Differenzielles Lernen | https://what-is-practice.de/tag/differenzielles-lernen/ BLOG Fri, 30 Aug 2024 09:08:20 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.2 https://what-is-practice.de/wp-content/uploads/2020/06/cropped-logo-wip-bunt-32x32.png Differenzielles Lernen | https://what-is-practice.de/tag/differenzielles-lernen/ 32 32 Der MiShu Stuhl – Optimales Lernen im Sitzen https://what-is-practice.de/der-mishu-stuhl-optimales-lernen-im-sitzen/ https://what-is-practice.de/der-mishu-stuhl-optimales-lernen-im-sitzen/#respond Sun, 25 Aug 2024 15:35:15 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6599 Die meisten Musikerinnen und Musiker verbringen den Großteil ihrer Übezeit wahrscheinlich im Sitzen. Dabei ist dies nicht nur aus gesundheitlichen Aspekten schwierig (mehr zum Thema Musiker:innen-Gesundheit gibt es hier), sondern es ist zudem ist es auch ausgesprochen monoton und dementsprechend wenig lernfördernd. Besserung ist allerdings möglich. Im Sommer war ich zu Gast bei Prof. Dr.… Weiterlesen »Der MiShu Stuhl – Optimales Lernen im Sitzen

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Die meisten Musikerinnen und Musiker verbringen den Großteil ihrer Übezeit wahrscheinlich im Sitzen. Dabei ist dies nicht nur aus gesundheitlichen Aspekten schwierig (mehr zum Thema Musiker:innen-Gesundheit gibt es hier), sondern es ist zudem ist es auch ausgesprochen monoton und dementsprechend wenig lernfördernd. Besserung ist allerdings möglich.

Im Sommer war ich zu Gast bei Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Bei unserer Interview-Verabredung wollte ich mehr über seine Theorie des Differenziellen Lernens erfahren. Das Wort „Lehrstuhlinhaber“ schien mein Gast dabei ausgesprochen wörtlich aufgefasst zu haben. Als wir gemeinsam sein Büro betraten, begrüßte mich eine ausgefallene Auswahl an unterschiedlichsten Stühlen: Stühle mit Lehne, Stühle ohne Lehne, einen Bürostuhl, der sich so umfunktionieren lässt, dass man darauf problemlos im Schneidersitz arbeiten kann. Stühle aus Holz, Stühle aus Plastik, mit rundem Füßen usw.

Als Bewegungs- und Trainingswissenschaftler forscht Wolfgang Schöllhorn auch darüber, wie Sitzgelegenheiten unseren Lernerfolg unterstützen können. Am Ende streben wir für das optimale Lernen einen wachen und entspannten Zustand – den sogenannten Alpha-Theta-Zustand an, erklärt mir der Professor. Ohne es zu diesem Zeitpunkt zu wissen, saß ich plötzlich auf einem Stuhl, der genau diesen Zustand herstellen kann. Ein edler und gleichzeitig schlicht wirkender Holzstuhl, ohne Lehne, der sich aus verschieden aufeinander gestapelten, halbrunden Holzstücken zusammensetzt. Der Professor warnt: Dieser Stuhl sei ungewöhnlich. Ich sitze auf dem MiShu-Bewegungsstuhl.

MiShu Classic Bewegungsstuhl aus Buche
Der MiShu Classic – Bewegungsstuhl aus Buchenholz

Mehr über MiShu: https://www.mishu.de/

Interview mit Gründerin Gabriele Wander

Gabriele Wander mit dem MiShu Stuhl
Gabriele Wander mit dem MiShu Stuhl

Wie ist es dazu gekommen, dass Sie den MiShu-Stuhl entwickelt haben? 

Ich habe mich tatsächlich niemals hingesetzt und gesagt, jetzt erfinde ich einen Stuhl, sondern ich kam zum MiShu so ein bisschen wie die Jungfrau zum Kind. Ich hatte Rückenschmerzen und der Stuhl ist auf der Suche nach einer Lösung für mich selbst eigentlich zufällig entstanden.  

Klassische Krankengymnastik und Massagen halfen immer nur kurzzeitig. Es war ein ständiges Auf und Ab. Dazu kam eine Erfahrung in meiner Jugend: Als ich ungefähr zwölf Jahre alt gewesen bin, erlebte ich, dass meine Mutter einen Bandscheibenvorfall hatte. Und daher wusste ich, wie schmerzvoll das sein kann. Das war für mich ein ziemlich einschneidendes Erlebnis. Das wollte ich unbedingt bei mir selbst vermeiden. 

Das fehlende Puzzleteil  

Zwischen Fitnessstudio, Yoga und S-Bahn 

Meine Schmerzen begannen mit circa 17 Jahren. Als ich ungefähr 25 war, hatte ich immer noch Schmerzen – und zwar ständig. Beim Sitzen, beim Stehen und beim Gehen. Und dann bin ich wirklich eines Tages mit dem glasklaren Gedanken in meinem Kopf aufgewacht, jetzt muss ich was tun. Ich stellte mir vor, wie es erst sein würde, wenn ich mal 60 bin. Noch am gleichen Tag habe ich mich zum Yogakurs bei der Volkshochschule und im Fitnessstudio angemeldet. Das war eine interessante Mischung.  

Bei Yoga trainiert man das Gleichgewicht, die Koordination und die Innenwahrnehmung. Und im Krafttraining habe ich erstmals die Muskeln, die Kondition und die Ausdauer trainiert. Mit diesen zwei Elementen zusammen, habe ich gemerkt, dass es besser wird. Ich habe täglich Yoga geübt und ich habe zwei bis dreimal in der Woche Gewichte gestemmt. Mit dieser Mischung hat sich etwas positiv verändert. Die Schmerzen waren zwar nicht weg, aber sie waren deutlich besser. Ich hatte mich schon gefreut und gedacht, das ist ja toll. Jetzt mache ich einfach nochmal drei Wochen weiter und dann bin ich meine Beschwerden ganz los. Allerdings war dem nicht so.  

Meine Schmerzen wurden zwar besser, aber sie gingen nicht ganz weg. Ich dachte mir jedoch, wenn ich nun bereits zwei Dinge gefunden habe, die mir helfen, fehlt mir möglicherweise nur noch ein Puzzleteil. Dann habe ich ganz viel Verschiedenes ausprobiert: Spiraldynamik, Feldenkrais, Alexander-Technik, Qigong, Shiatsu, Fantangong, die Renner-Methode, Bodybliss etc. 

„Ich habe mich tatsächlich niemals hingesetzt und gesagt, jetzt erfinde ich einen Stuhl, sondern ich kam zum MiShu so ein bisschen wie die Jungfrau zum Kind. „

Gabriele Wander

Eine S-Bahn Fahrt verändert alles 

Irgendwann kam das große Aha-Erlebnis – jedoch in der S-Bahn in München. Ich war mit viel Gepäck unterwegs: eine große Tasche rechts, eine große Tasche links. Und dann habe ich mich mit meinen zwei Taschen, weil da so viel Platz war, ganz einfach in die Mitte von einer Doppelsitzbank gesetzt. Und da, wo die zwei Sitze zusammentreffen, da ist es relativ hart und leicht gewölbt. Ich saß nicht in diesem Mulden, wo man normalerweise sitzt – da waren meine beiden Taschen. Ich saß genau dazwischen: hart und leicht gewölbt. Und wie ich da so saß und zum Fenster rausschaute, habe ich plötzlich gemerkt, dass sich das sehr gut anfühlt. 

Ich hatte das Gefühl, dass ich von selbst aufrecht sitze – ohne Mühe und Anstrengung. Das wollte ich zu Hause nachbauen. Ich habe mir von meinem Bruder, der mit Holz heizte, ein Stück vom Baumstamm mitgenommen. Einfach das äußere Teil mit Rinde und Wölbung: circa 40 Zentimeter lang und 20 breit. Oben rund, unten flach. Und dieses Holzstück habe ich mir zu Hause auf meinen Küchenstuhl gelegt, weil ich mir dachte: ab heute sitze ich zu Hause genauso gut wie in dieser S-Bahn. Mit diesem gewölbten Holzklotz hat MiShu-Stuhl begonnen.  

Können Sie sich erklären, warum genau diese Wölbung so hilfreich für Sie war? 

