würdest Du Deinem jüngerem, Erstsemester-Musikstudenten-Ich gerne mitgeben, um den Du damals froh gewesen wärst?

Orchesterstellen nicht unterschätzen. Auch Orchesterstellen vorspielen. Am Ende ist das die dritte Runde im Probespiel und damit der letzte Eindruck, den man der Jury gibt.

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Wie hat das Muttersein dein Üben verändert, Lisa Wulff? https://what-is-practice.de/wie-hat-das-mutter-sein-dein-ueben-veraendert-lisa-wulff/ https://what-is-practice.de/wie-hat-das-mutter-sein-dein-ueben-veraendert-lisa-wulff/#respond Mon, 16 Oct 2023 07:39:00 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6044 Lisa Wulff: Die preisgekrönte Jazzmusikerin und Kontrabass-Virtuosin Lisa Wulff studierte zunächst Musikerziehung in Bremen und anschließend Jazz-Kontrabass und E-Bass in Hamburg. Im April diesen Jahres gewann sie den Deutschen Jazz Preis. Bis zu seinem Tod im August 2022 war sie Teil der letzten Besetzung von Rolf Kühn. Natürlich wollte ich wissen, wie die Zusammenarbeit mit… Weiterlesen »Wie hat das Muttersein dein Üben verändert, Lisa Wulff?

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Lisa Wulff: Die preisgekrönte Jazzmusikerin und Kontrabass-Virtuosin

Lisa Wulff studierte zunächst Musikerziehung in Bremen und anschließend Jazz-Kontrabass und E-Bass in Hamburg. Im April diesen Jahres gewann sie den Deutschen Jazz Preis. Bis zu seinem Tod im August 2022 war sie Teil der letzten Besetzung von Rolf Kühn. Natürlich wollte ich wissen, wie die Zusammenarbeit mit dieser Jazz-Legende so lief – besonders abseits der Bühne. Musikalisch ist Lisa aber nicht nur im Jazz Zuhause, sondern genauso auch in der Popmusik. Was dieser Spagat für ihr eigenes Üben bedeutet, haben wir im Podcast besprochen.

Doch das ist noch nicht alles, was Lisa Wulff auszeichnet. Vor zwei Jahren trat sie in eine völlig neue Rolle – die der Mutter. Wie sie die Herausforderungen des Mutterseins und des Musikerinnenlebens meistert, und wie sie es geschafft hat, ihren Übealltag zu optimieren, haben wir im Podcast besprochen. Lisa Wulff gewährte einen Einblick in ihr Leben als Mutter, Musikerin und in die Veränderungen, die diese neue Rolle in ihrem musikalischen Schaffen mit sich gebracht hat.

Lisa Wulff

Mehr Informationen zu Lisa Wulff

Webseite: www.lisawulff.de

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Die Folge mit Lisa Wulff lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview mit Lisa Wulff

INHALT

Vervollständige folgenden Satz: Üben heißt für Dich….

Mich mit mir selbst und meinem Instrument zu beschäftigen.

Welche Musik (Album / Künstler) läuft bei dir gerade in Dauerschleife?

Im Moment höre ich ganz unterschiedliche Sachen – je nach Stimmung.

Aber gab es in den letzten Wochen mal einen „Dauerbrenner“ in deiner Playliste?

Ich muss gestehen, dass ich in letzter Zeit wieder viel Klassik gehört habe. Und da ist natürlich Johann Sebastian Bach ein „Dauerbrenner“.

Gibt es einen Musiker oder eine Musikerin, die dich musikalisch (auf Dein Spiel bezogen) am meisten geprägt hat?

Zahlreiche. Es gibt eine Person, die mich zum Instrument Kontrabass gebracht hat – nämlich Detlev Beier. Je weiter ich mich entwickle, merke ich immer mehr, wie sehr mein Spiel von ihm geprägt ist. Obwohl er leider bereits vor inzwischen sieben Jahren verstorben ist und mir das damals nie wirklich so bewusst war.