Ungefähr fünf Jahre später habe ich von einer Shiatsu-Therapeutin auf einem Kongress in Kassel die Erklärung dafür bekommen, warum diese Wölbung so besonders wirkt und warum er die Aufrichtung unterstützt.  

Ich war als Ausstellerin vor Ort und eine Frau stürzte auf mich zu und freute sich, dass es endlich einen Stuhl gäbe, der die Punkte der stillen Erneuerung aktiviert. Das hatte ich bis dahin noch nie gehört. „Punkte der stillen Erneuerung“ – was ist denn das? Sie erklärte mir, dass wir auf unseren Sitzbeinknochen zwei Punkte haben, die im Jin-Jitsu „Punkte der stillen Erneuerung“ heißen. Manchmal werden sie auch als Energieschlösser Nummer 25 bezeichnet. 

Punkte der stillen Erneuerung 

Die Punkte der stillen Erneuerung, wenn sie gedrückt werden, entsteht automatisch ein Aufrichtungsimpuls in der Wirbelsäule. Dieser Druck aktiviert, über einen Reflex die innerste Schicht der Rückenmuskulatur. Der MiShu Stuhl funktioniert auf die gleiche Art und Weise. Dazu kommt dann noch das dreifache Gelenk. 

Und das ist ein großer Vorteil im Vergleich zu normalem Sitzen auf herkömmlichen Stühlen. Auf jedem normalen Stuhl, auf dem wir sitzen, ist das Becken praktisch fixiert. Auf dem MiShu-Stuhl ist das anders. Das Becken kann in jeder Dimension wieder komplett frei schwingen und dadurch wird die Bewegung erst vollständig. Die Bewegung, die auf dem MiShu-Stuhl entsteht, ist so ähnlich wie beim Gehen. Und wenn man sich vorstellt, man geht Spazieren, ist das ist viel weniger anstrengend, als wenn man irgendwo in der Warteschlange steht.  

Ist dieser Reflex der Grund, dass der MiShu-Stuhl diese Vorteile hat? Es gibt ja auch ergonomische Bürostühle, die gesundes Sitzen versprechen. 

Ein ganz wichtiger Punkt ist die leicht gewölbte Sitzfläche, die diesen Reflex auslöst. Und damit in Verbindung ist dann das dreifache Gelenk, wo wir drei einzelne Achsen haben. Und noch ein dritter Punkt kommt dazu, nämlich das Gelenk befindet sich beim MiShu-Stuhl ganz weit oben, also nah unter der Sitzfläche. Dadurch wird die Bewegung auf dem MiShu-Stuhl viel feiner und viel differenzierter, als zum Beispiel jetzt beim Sitzen auf dem Swopper oder auf dem Sitzball. Die meisten haben den Drehpunkt sehr weit unten. 

Der MiShu Stuhl gibt einen Rundum-Bewegungsspielraum, der sich von der von der unteren Basis der Wirbelsäule, also vom Kreuzbein aus, durch die ganzen Lendenwirbelbereich, durch die Brustwirbel und die Halswirbel hinauf bis zum Kopfgelenk erstreckt. Also die Wirbelsäule pendelt sich in ihrer senkrechten Achse ein, weil es so am wenigsten anstrengend ist, aufrecht zu sitzen. 

Im Büro kleben die meisten Menschen an der Lehne. Das heißt, dann sitzt jemand schon mal nicht mehr in seiner eigenen Mitte, sondern er ist eigentlich hinter der eigenen Mitte. Und wenn wir aufrecht sitzen, bei Musikern ist es ja schon weit verbreitet, nutzen viele die Stuhlkante. Jeder, der gerne auf der Stuhlkante sitzt, wird sich auf dem MiShu ganz bestimmt sehr wohl fühlen. 

Jetzt haben Sie gerade schon das Thema Musik angesprochen. Der Stuhl hat eine ganz andere Entstehungsgeschichte, die erst einmal mit Musik nichts zu tun hat. Ich weiß aus unserem Vorgespräch, dass Sie einen Gerhard-Mantel-Tipp so als Ideengeber hatten, den MiShu-Stuhl auch ganz bewusst für Musikerinnen und Musiker weiterzuentwickeln.  

Den MiShu gibt es ja bereits seit Anfang 2000 und es waren von Anfang an immer wieder Musiker sehr begeistert von ihm. Ich hatte eigentlich zwei Berufsgruppen, die sehr begeistert waren: Das eine waren Körpertherapeuten und das andere waren Musiker. Viele sagten, dass sie darauf besser spielen könnten, als auf einem herkömmlichen Stuhl.  

Die Geburt der Klavierbank 

Ich hatte damals eine Kundin, die Klavierlehrerin war und den Bewegungsstuhl bereits im Unterricht nutzte, wenn sie neben ihren Schülerinnen und Schülern saß. Wenn sie jedoch selbst spielte, war ihr der Bewegungsstuhl zu instabil. Sie schlug vor, die Beine genauso breit wie sie Sitzfläche zu machen und ein Gelenk zu entfernen. Damit war der MiShu optimal für das Klavier geeignet. Hier braucht man, wegen des Pedaleinsatz‘, eigentlich nur die Schwingung in einer Achse. Die Kundin war vom ersten Prototyp restlos begeistert und fortan gab es MiShu Bewegungsstuhl, eben für Schreibtisch und den Alltag und für manche Instrumente (wie zum Beispiel Cello, Akkordeon, Gitarre oder Blasinstrumente) und parallel dazu gab es die MiShu Klavierbank. 

„Ich hatte eigentlich zwei Berufsgruppen, die sehr begeistert waren: Das eine waren Körpertherapeuten und das andere waren Musiker.“

Gabriele Wander

Intelligent Learning mit der Klavierbank 

Und ich hatte dann auch eine Klavierbank zu Hause, weil ich als Kind Klavier gelernt hatte. Allerdings war sie bei mir immer ehr das Stiefkind – da sie hat ja nur ein Gelenk. Dann gab es einen Tag, wo sich diese Sichtweise für mich komplett geändert hat.  

Auf auf dem internationalen Kongress für Spiraldynamik in der Schweiz war ich als Ausstellerin. Der Kongress stand unter dem Thema „Intelligent Learning“. Einer der Redner war auch Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn, der einen Vortag zum Thema  „Differenzielles Lernen“ hielt. Ich saß in diesem Vortrag und es war wirklich für mich ein riesen Aha-Erlebnis. 

Auf der Rückfahrt kam mir plötzlich der Gedanken, dass ich die Klavierbank auch differenziell einsetzen könnte. Und kaum war ich zu Hause, habe ich das ausprobiert. Ich war total heiß drauf zu erleben und habe die Klavierbank erst mal so ganz normal hingestellt, so wie sie ja eigentlich normalerweise steht, nämlich parallel zum Klavier. und dann geht die Schwingung vor und zurück. Und dann habe ich ein bisschen gespielt und habe sie dann um 90 Grad gedreht (die Schwingung geht dann seitlich nach rechts und links). Anschließend habe ich wieder ein bisschen gespielt. Anschließend kam ich noch auf die Idee, die Klavierbank ein bisschen schräg hinzustellen, also 45 Grad gedreht. Und das führt dann dazu, dass die Schwingung nach schräg hinten unten außen ging. Und das hat sich irre angefühlt, weil ich eine Leichtigkeit in den Fingern, die mich völlig erstaunte. 

Anschließend habe ich die Schwingungsradien in der Klavierbank verändert, sodass die Bewegung in der Wirbelsäule sich unterschiedlich (mal weiter unten, mal weiter oben, mal in der Mitte) anfühlt. Zur gleichen Zeit laß mein Partner ein Übe-Buch von Gerhard Mantel. Auf einer der Seiten stand ungefähr wörtlich: „leichte Dreh- und Schwankbewegungen im Rumpf fördern die Sensibilität bis in die Fingerspitzen.“ Und das war für mich echt Wahnsinn. Dadurch hat sich meine Sichtweise auf die Klavierbank sehr verändert. Inzwischen würde ich gar nicht mehr sagen, sie hat nur ein Gelenk. Sondern man kann die Klavierbank ganz genauso nutzen, wie den Bewegungsstuhl, um dreidimensionale, differenzierte Beweglichkeit auf jede einzelne Etage der Wirbelsäule zu bringen.  

Klangliche Unterschied mit dem MiShu Stuhl 

Jetzt können Sie ja sowohl aus Ihrer eigenen Erfahrung berichten, aber sicher auch aus den Berichten der Musikerinnen und Musiker, die Ihren Stuhl bereits getestet haben: Ich könnte mir vorstellen, dass der Stuhl auch klanglich eine Unterschied macht? 

Das habe ich auch festgestellt und also vor allem habe ich festgestellt, es macht irgendwie mehr Spaß. Also das Üben kriegt noch mehr eine spielerische Komponente. Es wird lebendiger.  

Wir haben dann, weil mich das Thema dann wirklich interessiert hat, mehrmals ein Wochenendseminar angeboten. Ich hatte mit Phil Tillitsen einen ganz tollen Referenten, der an der Akademie für die Musicalausbildung musikalische Leiter war. Mit einer Gruppe aus Profi- und Laienmusikern und einem haben wir Tonaufnahmen vor und nach dem Einsatz der Klavierbank gemacht.  

Zunächst spielten die Teilnehmer auf einer normalen Klavierbank eine Basisaufnahme ein. Anschließend hatten sie 30 Minuten, um sich an die MiShu Klavierbank zu gewöhnen und mit ihr zu experimentieren. Danach nahmen wir eine Vergleichsaufnahme mit der MiShu Klavierbank auf. Es war tatsächlich ein deutlicher Unterschied hörbar. Beim ersten Mal habe ich mich gar nicht getraut, meine Einschätzung abzugeben, weil ich das Gefühl hatte, dass der Unterschied wirklich sehr groß ist. Ich habe daraufhin ganz vorsichtig gefragt, wie die anderen es hörten. Alle bestätigten, dass die Musik mehr Schwingung und mehr Leichtigkeit hatte.  

„Es gab bei allen Probanden schon nach ganz kurzer Zeit des Sitzens auf dem MiShu-Stuhl Alphaschwingungen“

Gabriele Wander

MiShu und das Differenzielle lernen 

Sie haben die Begegnung mit Herrn Schöllhorn eben bereits kurz angesprochen. Gab es auch mal ein Forschungsprojekt, in dem der MiShu Stuhl auf seine Wirkung wissenschaftlich untersucht wurde? 

Aus der Begegnung damals in Zürich ist tatsächlich eine Zusammenarbeit entstanden. Vor seinem Vortrag besuchte er zufällig meinen Stand in der Ausstellung und probierte mehrere Stühle aus. Er fragte mich, ob sie bereits wissenschaftlich untersucht worden seien. Ich verneinte. 

Ich erinnere mich noch sehr gut: Er hatte damals einen dunkelgrauen Anzug mit einer sehr auffälligen roten Krawatte und einer sehr auffällige rote Brille und war sehr sympathisch. Als der Kongress startete, trug der erste Redner eine rote Krawatte und eine rote Brille. Dann wusste ich, mit wem ich es vor dem Kongress zu tun gehabt hatte. 

Wir haben anschließend der Johannes Gutenberg Universität in Mainz mehrere MiShu-Stühle für mehrere Studien zur Verfügung gestellt und er hat sich nicht auf das Thema Rücken gestürzt, sondern er hat sich das Thema Hirnstrommessungen (EEG-Messungen) angeschaut. Die Fragestellung war, wie sich die Hirnströme beim Sitzen auf dem MiShu verändern – und zwar sowohl ganz spontan, kurz nachdem man sich draufsetzt, als auch dann im Rahmen eines Konzentrationstest, bei dem eine Drucksituation aufgebaut wurde. Die Ergebnisse waren tatsächlich beeindruckend.  

Es gab bei allen Probanden schon nach ganz kurzer Zeit des Sitzens auf dem MiShu-Stuhl Alphaschwingungen. Alphaschwingungen sind der entspannte, wache Gehirnzustand, den wir eigentlich als Kinder normalerweise haben, und während dem das Gehirn besonders lernfähig und aufnahmebereit für Neues ist.  

Beim Konzentrationstest zeigte sich, dass Beta-2-Schwingungen entstehen. Beta-2 steht für eine große Leistungsfähigkeit. Die Studie zeigte außerdem, dass weniger Fehler passierten. Es ließ sich nachweisen, dass die Konzentration und auch die Belastbarkeit größer beim bewegten Sitzen ist. Das heißt der Körper kann bei Bewegung im Sitzen besser Druck und Spannung ausgleichen.  

Anwendung des MiShu Stuhls 

Sitzen ist nicht gleich Sitzen und wir sind alle verschieden groß. Das heißt es gibt ja wahrscheinlich auch einen Unterschied, wie man den Stuhl optimal einstellt und wie man sich optimal darauf setzen kann, damit er auch wirklich die Wirkung entfalten kann, die er hat. Gibt es verschiedene Größen und wie ist die optimale Sitzposition auf dem MiShu Stuhl? 

Es gibt verschiedene Größen, verschiedene Modelle und verschiedene Holzarten. Unser Kernprodukt ist eigentlich der MiShu Classic. Er entstand zuerst. Er hat das dreifache Gelenk, aber auch die Möglichkeit, dass man ein oder zwei Gelenke herausnehmen kann. Und das funktioniert mithilfe eines Stecksystems, ähnlich wie bei Lego. Den MiShu Classic gibt es in vier verschiedenen Größen und auch in vier verschiedenen Holzarten: Buche, Kirsche, Eiche oder Nussbaum.  

Daneben bieten wir auch vier verschiedenen Größen an. Die optimale Höhe des MiShu Stuhls richtet sich nach der Körpergröße – noch besser nach der Kniehöhe. Die Mitte der Kniescheibe sollte ungefähr genauso hoch sein, wie der höchste Punkt auf der Wölbung. Dann ist der Stuhl richtig. Wenn der Größenunterschied nicht allzu erheblich ist, kann man allerdings auch mit mehreren Personen den gleichen MiShu Stuhl nutzen.  

Und es gibt dann eben die MiShu Klavierbank. Die gibt es auch in zwei verschiedenen Höhen und in verschiedenen Holzarten. Zudem natürlich auch in schwarz lackiert, für die, die einen schwarz lackierten Flügel haben. Daneben gibt es noch ein kostengünstiges Einsteigermodell, der heißt MiShu Sun. Der hat von Haus aus immer drei Gelenke und ist nicht so variabel wie der MiShu Classic. 

Sie sind von Hause aus Körpertherapeutin und ich nehme an, dass Ihre Rückenschmerzen (die zur Erfindung des Stuhls führten) inzwischen weg sind. Das heißt, der Stuhl bringt auch gesundheitliche Vorteile insofern, dass er zumindest diesen typischen Volkskrankheiten wie Bandscheibenvorfall, Rückenschmerzen durch schlechtes Sitzen etc. vorbeugen kann. Könnte man sagen, dass er also nicht nur ein therapeutischer, sondern auch ein gesundheitlicher Stuhl ist? 

Der MiShu Stuhl ist einfach wertvoll für alle Menschen, die viel Zeit im Sitzen verbringen. Und das muss man leider sagen, das ist heutzutage eigentlich fast jeder. Die meisten Jobs sind Bürojobs. Und bei Musikern ist es ja so, dass man viel Zeit im Üben verbringt. Es gibt kaum mehr Berufe, wo die meisten Menschen entweder auf dem Feld oder im Handwerk gearbeitet haben. Es gibt da wissenschaftliche Studien, aus denen ganz eindeutig hervorgeht, dass das stundenlange Sitzen nicht nur für den Rücken schlecht ist, sondern tatsächlich ganz gesamtgesundheitlich eine große Belastung darstellt. 