Natürlich haben mich aber auch großen Namen wie Ron Carter und Charlie Haden sehr beeinflusst. Es ist immer schwierig, wenn man sich auf ein paar wenige Künstler*innen beschränken muss. Vor einiger Zeit habe ich mir mal eine Liste mit Namen gemacht, um niemanden zu vergessen. Aber, wenn ich ganz ehrlich bin, könnte ich mich noch nicht einmal auf 10 Namen beschränken. (lacht)

„Ich unterscheide Üben in zwei Arten: Das eine ist die Beschäftigung mit dem Instrument und mit mir selbst. […] Das „andere“ Üben ist ein konkretes Programm oder Konzert vorzubereiten.“

(Lisa Wulff)

Dein Übe-Alltag

Du hast zunächst Musikerziehung in Bremen und dann anschließend Jazz Kontrabass und E-Bass als Hauptfach in Hamburg studiert. In der Vorbereitung ist mir vor allem deine musikalische Vielseitigkeit aufgefallen: von Musicals und Pop-Gigs, du bist Dozentin im Hamburger Popkurs, bis zu Big Band (NDR Bigband) und Jazz Gigs mit deiner eigenen Band oder als Sidewoman. Kannst du uns mal mitnehmen in deinen Übe-Alltag?

Ich unterscheide Üben in zwei Arten: Das eine ist die Beschäftigung mit dem Instrument und mit mir selbst. Gerade das „mit mir selbst“, weil die Verbindung beim Kontrabass so eng ist. Der Kern des Übens ist für mich, genau diese Verbindung aufrecht zu erhalten.

Das „andere“ Üben ist ein konkretes Programm oder Konzert vorzubereiten. Hier übe ich dann ganz konkret Stücke für die verschiedenen Projekte ein. Auch um fit für die unterschiedlichen Herausforderungen zu bleiben. Am Ende ist es dabei sogar egal, ob ich Kontrabass oder E-Bass übe.

Ich kann auch für mich die Frage „Bin ich Kontra- oder E-Bassistin?“ nicht mehr beantworten. Ich habe hier keinen Fokus auf das ein oder andere Instrument. Für mich ist es einfach Bass spielen in dem jeweils ein oder anderen Kontext.

Wenn du diese beiden Arten des Übens unterscheidest, heißt „mit dir selbst üben“ dann trotzdem immer am Instrument? Oder übst du inzwischen auch viel mental?

Inzwischen mache ich immer mehr auch mental, da ich zeitlich in den ein bis zwei Stunden, die ich meist pro Tag habe, nicht alle Themen abdecken kann. Gerade jedoch beim Kontrabass ist die Verbindung zum Instrument aber auch eine sehr körperliche – vor allem im Unterschied zum E-Bass.

Gerade auf Bahn-Fahrten übe ich sehr viel mental. Zeitweise habe ich mir dort auch ganz bewusst bestimmte Themen vorgenommen. Inzwischen übe ich dort auch immer öfter Stücke und Programme ein.

Üben am Instrument geht bei mir, nach einem kurzem Warmspielen, mit einem freien Improvisieren los. Ich nehme mir dann bewusst kein Stück vor, um zu erspüren was gerade (musikalisch) bei mir los ist. Meist entdecke ich dann etwas, das ich gerne verbessern würde.

Wie eine Art „Realitätscheck“ also? Du schaust also welche Elemente in deinem Spiel heute besonders gut funktionieren und daher weniger Aufmerksamkeit benötigen – und welche anderen Elemente dafür mehr?

Ja, aber gar nicht nur auf Technik beschränkt, sondern auch musikalisch inhaltlich. Für den technischen Fokus habe ich inzwischen eine sehr gute Übe-Routine entwickelt. Diese hilft mir fit zu bleiben.