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Differenzielles Lernen in der Musik https://what-is-practice.de/differenzielles-lernen-in-der-musik/ https://what-is-practice.de/differenzielles-lernen-in-der-musik/#comments Sun, 25 Aug 2024 14:07:42 +0000 https://what-is-practice.de/?p=6576 Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn ist Bewegungs- und Trainingswissenschaftler an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Er gilt als Begründer des Differenziellen Lernens. Eine Methode, die auch inzwischen Einzug in die Musik gehalten hat. Was so abstrakt klingt ist in Wahrheit recht einleuchtend und simpel. Wir lernen aus Unterschieden.  Damit ist nicht gemeint, dass wir anfangen sollten,… Weiterlesen »Differenzielles Lernen in der Musik

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Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn ist Bewegungs- und Trainingswissenschaftler an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Er gilt als Begründer des Differenziellen Lernens. Eine Methode, die auch inzwischen Einzug in die Musik gehalten hat. Was so abstrakt klingt ist in Wahrheit recht einleuchtend und simpel. Wir lernen aus Unterschieden. 

Damit ist nicht gemeint, dass wir anfangen sollten, ein zweites Instrument zu lernen. Differenzielles Lernen zielt eher auf die kleinen Unterschiede ab, die beim Ausführen einer Bewegung am Instrument entstehen. Sie beschränken sich jedoch nicht nur auf Bewegungen, sondern variiert werden kann jeder musikalische Parameter von Ausdruck bis Genre. Die Frage, die sich natürlich nun stellt: Wie können wir uns das in der Musik zu nutze machen. Darüber soll es in dieser Podcast Folge gehen. 

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn in der Sporthalle der JGU Mainz
Wolfgang Schöllhorn nach dem Interview an der JGU Mainz

In der Folge habe ich mit Wolfgang Schöllhorn den Blick aber abseits von Sport und Musik gerichtet und mein Gast gibt Einblicke zu aktuellen Forschungsfragen rund um das optimale Lernen gibt. 

Lieber hören statt lesen?

Die Folge mit Wolfgang Schöllhorn lässt sich auf allen bekannten Streaming Plattformen kostenlos anhören.

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Das Interview

Inhalt

In Anlehnung an die Musikerinnen und Musikerinterviews, die ich immer führe, würde ich Ihnen gern zum Einstieg zwei Fragen stellen: Vervollständigen Sie folgenden Satz, trainieren heißt für Sie?

Meist eine veraltete Methode, die dringend einer Überarbeitung bedarf.

Das heißt Sie trainieren nicht?

Nein. Das Wort trainieren (train – to train) kommt ursprünglich aus dem französischen und bedeutete „das Pferd aus dem Stall ziehen“.

Und ich will niemanden hinter mir herziehen, sondern für mich ist es eigentlich eine Stimulation und eine Interaktion, wo mehr Kreativität von Seiten des Lernenden mit hineinkommen kann.

Das heißt Sie sagen nicht „ich trainiere“, sondern was ist Ihr Wort für das, was man so landläufig als trainieren bezeichnet?

Also wir sind auf der Suche nach einem adäquaten Wort, aber: ich bewege mich, ich lerne.

Das finde ich schön. Bewegung oder Lernen sollte ja nicht nur monotones Wiederholen sein, sondern im besten Fall abwechslungsreich und kreativ.

Was ist denn die neueste oder letzte Idee, die Sie selber in Ihrem eigenen Bewegen, Lernen ausprobiert haben beziehungsweise an Studierende weitergegeben haben?

Das Neueste, was ich jetzt an unsere Studierenden gegeben habe, ist das Resultat unserer neuen Forschung, dass auch Differenziales Lernen mit der Zeit abstumpft.

Und das war das, was ich eigentlich auch von Anfang an vor 20 Jahren schon gesagt hatte: es geht um Variation der Variation. Variation muss individuell und situativ angepasst werden.

Es gibt Leute, die werden bei zu viel Variation verrückt. Dann gibt es andere, die werden bei zu viel Wiederholung verrückt – und dann kann das aber auch von Zeit zu Zeit wechseln. Es hat schon eine starke psychologische Komponente, wann Wiederholung Vorteile bringt. Da können wir aber später nochmal drüber reden.

„Variation muss individuell und situativ angepasst werden“

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn

Entweder-Oder-Fragen

Sehr gerne, dazu habe ich auf jeden Fall auch ein paar Fragen vorbereitet. Für alle Zuhörerinnen und Zuhörer, die sie vielleicht noch nicht so gut kennen, habe ich mir ein paar Entweder-Oder-Fragen überlegt, um Sie vorzustellen.

Handball, Leichtathletik, Turnen oder Bobfahren?

Das ist jetzt quasi mein Lebenslauf in der Praxis.

Für mich gibt es da kein Entweder-Oder, sondern es war einfach nur die Neugierde.

Der Wechsel von Handball auf Leichtathletik war mehr oder weniger aus Gesundheitsgründen, weil ich im Handball (damals war es üblich auf Betonboden mit Linoleum zu spielen) die Knie nach zehn Jahren kaputt hatte. Während der Regeneration hatte ich die Leichtathleten kennengelernt.

Und die haben mich dann gefragt, ob ich als Handballer nicht auch mal Speer werfen könne. Wenn du Speer wirfst, dann kannst du auch Diskus und Kugelstoßen und damit war der Zehenkampf schon fast komplett zusammen.

Ich habe das dann eine Weile lang gemacht und habe dort aus Neugierde jemanden kennengelernt, der Bobfahren konnte. Ich bin dann dort relativ schnell erfolgreich gewesen und habe aber ganz am Ende, als ich schon Athleten trainiert hatte nebenher, mit meiner neuen Theorie ein Selbstexperiment gewagt.

Ich hatte dann mit Freunden von mir, Georgios und seinem Bruder Eftimios Karamitsos, der ist Nationaltrainer im Karate, einen Deal gemacht: Ich habe gesagt, ich bringe dir Sprinten bei und du bringst mir Karate bei. Aber ich will dich nur einmal die Woche sehen, weil ich den Rest dann selber mache. Und das haben wir dann gemacht. In sehr kurzer Zeit hatte ich den braunen Gurt und ich wusste, das Differenzielle Lernen funktioniert und habe es dann erst bei meinen Athleten angewandt.

Also alles, worüber ich rede, das stammt aus praktischer Erfahrung. Nicht nur als Athlet, sondern weil ich mein Studium selbst finanzieren musste, auch als Trainer.

Haben Sie eine Lieblingssportart, obwohl Sie so breit aufgestellt sind?

Nein, also womit ich mich schon ein bisschen schwertue, ist Wasser. Ich schwimme auch ab und zu, aber dann möchte ich wirklich schnell wieder raus. Alles, was so in den Ausdauer Bereich geht, ist jetzt nicht so mein Favorit.

Man hört Sie sind Schwabe, also: Mainz oder Ulm?

Also zum Studieren und Arbeiten gerne hier in Mainz.

Ich bin gern in Ulm, aber für die damalige Zeit war es wichtig, davon wegzukommen, weil Ulm für die Zeit nach der Schule doch eher etwas konservativ war. Da war die Gegend hier im Rhein-Main Gebiet ideal.

Erklären oder vormachen?

Weder noch. Fragen stellen.

Heute oder morgen?

Jetzt.

Wir hatten es davon eben schon im Vorgespräch. Ich kam auf die Frage, als ich ein Video von Ihnen gesehen habe, in dem Sie vor den deutschen Fußballlehrern sprechen. Da zitierten Sie am Anfang ein chinesisches Sprichwort, was wohl besagt: „Wenn du unglücklich sein möchtest, dann vergleiche dich mit anderen.“

Das ist vollkommen richtig. Das „andere“ kann man sogar weglassen. Wenn du unglücklich sein willst, dann vergleiche. Das reicht schon.

Das ist für mich im Sport, aber auch in der Musik ganz wichtig: Wenn ich ein Musikstück höre und will es genauso reproduzieren, dann fange ich schon an zu vergleichen. Oder wenn mir mal ein Stück gut gelingt, dann fange ich an zu vergleichen. Und der Vergleich, das wissen wir inzwischen, aktiviert den Frontallappen und damit wird die meist die Leistung reduziert. Das hindert uns auch daran im Moment maximal Leistung zu bringen.

Waren Sie immer schon frei davon oder war es bei Ihnen auch ein Prozess?

Nein, das war klar ein Prozess. Ich bin die klassische Schule durchgegangen.

Ich habe auch für 10 Jahre Oboe gelernt. Bei den Wiederholungen der Tonleiter in der anfangs viertel Stunde wusste ich damals schon nicht wozu.

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Was ist Differenzielles Lernen?

Können Sie beschreiben, was das Differenzielle Lernen auszeichnet, beziehungsweise wie es sich vor allen Dingen vom klassischen Lernen unterscheidet?

Wie das Wort es eigentlich schon sagt, liegt darin die Erkenntnis, dass wir prinzipiell nur, aus Differenzen lernen können.

Die zugrundeliegende Definition von Lernen: Lernen ist eine zeitlich überdauernde Verhaltensänderung oder Wissensänderung. Das heißt also das, was im Abitur stattfindet, ist kein Lernen. Das ist Kurzzeit-Reproduktion. Lernen ist eigentlich das, was wir auch ein Jahr danach noch wissen.

Zeitlich überdauernde Verhaltensänderung geht nur über Differenzen. Das hat auch einen informationstheoretischen Hintergrund: Wenn wir zweimal die gleiche Information erhalten, was sollen wir daraus lernen? Unser Körper ist auch darauf abgestimmt. Unsere Neuronen können sich sehr schnell an Wiederholungen anpassen.

Das merken wir immer, wenn wir morgens die Kleidung anziehen. Das ist für die Haut noch neu, aber sobald sich der Reiz beim Tragen wiederholt, sind wir uns der Kleider nicht mehr bewusst. Wiederholung stumpft ab.

Das Wort „differenziell“ rührt auch noch aus meiner Physikausbildung her und leitet sich von der Differential- und Integralrechnung ab. Es deutet darauf hin, dass es im Ursprung des Differenziellen Lernen eigentlich um die kleinen Differenzen ging.

Das bedeutet, wenn ich schon in einer Bewegung bin (wir haben damals mit Kugelstoßen gearbeitet), dann geht es nicht darum, dass ein Kugelstoßer noch zusätzlich Rad fahren und schwimmen soll, sondern dass er innerhalb des Kugelstoßens noch sehr viele Variationen drin hat.

Also, dass er nach rechts oben oder nach links unten stoßen kann. Er kann es in den Vorwärtsbewegen machen, er kann es in den Rückwärtsbewegen machen, mit dem Kopf nach links, Kopf nach rechts, Ellenbogen unten, Ellenbogen oben, etc.

Das heißt, wir haben damals gesagt, dass keine zwei aufeinanderfolgenden Wiederholungs- oder Bewegungsausführungen identisch sein sollten. Wir erzeugen zwischen zwei aufeinanderfolgenden Bewegungen Differenzen, wodurch unser System eine Chance hat, einen Vergleich anzustellen um zusätzliche Informationen zu erhalten.

Interessanterweise nutzt unser Gehirn genau diesen Mechanismus ständig: Nämlich beim Sehen. Wenn wir also unser linkes und rechtes Auge abwechselnd auf und zu machen und eine Linie angucken, dann sehen wir, dass die Linie hin und her springt. Das heißt, unser Gehirn nutzt die Differenz der beiden Abbilder, um die Entfernung zu bestimmen. Das Gleiche macht es auch beim Gehör. Wenn ein Schall zuerst auf das linke Ohr und dann aufs rechte Ohr kommt, gibt uns die zeitliche Differenz die Orientierung, woher der Schall kommt.

„Das bedeutet, wenn ich schon in einer Bewegung bin (wir haben damals mit Kugelstoßen gearbeitet), dann geht es nicht darum, dass ein Kugelstoßer noch zusätzlich Rad fahren und schwimmen soll, sondern dass er innerhalb des Kugelstoßens noch sehr viele Variationen drin hat.“

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn

Landläufig gibt es diese Vorstellung, dass wenn man etwas lernt und wiederholt, dass sich Myelin um die Synapsen bildet und eine Art Datenautobahn entsteht. Ist dann diese Vorstellung falsch?

Jein.

Also ich glaube, da liegt ein großes Missverständnis vor. Dieses auch als Binding- Problem bekannte Phänomen hatte ich damals schon bei Prof. Wolf Singer in Frankfurt am Max-Planck-Institut für Gehirnforschung gesehen: Wenn im Gehirn von vorne links die Frequenz kommt und dann hinten rechts ist – dann, so die Theorie fängt es an sich zu verbinden. Das stimmt für kurze Entfernungen, nur interessanterweise war das aber auch das einzige Lern-Design, was sie untersuchen konnten. Man hat kein anderes Lernen untersucht. Man hat quasi das Experiment so gestaltet, dass das rauskommt, was eigentlich rauskommen muss.

Und jetzt gibt es ja verschiednste Formen des Lernens, auch das sog. AHA-Lernen was wir zum Beispiel Fahrradfahren erleben. Das können wir damit nicht erklären. Balancieren können Sie damit nicht erklären. Es ist nur eine, und zwar eine der wenigsten Formen des Lernens, die man untersucht hat.

Hinzukommt, dass wir wissen dass sich unser System von selbst ändert. Also schon wenn ich nachts schlafe, schon wenn ich irgendeinen Gedanken habe, habe ich im Gehirn schon nicht mehr die gleichen Synapsen. In der Pubertät kommt zusätzlich Wachstum und die Veränderung des Hormonhaushalts dazu. Das heißt eigentlich, dass ich niemals wieder dieselbe Situation habe. Wozu soll ich dann wiederholen? Also, wiederholen macht Sinn – allerdings aus anderen Gründen, die meist mit einem Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle in Verbindung stehen.

Was wir inzwischen leider wissen ist, wenn zu viele Wiederholungen stattfinden und das ist ganz bekannt in der Musik, besteht die Gefahr der Fokalen Dystonie. Diese Krankheit tritt häufig bei enormem Ehrgeiz gepaart mit vielen Wiederholungen auf. Wir sehen dies nie bei viel Variation. Im Sport ist es übrigens ähnlich, zum Beispiel beim Golf das Yips. Es ist immer die Paarung viel Ehrgeiz mit viel Wiederholung.

Das heißt nicht prinzipiell, dass man keine Wiederholung zu lange machen sollte. Es muss allerdings differenziert werden. Im absoluten Top-Bereich ist Wiederholung und Ehrgeiz zudem etwas ganz anderes als beim Anfänger. Wenn ein Anfänger wiederholt, dann habe ich da immer noch genügend Variation drin. Deswegen lernen sie auch noch bei Wiederholung.

Allerdings je länger sie in unserem klassischen Schulsystem, im Ausbildungssystem etc. drin sind, desto weniger Varianz sieht man bei den Wiederholungen. Dies ist unter anderem auch der Grund warum es älteren Menschen schwerer fällt, Neues zu lernen. Sie glauben immer noch, die gleichen Methoden wie in der Schule anwenden zu müssen, weil es dort ja auch funktioniert hat. Der Unterschied war nur, dass in dieser Zeit viel Variation im Leben war und stets Neues erfahren wurde. Im Alter sind die Bedingungen anders und deshalb funktionieren auch Methoden aus früheren Jahren nicht mehr. Es geht einfach darum, genügend Variation weiter im Gesamtsystem zu halten.

(Warum) ist Differenzielles Lernen universell übertragbar?

Wir haben vorhin schon in Ihrer Biografie die Sportarten aufgezählt, die Sie selbst aktiv gemacht haben, aber auch die Sportarten, die inzwischen differenzielles Lernen anwenden. Jetzt kann man ja weder von der Musik noch im Sport von dem Sport reden. Wieso lässt sich das differenzielle Lernen trotzdem auf so viele Disziplinen anwenden?

Wir haben 2014 mit Stefan Albrecht (Querflöte) eine Studie gemacht. Wir luden die besten Flötisten aus dem Rhein-Main-Gebiet hier ein und ließen sie im Labor Mozarts zweites Konzert für Querflöte spielen. Alle Finger- und Körperbewegungen wurden mit Kameras und einer Kraftmessplatte aufgenommen.

Und obwohl die alle genau das gleiche Stück spielten (sie mussten es fünfmal an einem Tag spielen und kamen an drei Tagen hintereinander) konnten wir anhand jeder Fingerbewegung erkennen wer spielt. Wir konnten anhand der Körperbewegung erkennen wer spielt und das, ohne dass wir irgendeinen Ton aufgenommen hätten. Ich hätte es auch vom Ton her sagen können wer spielt. Allerdings konnten wir nicht die Tage voneinander unterscheiden. Das heißt, da war dann eine Überlappung.