Beim freien Spielen achte ich besonders darauf, was „mit mir los“ ist. Hier spiegelt sich natürlich viel das wider, was ich in den letzten Wochen gehört habe. Das Schöne ist allerdings, dass sich die unterschiedlichen Höreindrücke im Spiel vermischen und man sie gar nicht mehr genau zuordnen kann.

„Üben am Instrument geht bei mir, nach einem kurzem Warmspielen, mit einem freien Improvisieren los.“

(Lisa Wulff)

Als du eben das mentale Üben in den Bahnfahrten angesprochen hast, meintest du, dass du sowohl Stücke aber auch ganz konkret Themen vorbereitest. Hast du hierzu ein Beispiel aus der Vergangenheit?

Es ist zwar schon eine Weile her, aber eine Zeit lang habe ich Schlagzeugschulen unterwegs geübt. Snare-Etüde zum Beispiel. Dies passt auch ganz gut zu meiner Funktion irgendwo zwischen Harmonie- und Rhythmusinstrument. Ich habe noch ein ganz altes Heft von meinem Lehrer mit wirklichen alten „Rhythmusschulungen“ für Schlagzeuger (lacht). Das nehme ich gerne mit. Es hilft mir auch, wenn ich lange nicht mehr Vom-Blatt-lesen musste.

Man erwischt dich jetzt aber nicht klatschend und stampfend in Zugabteilen?

Kopf-nickend und Fuß-wippend (lacht). Aber nicht klatschen im besten Fall. Vor allem auch die anderen Mitreisenden nicht störend.

In einem Interview hast du mal erzählt, dass der Grund für diese vielen unterschiedlichen Projekte ist, dass du nicht diesen einen Stempel „Jazzbassistin“ / „Schlagerbassistin“ haben möchtest. Ist es dir immer noch wichtig, weiter aus diesem Schubladendenken auszubrechen?

Nein. Ich würde sagen, dass sich dies so eingespielt hat. Inzwischen bekomme ich Anfragen für die Projekte, die ich gerne machen. Das Schubladendenken war dabei weniger wichtig. Tatsächlich ist meine letzte Schlager-Tour auch schon zehn Jahre her. Aber auch da: Ich habe dort gemerkt, dass während meiner Studienzeit sofort den Stempel „Schlagerbassistin“ hatte. Obwohl ich Erfahrungen sammeln konnte, die ich bis dahin mit Jazz-Bands noch nicht sammeln konnte – mit In-Ear-Monitoring auf großen Bühnen, große Touren spielen.

Ich bin damals noch regelmäßig zwischen Bremen und Hamburg gependelt. In der einen Stadt war ich die Jazz-Kontrabassistin, die immer nur freie Musik spielt. Und in der anderen Stadt war ich die E-Bassistin, die Pop-Musik spielt. Für mich habe ich irgendwann festgestellt, dass ich einfach Musik – besonders ganz unterschiedliche Arten von Musik – mag. Daraus haben sich diese vielen unterschiedlichen Projekte entwickelt.

Wäre dies nicht aber typischerweise der entgegengesetzte Rat, den man jungen Musiker*innen heutzutage mitgibt? „Finde deine Nische“?

Ich glaube das kommt vor allem darauf an, was man für sich möchte: Möchte ich hauptsächlich Sidewoman/ Sideman sein, oder möchte ich gern als Leader arbeiten. Für die künstlerische Entwicklung würde ich schon sagen, dass man sich das aussuchen sollte, worin man am besten ist.

Wenn man sich eher als Begleitmusiker*in versteht, würde ich sagen, dass sich breit aufzustellen durchaus Sinn macht. Gerade mit E- und Kontrabass ist man mit ganz unterschiedlichen Besetzungen kompatibel.

Die Zeit mit Rolf Kühn

Die Liste an Musikerinnen und Musikern mit denen du bereits zusammengearbeitet hast ist sehr lang. Von Nils Landgren über Wolfgang Haffner, Al Jarreau und natürlich mit Rolf Kühn. Ergeben sich da manchmal Gelegenheit diese sehr erfahrenen Kollegen nach Tipps auch abseits der Bühne zu fragen?