Inzwischen haben wir Verfahren über unsere Deep Learning Netzen, mit denen wir auch die Tage unterscheiden können. Das heißt, wir sehen eigentlich, dass unser System selbst sich ständig verändert. Und das ist genau das, warum Wiederholungen nur wenig bringen. Sie helfen uns allerdings in Bezug auf psychische Sicherheit. Sie geben mir das Gefühl von Kontrolle. Und deswegen gibt es Personen, die das brauchen. Und diese Phänomene treten nicht nur im Sport oder der Musik auf, sondern scheinen grundlegend.

Warum das Differenzielle Lernen auf alle Bereiche zu übertragen ist, liegt wohl daran, dass hier physikalische Theorien gepaart  mit neurophysiologischen Grundlagen zugrunde liegen, und keine weitere Meisterlehre. Also sprich, jedes System, was noch am Leben ist, zeigt diese Phänomene, wie z.B. Schwankungen, Stabilitäten, Instabilitäten, Phasenübergänge etc. Und solange das System Schwankungen hat, am Leben ist, sind diese Theorien anwendbar.

Anwendungsbeispiele des Differenziellen Lernens in der Musik

Wenn ich jetzt ein Trompeter bin, dann weiß ich, dass die Finger niemals identisch auf die Ventile kommen. Die Lippenbewegung, Atmung, Stütze ist nicht immer gleich. Und vor allen Dingen sind sie in Kombination nicht immer identisch: Welchen Gedanken habe ich da gerade mit drin? Wie ist meine Stimmung? Wie ist mein Ernährungszustand?

Das heißt, die ständigen Variationen, die dort hinzukommen, die ignorieren wir bislang einfach. Wir denken, wir spielen Trompete, weil da vorne Noten sind. Nein, der Teufel steckt im Detail. Allerdings kann ich das im Prinzip nutzen, um die Variation aufrechtzuerhalten.

Das heißt, ich kann mal mit gebeugten Fingern, ich kann mit gestreckten Fingern spielen, ich kann mit hohem Ellbogen spielen, ich kann mit Ellbogen unter der Trompete spielen, ich kann mit Rücklage spielen, ich kann mit Vorlage spielen, ich kann das Spiel in Seitlage machen, ich kann den Nacken stärker beugen, ich kann in Überstreckung gehen Es gibt verdammt viele Möglichkeiten, wo man variieren kann.

Das heißt aber, Sie beschränken ganz bewusst die Differenzen, also die Variationen, auf dem Bewegungsapparat?

Nein, nicht nur auf die Bewegung. Das hat Professor Martin Widmaier mal wunderschön am Flügel des Peter-Cornelius-Konservatoriums in Mainz vorgeführt.

Er hatte zwei Flügel nebeneinander aufgestellt und Musikschulkinder Stücke im Vorbeigehen, nicht am Sitzen, spielen lassen. Die Spielaufforderungen variierten: Spiel doch mal wie Hagelkörner. Jetzt spiel doch mal wie Schneeflocken. Oder wie in einem Liebeslied. Und jetzt mal arrogant-aggressiv. Also Emotionen ausdrücken in der Musik ist ein ganz großer Bereich von Variation. Für die Bläser kommt noch hinzu, dass ich in kürzeren Rhythmen atmen kann, abwechselnd zwischen Bauch und Brustatmung, durch die Nase oder den Mund einatmen, und beliebige Kombinationen davon, oder ich könnte laut und langsam oder schnell und leise spielen, die hohen Töne leise, die tiefen Töne Laut und umgekehrt. Wenn man das noch mit den Bewegungen kombiniert, dann sieht man schnell die große Anzahl an Möglichkeiten. Wenn man dann noch an die Stücke rangeht und nur jeden zweiten Takt spielt, das Stück rückwärts spielt, in verschiedenen Rhythmen, dann öffnet sich noch ein ganz anderes Feld. Was häufig erst spät gemacht wird, könnte man schon am Anfang machen, die Stücke z.B. in verschiedenen Stilen spielen, Bach’s Tocatta im Blues-stil, oder Satchmo’s What a wonderful day klassisch interpretieren. Vieles davon wird vereinzelt schon angewandt, aber leider noch nicht systematisch und nicht bei allen in die Grundschule eingebaut. Herr Albrecht zum Beispiel lässt seine Flötenschüler von Beginn an auch Flageolett (Spielen mit Obertönen) mit Erfolg spielen, das klassisch erst spät wenn überhaupt eingeführt wird.

Ist ein variantenreiches Üben und Differenzielles Lernen im weitesten Sinne das Gleiche?

Ja. Wir hatten das Wort differenziell eigentlich nur aus dem Grund gewählt, weil es im Sport eine sogenannte Variability of Practice Theorie gab. Diese ging davon aus, dass wir sogenannte invariante Elemente haben. Die Invarianten, die kann man kombinieren mit variablen Parametern, damit die Invariante stabiler wird. Das wäre dann zum Beispiel Gehen mit langem Schritt, mit kurzem Schritt, schnell oder langsam – aber ich darf nicht meinen Stil verändern. Ich darf nicht federn oder schleichen gehen. Der Rhythmus muss jedoch drin bleiben. Wie sich mittlerweile allerdings rausstellte, ist die Theorie nur für kleinmotorische Bewegungen gedacht.

Und weil dort das Variable schon quasi benutzt war, haben wir nach einem Alternativbegriff geguckt. Und eigentlich ist es auch der Kern von allen anderen Lernansätzen: auch dort gilt: Wir lernen nur aus den Differenzen.

Umgangssprachlich würde ich variabel sagen. Allerdings nicht variabel im Sinne von „geblockt“ (10x Variante A, dann 10x Variante B) – sondern es geht auch darum, dass wir jede Bewegung oder jeden Ton anders machen. Ich kann dann im Übrigen auch, was viele Musikerinnen und Musiker machen, ein Musikstück erstmal nur mit punktierten Achtel durchspielen oder das Stück mal schnell, mal in Lento oder mal in Adagio.

Ich würde sagen, wenn am Anfang die Technik das Problem ist, dann fange ich an dort zu variieren. Wenn es dann um Ausdruck des Musikstücks geht, dann geht es mehr um Emotionen zu variieren.

„Wenn wir das Gehirn in diesen Alpha-Theta-Zustand kriegen, dann lernen wir optimal. Genau dafür ist Bewegung ideal und es muss nicht unbedingt Ausdauersport sein, sondern jede Form von Bewegung, allerdings Ganzkörperbewegungen. Fingerbewegungen alleine scheinen nicht zu genügen“

Prof. Dr. Wolgang Schöllhorn

Differenzielles Lernen im Vergleich zur O.P.T.I.M.A.L Theorie

Ich habe die ganze Zeit die Differenzielle Theorie oder das Differenzielle Lernen sogar ein bisschen weiter aufgefasst. Sie hatten es vorher schon angesprochen, dass Sie das Lernen ja auch in dieser zeitlichen Komponente sehen. Also nicht nur in der zeitlichen Komponente im Laufe des Lebens, sondern auch in der zeitlichen Komponente innerhalb des Tages (wir sind morgens anders aufnahmefähig als abends). Vielleicht kennen Sie aus der Musik Susan Williams?

Nein.

Susan Williams ist eine Barocktrompeterin, aus Holland, die in Bremen lehrt. Sie hat die O.P.T.I.M.A.L Theorie von Gabriele Wulf versucht auf die Musik zu adaptieren. Sie geht auch über das variantenreiche Üben hinaus und sagt, dass Lernen dann gut funktioniert, wenn man intrinsisch motiviert ist. Die beiden Theorien sind aber nicht so verknüpft, wie man auf den ersten Blick wahrscheinlich denken würde?

Wir sind gerade daran eine indirekte Verknüpfung herzustellen. Diese ist, dass man in beiden Fällen versucht, einen optimalen, jetzt ohne Akronym, einen optimalen Gehirnzustand zu erzeugen, der Lernen optimiert.

Ich bin allerdings ein bisschen skeptisch, weil gerade vor einem Jahr kam eine Meta-Analyse zum External Focus raus, die Bestandteil von der OPTIMAL-Theorie ist und die zeigt eigentlich, dass es keine systematischen Effekte gibt.

Und das ist auch das, was wir in Verbindung mit einem anderen System, Action-Type-System von Bertrand Theraulaz und Ralph Hipolite, feststellen.

Für manche Menschen, und deswegen bin ich immer mehr auf individuelle Geschichten aus, ist es förderlich, wenn sie extern fokussieren. Für andere ist es besser, wenn sie intern fokussieren.

Was heißt extern und intern in diesem Zusammenhang?

External Focus bedeutet sich auf einen Punkt, der außerhalb meines Körpers liegt, zu fokussieren. Intern entsprechend ein Punkt in meinem Körper. Da wird häufig, in meinen Augen, in der Wissenschaft viel kaputt gemacht, indem man Mittelwerte nimmt und dann ist es gerade Zufall, welche Art von Stichproben man hat.

Und was das O.P.T.I.M.A.L. Theorie betrifft, da sind noch zwei andere Sachen integriert worden, bei denen es um Motivation geht. Aber das sind sehr stark psychologische Elemente. Ich würde es gerne mal zusammen untersuchen.

Zum optimalen Lernen sehen wir, dass ein bestimmter Gehirnzustand notwendig ist. Und um diesen herstellen zu können, muss ich sehr individuell rangehen. Deswegen habe ich Schwierigkeiten mit an Mittelwerten orientierte Theorien generell (auch der O.P.T.I.M.A.L Theorie), die sagen, dass sie für alle gleich sind.

Für mich ist das ein ganz wichtiger Bestandteil der Differenziellen Theorie. Sie sagt nicht, dass das für alle gleich ist, sondern differenziell. Da ist noch ein ganz wichtiger Aspekt im differenziellen Lernen mit drin, nämlich die stochastische Resonanz. Wo ich die Differenzen anlege, muss ich meinem Lernenden gegenüber anpassen. Also wenn ich weiß, dass jemand abends müde ist, dann muss ich das anders machen, als wenn jemand gerade wach mit drei Tassen Kaffee ist.

Allerdings das ist ein großes Forschungsgebiet. Gemeinsam mit meinem Mitarbeiter Dr. Horst entwickeln wir daher gerade ein quantitatives Analyseverfahren zur Mustererkennung.

Mit Differenziellem Lernen setze ich die Grenzen weiter, damit ich eine höhere Chance habe zu interpolieren. Weil, wenn ich zu eng übe und dann kommt etwas außerhalb, dann muss ich extrapolieren und darin ist unser System nicht gut.

Jetzt könnte man ganz polemisch fragen, wenn das Differenzielle Lernen so überlegen ist, warum machen das nicht eigentlich alle so?

Die Frage höre ich öfters, vor allem am Anfang. Das ist immer so, wenn neue Sachen kommen. Zuerst wird es am Anfang bekämpft, dann wird es belächelt und am Schluss wussten es alle schon. Es ist und war schon immer schwierig, bestehende Lebensphilosophien und Überzeugungen zu ändern.

Und ja, unter dem Deckmantel des Lernens ist es leider so, dass in erster Linie Gehorsam beigebracht wurde.

Im Sport kommt hinzu, dass es schon viele anwenden, es aber aufgrund des Wettkampfcharakters und der Konkurrenzsituation nicht kundtun. Selbst ich erfahre es dann oft erst 10-15 Jahre danach, dass der Erfolg auf Differenzielles Lernen zurück ging.

An diesem Punkt waren wir schon ein paar Mal im Podcast: am Ende läuft es eigentlich immer darauf hinaus, dass man bestmöglich lernt oder weiterkommt, wenn man sich selbst sehr gut kennt und ein sehr genaues Bild von sich selber hat.

Allerdings wird wahrscheinlich gerade diese Fähigkeit zu wenig in Schul- und Musikausbildung kultiviert. Von daher wäre es ja eigentlich wünschenswert, wenn das eine Qualität wäre, die man den Leuten vermittelt oder?

Also jetzt wird es richtig philosophisch. Das ist eigentlich genau das, auch was schon über dem Orakel von Delphi stand und von vielen Philosophen wiederholt wurde: erkenne dich selbst.

Jetzt bin ich schon ein bisschen älter und ein bisschen mehr in der Welt rumgekommen, aber meine Beobachtung ist wirklich, alles, was wir machen, dient eigentlich nur dazu, uns selbst kennenzulernen und dann eventuell mal über den Sinn unseres Daseins nachzudenken.

Und jetzt komme ich ja von der Oboe und aus verschiedenen Sportarten mit Physik und Philosophiehintergrund und man wird eigentlich in allen Gebieten immer nur mit Problemen konfrontiert. Entweder stellt man sich ihnen und löst sie oder man läuft immer weiter in die kleinen Probleme rein und endet dann in Krankheiten. Das war auch einer meiner beeindruckendsten Sätze, die ich in einer Vorlesung in Physik von Carl Friedrich von Weizsäcker gehört hatte: „Warum muss der Mensch immer erst physisch erkranken, damit er psychisch gesunden kann.“

Ein anderer Spruch war für mich immer: das Schicksal hat so gewisse Winks und wenn man den Wink nicht versteht, dann kommt er das nächste Mal halt als Zaunpfahl daher. Ein anderer Spruch in eine ähnliche Richtung, der aus dem Indischen kommt: wenn du Gott zum Lachen bringen willst, dann mache einen Plan.

Das haben wir in Indien in unserer Ausbildung ständig gehört. Und es ist inzwischen auch klar, dass Pläne im überwiegend Frontallappen produziert werden. Deswegen steht es auch schon in der Bibel drin, dass wir zu Kindern werden müssen, um in das Reich Gottes zu gelangen. Und damit ist nicht gemeint kindisch zu sein. Sondern es geht darum, nicht zu planen, im Moment zu sein und nicht zu urteilen. Aus diesem Grund lernen auch Kinder so schnell.

Kinder bis zum fünften Lebensjahr zeigen im Gehirn nur die niedrigen Frequenzen, die theta und alpha). Die hohen Frequenzen, Beta und gamma kennt das kindliche Gehirn nicht. Die niedrigen Frequenzen sind aber genau diejenigen, die wir brauchen, um zu lernen. Und dies versuchen wir seit längerem für andere Bereiche zu nutzen, indem wir die niedrigen Frequenzen provozieren: Erwachsene wieder in den Gehirnzustand zu bringen, damit optimales Lernen stattfindet. Wenn wir das Gehirn in diesen Alpha-Theta-Zustand kriegen, dann lernen wir optimal. Genau dafür ist Bewegung ideal und es muss nicht unbedingt Ausdauersport sein, sondern jede Form von Bewegung, allerdings Ganzkörperbewegungen. Fingerbewegungen alleine scheinen nicht zu genügen. .

„Das Ziel ist nur, die Hindernisse und die Blockaden, die euch antrainiert wurden wegzukriegen.“

Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn

Wie viel Variation ist zu viel?

Ich würde gerne zum Abschluss noch einmal rauszoomen, um den Leuten ein paar Handwerkszeuge mitgeben, wie sie beim Selbstbeobachten schauen können, in welche Richtung das Differenzielle Lernen bei Ihnen geht. Sie hatten das Wie in der Musik bereits etwas skizziert. Ich versuche mal zwei weitere Ebenen anzuschließen:

Die erste, die zeitliche, die hatten wir vorher schon ganz kurz umrissen. Ich habe hier nochmal einen anderen Blickwinkel drauf, den ich Ihnen gerne vorstellen würde, nämlich das Credo des „Viel hilft viel“.

Wahrscheinlich ist es nicht schlau, den ganzen Tag differenziell zu üben, denn so ein gewisses Maß an Wiederholung ist ja auch schon sinnvoll. Sie hatten das eben mit diesem psychologischen Aspekt umrissen. Ich weiß, Herr Widmaier hat das in so einem schönen Rechteck beschrieben, wo es um Konstanz und Varianz geht.

Können Sie beschreiben, inwiefern das differenzielle Lernen in so einem Alltag ausmachen kann, um nicht in einen Überforderungszustand zu geraten?

Das waren gleich mehrere Fragen. Der erste ist, Sie wollen jetzt, dass ich mich selbst ins Knie schieße. (lacht)

Hoffentlich nicht.