Ja, auf jeden Fall. Gerade bei Rolf Kühn war die Zeit abseits der Bühne mindestens genauso wertvoll, wie die Zeit auf der Bühne. Er hatte die unfassbarsten Geschichten zu erzählen. Einfach, weil er während seiner Zeit in New York so nah an diesen großen Namen dran war: Taxifahrten mit Stan Getz, Rolf hatte neben Billy Holiday gewohnt. Natürlich habe ich da ganz viel nachgefragt. Allerdings waren das, gerade bei ihm, auch ganz andere Zeiten.

Auch was das Üben betrifft, ist Rolf eines meiner größten Vorbilder. Bis zu seinem Tod hat er täglich die Zeit mit seinem Instrument gelebt und genossen und auch immer wieder neue Stücke geschrieben. Das ist für mich wirklich nachhaltig inspirierend und ich bin dankbar, Teil seiner letzten Besetzung gewesen zu sein.

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Könnte man sagen, Rolf Kühn war eine Art Mentor für dich?

Am Instrument ist und bleibt es Detlef Beier. Aber natürlich war auch Rolf ein Mentor für mich. Genauso aber auch Nils Landgren, dessen Werdegang und Stilistik sich nochmal stark von Rolfs unterscheidet. Hier lerne ich immer noch so viel. Sowohl menschlich, als auch musikalisch.

Gibt es eine Learning, von diesen Personen, das dich wirklich nachhaltig geprägt hat?

Ja. Diese Begeisterung beim Üben. Dass man nicht denkt, dass man es nur macht, um fit auf dem Instrument zu bleiben. Natürlich gibt es auch mal solche Tage. Das war besonders bei Rolf Kühn sehr beeindruckend zu sehen.

Beim Üben befasst man sich durchgehend mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten. Das kann, hin und wieder, ja auch anstrengend werden. Ich sehe es inzwischen als großes Geschenk an, dass ich diesen Beruf machen kann. Diese Zeit mit mir und dem Instrument wird mir auch immer wertvoller.

„Natürlich war am Anfang der komplette Tagesablauf, von heute auf morgen, anders. Anderseits ist es auch spannend zu sehen, wie effektiv man dabei wird.“

(Lisa Wulff)

Schließen sich Musikerin und Mutter sein aus?

Aus der Vorbereitung weiß ich, dass du auch Mutter bist. Herzlichen Glückwunsch nochmal an dieser Stelle! Wie hat sich seitdem dein Üben bzw. dein Leben als Musikerin verändert?

Meine Tochter wird im November zwei Jahre alt. Das heißt, dass sich mein Üben inzwischen nochmals verändert hat.

Natürlich war am Anfang der komplette Tagesablauf, von heute auf morgen, anders. Anderseits ist es auch spannend zu sehen, wie effektiv man dabei wird. Das hätte ich mir selbst gar nicht zugetraut. Es gibt allerdings nicht diese glasklare Trennung zwischen: Jetzt bin ich Musikerin und jetzt bin ich Mutter. Aber wie schon anfangs gesagt verändert sich dies durchgehend.

„Für mich war dann auch eines der größten Komplimente, als eine weibliche Kollegin nach einem Konzert auf mich zukam und sagte: Ach, du hast ein Kind? Das habe ich gar nicht mitbekommen.“

(Lisa Wulff)

Ist dieses „effektiv sein“ dem Zeitdruck geschuldet, dass du weißt: Ok, ich habe nur diese 1-2 Stunden am Tag? Du hast eben ja bereits die Unzulänglichkeiten angesprochen, denen man sich beim Üben aussetzt. Da stelle ich mir durchaus auch einen gewissen Leistungsdruck vor, oder?

Ich habe gemerkt, dass ich viel strukturierter geworden bin. Inzwischen weiß ich, was ich machen muss, wenn ich eine Stunde Zeit habe. Gerade auch dann, wenn ich mal einen Tag nicht gespielt habe. Am Anfang empfand ich dies schon als stressig, aber inzwischen glaube ich, dass ich hier eine gute Routine entwickelt habe.

Jetzt weiß ich, dass ich in dieser Stunde sehr viel schaffen kann. Den Rest erledige ich dann leise, wenn sie schläft bzw. mental auf Bahnfahrten. Das ist das Schöne: Musik passt überall rein.

Das find ich sehr schön zu hören. Gerade weil man diese positiven Geschichten nicht allzu oft hört in der Öffentlichkeit.

Natürlich habe ich mir am Anfang vorgestellt, wie das alles wird. Und dann kam doch alles ganz anders. Man muss dann einige Sachen einfach ausprobieren und schauen, was funktioniert. Nach den sieben Wochen Pause nach der Geburt, rief mich ein befreundeter Musiker für eine Studioproduktion an. Ich habe dann viel früher wieder angefangen, als ich dies ursprünglich geplant hatte.

Für mich war dann auch eines der größten Komplimente, als eine weibliche Kollegin nach einem Konzert auf mich zukam und sagte: Ach, du hast ein Kind? Das habe ich gar nicht mitbekommen. (lacht). Da war meine Tochter schon älter als ein Jahr.

Gibt es inzwischen dann einen Bass-freien Tag in der Woche?

Ja, den gibt es. Früher dachte ich immer, dass dies nicht möglich ist. Allerdings spätestens nachdem man die Tage nach der Geburt nicht spielen konnte, wusste ich, dass es nicht so schlimm ist.

„Ich lerne geduldig zu sein. Vor allem mit mir selbst. Das lernt man mit einem Kind natürlich nochmal ganz anders.“

(Lisa Wulff)

Outro

Was lernst (übst) Du gerade, was Du noch nicht kannst ?

Ich lerne geduldig zu sein. Vor allem mit mir selbst. Das lernt man mit einem Kind natürlich nochmal ganz anders.

Ich lerne aber auch vor allem die richtigen Sachen weiterzuverfolgen. Kürzlich habe ich wieder eine neue Platte aufgenommen (erscheint am 08.03.2024). In der Vorbereitung habe ich immer wieder gezweifelt, ob ich das Programm in der kurzen Zeit fertigstellen kann und selbst genügend Übe-Zeit zur Vorbereitung haben werde. Gerade heute aber habe ich wieder neue Mixe davon bekommen. Wenn ich sie anhöre, denke ich nicht wie großartig ich die ganze Zeit spiele, sondern wie toll die anderen Musiker*innen über meine Kompositionen spielen.

Das ist der Grund, weshalb ich beschlossen habe – obwohl es mir am Anfang gar nicht leicht fiel Bandleaderin zu sein– es durchzuziehen. Ich habe darauf vertraut, dass mir diese Aufgabe irgendwann leichter fällt. Vor allem aber, dass man in diese Roll hineinwächst. So wie man in viele Rollen hineinwachsen kann. Das Gefühl, dass sich das immer lohnt, habe ich nun fast täglich.

Welchen Tipp würdest Du Deinem jüngerem, Erstsemester-Musikstudenten-Ich gerne mitgeben, um den Du damals froh gewesen wärst?

Ich fühlte mich auf manche Dinge nicht so wirklich vorbereitet – abseits des Bass-Spielens.

Hast du ein Beispiel hierfür?

Von der ersten Rechnung, die ich noch im Studium geschrieben habe, über KSK, GEMA und GVL bis hin zur Bandorganisation. Alles, was nicht das reine Bass spielen ist. Dies vor allem auch als Arbeitszeit zu sehen. Manchmal dachte ich, ich kann meine Zeit nicht auf diese administrativen Aufgaben verwenden, weil ich doch üben muss. Am Ende ist allerdings beides wichtig und gehört zu unserem Job.

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