Das klingt so ein bisschen nach der Frage nach einem Rezept. Und das widerspricht ja eigentlich der Theorie des Differenziellen Lernens. Es war auch ein Ansatz gleich von Anfang an, dass ich gar nicht so viel publizieren wollte, weil ich erstmal die Leserschaft dazu anregen wollte, wieder mehr zu experimentieren. Und nicht nur irgendwas blind zu übernehmen, was in irgendwelchen Büchern steht.

Und da war auch ein schöner Spruch von mir, den ich übernommen habe von Schopenhauer: „Wer viel liest, lernt nur mit anderen Köpfen zu denken.“ Also denk bitte erst selbst nach, bevor du liest. Und nur, wenn es gar nicht mehr geht, dann schaue nach etwas anderem. Einige haben dies dann missbraucht und das Differenzielle Lernen irgendwie völlig schief interpretiert. Das war der Grund, warum wir dann anfingen, wieder etwas zu veröffentlichen.

Also prinzipiell: ich weiß es nicht, wie viel Variation notwendig ist. Allerdings besagt ein Teil der Theorie, dass man die beobachtenden Schwankungen langsam anfangen soll.

Weniger ist mehr

Und eigentlich war schon ein Ansatz des differenziellen Lernens, dass man nicht die gleiche Menge variabel trainiert, sondern dass man den Umfang des Übens massiv reduzieren kann. Und das sehen wir inzwischen auch bei Studien im Sport: Probanden wurden über zwei Monaten zu zwei Stunden mehr Schlaf gezwungen. Die Vergleichsgruppe trainierte in diesen zwei Stunden. Sie können sich vorstellen, was rauskam? Diejenigen mit mehr Schlaf haben die Leistungsfortschritte gemacht und nicht die, die trainiert haben in der Zeit.

Und das wissen wir auch aus anderen Studien. Kinder, die in der Grundschule täglich eine Stunde Sport hatten, zulasten von Deutsch, Mathe etc., sind in Mathe und Deutsch besser geworden als die anderen, die keinen täglichen Sport hatten.

Jetzt kam ich halt auch aus dem Mehrkampf, wo es ganz wichtig war zu ökonomisieren. Ich kann nicht jeden Tag einen Zehnkampf machen. Wenn ich eine Variation zum richtigen Zeitpunkt bringe, dann muss ich gar nicht mehr so viel üben.

Und das ist genau, was kleine Kinder schon spüren. Wenn es zu viel wird, schlafen sie wieder. Deswegen schlafen Kinder so viel – bis zu 16 Stunden. Das ist die Basis des Lernens. Es ist nicht das Aktive. Nein, sehr häufig ist das blinder Aktionismus.

Auswirkung von Mittagsschlaf auf den Lerneffekt

Und das zeigen auch andere Studien. Mittagsschlaf, wenig populär in Deutschland, hat große, positive Auswirkungen für anschließende Dinge.

Und was man sogar inzwischen beobachtet hat: Wir untersuchen das gerade parallel in einer großen mediterranen Ernährungsstudie von meinem Kollegen Dr. Ammar. Eine der Ursprünge der mediterranen Ernährung kam aus Kreta. Viel Olivenöl etc. Jetzt hat man das Ganze wiederholt und hat aber drauf geachtet, wer denn einen Mittagsschlaf macht. Und wenn man den rausnimmt, dann gibt es keine Vorteile mehr. Das heißt, die ganzen Effekte gingen auf den Mittagsschlaf zurück.

Also, noch mal ganz zurück zum Differenziellen Lernen. Ich würde sagen, wer es ausprobiert, soll wirklich mal eine gewisse Zeit lang probieren, soll experimentieren. Mal gucken, wie der Körper darauf reagiert.

Es ist ein großes Problem, dass wir so lange Zeit eingetrichtert bekommen haben, dass man unter 10.000 Wiederholung nicht auf die Landesmeisterschaften kommt; unter 2 Millionen Wiederholungen nicht zu Olympia. Das kenne ich aus der Musik auch: du musst 10 Stunden üben am Tag. Ich bezweifle das. Also ich glaube, wenn man es entsprechend variabel gestaltet, dass mindestens kleine Effekte rauskommen.

Oder, was wir eingangs schon besprochen haben, einfach mal andere Möbel drumherum probieren oder nur auf unebenem Grund mal zu trainieren. Da sehen wir schon Rieseneffekte in Bezug auf unsere Konzentration. Also für mich gilt es eigentlich, die Kleinigkeiten zu finden, die dann Riesenauswirkungen haben.

Diese Schlafstudie gibt es auch in der Musik von Eckart Altenmüller, wenn mich nicht alles täuscht.

Ja, würde ich ihm zutrauen. Er war auch bei unserem ersten Treffen vor zirka 15 Jahren dem Differentiellen Lernen gegenüber sehr aufgeschlossen.

Die Rolle des Lehrers im Differenziellen Lernen

Wie verändert sich denn die Rolle des Lehrers im Differenziellen Lernen? Denn der Fehler im klassischen Sinn, die gibt es ja nicht mehr. Das sind alles Schwankungen, bzw. Sie sagen Rauschen dazu. Aber wie geht man damit um als Pädagoge?

Das ist schwer, wenn man aus der alten Schule kommt.

Als Trainer bin ich nicht nur für die Ausführung des Sports zuständig, sondern für die Persönlichkeitsentwicklung. Bei mir in der Gruppe mit 20 Athleten war immer auch Austausch darüber, wie es in der Schule und privat läuft. Und die Persönlichkeitsentwicklung schließt für mich ein, auch im Sport zu lernen Verantwortung zu übernehmen.

Am Anfang gab ich viele Instruktionen, um ihnen auch klarzumachen, dass etwas anderes möglich ist. Sie kamen ja alle aus der klassischen Schule. Ich habe ihnen dann oft eine Variante gezeigt und sie aufgefordert selbst drei weitere Varianten zu entwickeln. So wurde es interaktiv. Das ist ein bekannter Lehrstil in der Pädagogik.

Ich endete oft in meinen Vorträgen mit der Frage, was die Take-Home-Message sei. Die Antwort darauf: Nichts, weil ihr wusstet alles schon.

Das Ziel ist nur, die Hindernisse und die Blockaden, die euch antrainiert wurden wegzukriegen. Das Verhalten, was ihr zeigt, war gut gewesen um als Kinder zu „überleben“. Aber jetzt erkennt es und fangt an daran zu arbeiten, um davon wegzukommen.

Outro

Ich hätte, ähnlich wie am Anfang, zwei Fragen für den Abschluss: Was lernen oder üben Sie gerade, was Sie noch nicht so gut können?

Ich bin am Lernen von Spanisch. Ich bin am überlegen, ob ich Kajakfahren noch lerne.

Ich probiere ständig neue Koordinationsübungen aus und bin jetzt aber gerade dran, den Einfluss von Erd-Magnetfeldern auf unser Gehirn mir anzugucken. Es zeigt sich, dass das einen wesentlich größeren Einfluss hat, als wir glauben, weil wir keine Sensoren dafür haben, die Efffekte sind aber vorhanden. Zudem stellt es unmittelbar die Verbindung zur Astrologie her. Da steckt verdammt viel Wissen drin, was einfach aus Ignoranz und Arroganz quasi unter den Tisch fällt. Also man kann da viel davon lernen.

Ja, das ist ein sehr spannender Punkt, den ich auch schon in der Vorbereitung gehört habe. Also wenn es da was Neues gibt, dann bin ich sehr neugierig.

Und wenn Sie jetzt in Ihre eigene Studierendenzeit zurückblicken, hätten Sie einen Tipp für jüngeres Ich aus heutiger Perspektive, um den Sie damals froh gewesen wären?

Nein, das ist vorbei. Es widerspricht auch dem „Im Moment sein“. Ich habe immer mein Bestes probiert, mehr ging nicht. Also was soll ich da ändern? Studien zeigen auch, dass man fast nur Dinge bereut, die man nicht gemacht hat. Ich habe viel ausprobiert.

Und dann jemandem Empfehlung zu geben? Nein, das mache ich nicht. Ich kann erzählen, was ich mache und gemacht habe, und dann kann jeder für sich entscheiden, ob er es nimmt oder nicht.

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